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23

»Wie schön ist es doch«, sagte Louis Gaspard, »wenn man in Ruhe und Frieden seinen Gedanken nachhängen kann.«

»Sie haben recht, Meister«, sprach der Jüngling. Mit einem Seufzer fügte er hinzu: »Doch es ist nicht leicht, einen vernünftigen Gedanken zu fassen, wenn man von solch einer Vogelscheuche von einem Pferde hin und her gerüttelt wird!«

Gaspard betrachtete stirnrunzelnd den jungen Mann, der sich nur als Felipe Carvajal kannte, und stellte sich im Geiste vor, was für ein Pferd sein Schüler wohl geritten haben würde, wenn er die ihm gebührende Stellung eines Vereals eingenommen hätte. Dann sann er wohl zum tausendsten Male darüber nach, was Cabrillo veranlaßt haben könnte, ihn und seinen Schüler nach Mexiko zurückzurufen.

Sollte diese Reise direkt oder indirekt dazu führen, daß José Vereal seine wirkliche Abstammung erfuhr, so könnte ihm José, alias Felipe, das sehr verübeln. Schon näherten sie sich dem südlichen Paßeingang, durch den sie hindurch mußten, um die Stelle zu erreichen, die Cabrillo als Stelldichein bestimmt hatte, als er beschloß, sofort vorbeugende Maßnahmen zu treffen.

»Ist ein Mann zu beneiden«, fragte er, »der sich stets nach der neuesten Mode kleiden kann?«

»Gewiß nicht«, erwiderte der Schüler.

»Ist ein Mann glücklich«, fuhr der Lehrer fort, »der sich Diener halten kann und sehr reich ist?«

»Nach Ihrer Lehre nicht.«

»Aber was ist deine Meinung? Bezweifelst du es?«

»Nein«, entgegnete der junge Mann.

»Was ist denn überhaupt von wirklichem Wert?«

»Sicherlich nur geistige Errungenschaften.«

»Dich mit solchen geistigen Errungenschaften auszurüsten, ist meine Lebensaufgabe gewesen, Felipe.«

»Das war sehr gütig von Ihnen.«

»Ich bin bestrebt gewesen«, fuhr der Lehrer fort, »dich mit allen Gebieten der Wissenschaft vertraut zu machen und dich vor allem zu einem furchtlosen und tapferen Manne zu erziehen; denn ein mutloser Mensch ist zu nichts zu gebrauchen, selbst wenn er noch so gelehrt ist. Wenn mir das gelungen ist, so will ich mir schmeicheln, daß nicht mehr viel an deiner Vollkommenheit fehlt.«

»Meister«, sagte der Jüngling, »steht mir ein Recht zu, Ihre Handlungen zu kritisieren? Ich war bettelarm, als Sie mich zu sich nahmen und mit unendlicher Güte für mich sorgten. Ich habe Ihnen alles zu verdanken. Worüber sollte ich mich beklagen?«

»Wenn du im Begriff gestanden hättest, eine Millionenerbschaft anzutreten, mein Sohn, so würde ich versucht haben, dir diese vorzuenthalten, um dich zu dem Mann zu machen, der du jetzt bist!«

Felipe nickte zustimmend. »Vergessen Sie, was ich von dem Pferde gesagt habe. Es war nur ein Gedankensplitter. Nach den Erfahrungen mit dieser Mähre werde ich es zweifellos einmal zu würdigen wissen, wenn ich in den Besitz eines guten Pferdes kommen sollte – eines solchen Pferdes zum Beispiel, wie der Bursche drüben eins reitet!«

Es war ein munteres, rotbraunes Pferd, auf dessen Rücken niemand anders saß als Pierre Gaston Marmont. Er kam auf einem Wege, der den ihren kreuzte, entlanggesprengt. An der Straßenkreuzung machte er halt und wartete auf den alten Mann und den Jüngling. Nachdem er den beiden einen Gruß zugewinkt hatte, schien er sich mit dem Inhalt seiner Satteltasche zu beschäftigen.

»Das ist ein schneidiger Bursche mit einem prächtigen Pferde«, sagte Louis Gaspard. »Aber kannst du wissen, was für Absichten er hegt?«

»Er sieht mir ganz danach aus«, sagte der junge Felipe Carvajal – um ihn bei seinem Adoptivnamen zu nennen –, »als ob er sehr von sich eingenommen ist. Es könnte aber nichts schaden, wenn wir ihn mit Vorsicht genießen!«

Er beschloß seine Worte mit einem Lachen, das jedoch sogleich verstummte, als Marmont mit einer wütenden Gebärde zu ihm herüberblickte.

»Señor!« schrie Marmont. »Wagen Sie es, über mich zu lachen?«

»Ich bitte tausendmal um Verzeihung«, sagte Felipe und verneigte sich tief über den Sattelknopf. »Ich lache nicht über Sie, Señor.«

»Worüber denn?« rief Marmont, indem er sein Pferd näher an Felipe herantrieb und eine drohende Haltung einnahm.

Der alte Lehrer brachte sein Pferd etwas abseits zum Stehen; nicht etwa, weil er aus der Nähe der Gefahrzone kommen wollte, sondern weil er die beiden so besser im Auge behalten konnte.

»Lassen Sie sich warnen, Fremder«, rief Gaspard. »Machen Sie keine Dummheiten. Das ist kein hilfloses Kind, mit dem Sie sich anzulegen suchen!«

»Ein junger, Frechdachs ist es, der es wagt, sich auf offener Straße über mich zu belustigen!« donnerte Marmont und riß mit seiner linken Hand – denn seine rechte ruhte auf dem Revolvergriff – die Reitpeitsche empor, um dem jungen Manne einen Hieb zu versetzen. Was nun geschah, konnte sich Marmont später nie mit Bestimmtheit erklären: Die eisenharte Faust Felipes traf seinen Arm, mit dem er die Peitsche hielt, mit solch einer Wucht, daß er gelähmt wurde. Gleichzeitig gab Felipe seinem klapprigen Gaul die Sporen und drückte ihn gegen das prächtige Pferd Marmonts. Der Braune bäumte sich auf; der Revolver, den Marmont gezogen hatte, fiel in den Straßenstaub, als er nach dem Sattelknopf griff, um einen Sturz zu vermeiden; im nächsten Moment traf ihn ein zermalmender Faustschlag gegen das Kinn.

Marmont schwanden die Sinne. Als er wieder zu sich kam, waren die beiden verschwunden; der Braune war ebenfalls fort. Doch in der Nähe stand eine niedergeschlagene, zottige Mähre, die noch vor kurzem den ehrenwerten Louis Gaspard getragen hatte. Vor Wut und Scham füllten sich Marmonts Augen mit Tränen. Er kniete neben dem Pferd nieder, hob die Hände zum Himmel empor und schwor mit leidenschaftlicher Stimme, daß er blutige Rache an den beiden nehmen wollte, und wenn er ihrer Fährte bis an sein Lebensende nachspüren müßte.

Mittlerweile ritt der Lehrer in vergnügter Stimmung auf dem Braunen dahin. »Dieser unüberlegte Bursche«, sagte er, »er wird es sich nun wohl angelegen sein lassen, besser reiten und besser kämpfen zu lernen, bevor er wieder Händel sucht.«

Eine leichte Röte stieg Felipe Carvajal in die Wangen, und seine Augen blitzten. Er blickte unternehmungslustig um sich, als gelüstete es ihn, bald noch ein solches Abenteuer zu bestehen.

»Er hatte seine Waffe nicht fest in der Hand«, sagte er ruhig. »Sonst würde der Kampf durch eine Kugel beendet worden sein.«

»Warum warst du so leichtsinnig? Warum hast du nicht auch deinen Revolver gezogen, Felipe?«

»Ich beabsichtigte von vornherein, ihn durch einen plötzlichen Anprall gegen sein Pferd zu überrumpeln«, erwiderte Felipe. »Aber – glauben Sie, daß wir berechtigt waren, ihm sein Pferd fortzunehmen?«

»In diesem Lande würde uns kein Richter verurteilen«, sagte der alte Mann lächelnd, wobei er den seidigen Hals des Braunen klopfte. »Wir werden an einer Wegkreuzung von einem Räuber aufgehalten, der einen Revolver zieht, um uns zu ermorden; wir überwältigen ihn und nehmen sein Pferd mit uns, um uns möglichst schnell seiner Rache zu entziehen: das ist doch ein klarer Tatbestand!«

Er rieb sich vergnügt die Hände. Im Geiste dachte er jedoch darüber nach, welchen Wert das Pferd wohl haben mochte, das sie sich auf so billige Art und Weise angeeignet hatten. Dann verfiel er auf andere Gedanken, die ihn noch weit mehr interessierten: Er war immer überzeugt gewesen, daß selbst der gebildetste Mensch zur Bedeutungslosigkeit herabsinken müsse, wenn er nicht die Kardinaltugend besaß: die Tapferkeit. Felipes Geist hatte er wohl tausendfach erprobt; der Beweis für seinen Mut war aber erst jetzt erbracht worden; und erst jetzt war der alte Mann voll und ganz befriedigt.

»Er ist ein echter Vereal«, sprach er bei sich. »Er ist wirklich ein furchtloser Draufgänger!«

Sie waren mittlerweile zu einer Stelle gekommen, an der der Weg eine scharfe Biegung machte. Als sie herumbogen, sahen sie plötzlich einen breitschultrigen Mann vor sich, der auf einem prachtvollen Rotschimmel saß – ein noch weit schöneres Tier als der Braune, den jetzt der Lehrer ritt. In seiner rechten Hand hielt er eine Repetierpistole, die direkt auf den jungen Felipe gerichtet war.

»Señores«, sagte Halsey, denn dieser war es, »ich bedauere, Sie aufhalten zu müssen. Heben Sie bitte die Hände hoch. S–o–o ist es schön!«

Sie hatten der Aufforderung schweigend Folge geleistet. Der Braune war stehengeblieben, aber das häßliche Tier, das Felipe ritt, strebte weiter voran.

»Halten Sie Ihr Pferd an!« befahl Halsey mit scharfer Stimme.

Felipe rief laut, als wollte er den Befehl befolgen. Aber sein Pferd schritt trotzdem weiter, da er es unauffällig mit der rechten Spore in der Flanke kitzelte.

»Das Vieh ist taub!« schrie er Halsey zu. »Was kann ich tun, Señor, wenn ich meine Hände hochhalte?«

»Nehmen Sie eine Hand herunter – die linke – und bringen Sie es zum Stehen. Lassen Sie sich ja zu keinen Torheiten verleiten!«

Felipe senkte folgsam die linke Hand nach den Zügeln herab – langsam, als wäre er von dem Anblick der drohend auf ihn gerichteten Pistole vor Schreck halb gelähmt.

Als Halsey sah, wie vollkommen er die Situation beherrschte, lächelte er selbstgefällig. Gaspard betrachtete seinen Schüler dagegen mit einem verächtlichen Gesichtsausdruck. Aber da fuhr die sich langsam herabbewegende linke Hand Felipes blitzschnell nach dem am Sattel befestigten Halfter; ein Coltrevolver kam zum Vorschein, und gleichzeitig fiel ein Schuß.

Der Vorgang spielte sich mit einer solchen Schnelligkeit ab, daß Halsey vor Ueberraschung nicht einmal dazu kam, seine schußbereite Pistole abzudrücken. Die Kugel durchschlug seinen rechten Oberarm, und seine Waffe fiel zu Boden. Felipe ließ ihn erst gar nicht zur Besinnung kommen. Er packte ihn mit seinen kräftigen Armen, riß ihn aus dem Sattel und warf ihn mit voller Wucht zu Boden. Halsey schlug mit dem Kopf auf einen Stein, so daß er bewußtlos liegenblieb.

Er erwachte aus seiner Betäubung, um festzustellen, daß sein Rotschimmel verschwunden war und daß man ihm die klobige Mähre Felipes als Ersatz zurückgelassen hatte. Die beiden Männer hatten schon lange das Weite gesucht. Nicht einmal eine Staubwolke ließ sich weit und breit gewahren. Sie waren jedoch lange genug bei ihm zurückgeblieben, um ihm einen Samariterdienst zu erweisen. Man hatte ihm seinen rechten Rock- und Hemdärmel abgeschnitten und seinen verwundeten Arm mit einem provisorischen, aber festen Verband versehen.

Kein Racheschwur kam über die Lippen Halseys. Er beschloß, eine Zeitlang zu warten, bis sich die heftigen Schmerzen in seinem verwundeten Arm etwas gelegt hätten. Deshalb trat er in den Schatten eines Baumes, lehnte sich mit dem Rücken gegen den Stamm und entzündete eine Zigarette.

Dichte, blaue Rauchwolken vor sich hinpaffend, sagte er schließlich: »Ich werde alt und schwachsinnig. Aber es ist noch nicht aller Tage Abend. Vielleicht kann ich noch einmal mit ihnen abrechnen!«

Inzwischen ritten Felipe und sein Lehrer in schlankem Galopp die Straße hinunter. Statt ihrer beiden klapprigen Mähren besaßen sie nun zwei rassige Pferde. Vor den Nachstellungen ihrer beiden niedergerungenen Feinde konnten sie sicher sein. Da war es wohl nicht zu verwundern, daß Felipe frohgemut zu singen begann. Gaspard betrachtete ihn mit bewundernden Blicken. Er war stolzer auf ihn als ein Vater auf seinen Sohn. Er fühlte sich geneigt zu glauben, daß es seit Anbeginn der Welt keinen vollkommeneren Jüngling gegeben hätte; und Felipes Geist war seine ureigenste Schöpfung.

»Und sein Herz?« dachte er bei sich. »Es ist das echte Herz eines Vereal – edelmütig, gütig und vor allem furchtlos!«

Sie kamen auf eine mit Gebüsch bestandene Anhöhe, so daß sie gegen Sicht gedeckt waren, als sie in das vor ihnen liegende Tal hinabblickten. Dort sahen sie einen dritten Reiter auf sich zukommen, einen riesigen Mann, der ebensogut beritten war wie die beiden, die sich ihnen in den Weg gestellt hatten.

»Felipe«, sagte Gaspard, »es besteht kein Zweifel, daß uns noch weitere Feinde auflauern. Ich möchte darauf schwören, daß dies der dritte ist. Zweifellos würdest du auch mit diesem fertig werden können, aber laß uns lieber nicht das Geschick herausfordern. Nach zwei Siegen könnten wir vielleicht eine Niederlage erleiden.«

Felipe seufzte. »Aber Meister«, sagte er, »warum sollten wir uns vor irgendeinem Manne verstecken – und noch dazu an diesem Glückstage!«

»Keine Widerrede!« brauste Gaspard auf. »Folge mir!«

Er ritt in ein dichtes Baumgestrüpp voran, wo die beiden ihre Pferde anhielten. Bald sahen sie Silas Denny, der mit grimmigem Gesicht nach seinen Opfern ausspähte, an ihrem Versteck vorüberreiten.

»Das ist also der dritte«, sagte Felipe, als Denny auf dem talwärts führenden Wege verschwunden war. »Wie viele mögen es noch sein?«

»Nicht mehr viele«, antwortete Gaspard, indem er wieder auf die Straße hinausritt und in das Tal hinabdeutete. »Dort«, sagte er, »liegt das Ziel unserer Reise Nun kann uns nichts mehr abhalten, es zu erreichen!«


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