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21

Ueber die im Norden liegenden Berge kam ein großes, graues Pferd, in dessen Sattel ein kurzbeiniger Reiter saß, der ungemütlich hin und her rückte, um einen bequemeren Sitz ausfindig zu machen. Da jedoch alle seine Bemühungen ergebnislos verliefen, ergab er sich schließlich in sein Schicksal und blieb ruhig sitzen.

Er war fast die ganze Nacht hindurch geritten, und jetzt war es schon lange Tag, aber das zähe, feurige Pferd zerrte immer noch ungeduldig an den Zügeln, während sich der Reiter bemühte, ein Schrittempo beizubehalten.

Jetzt ritt er um einen Bergvorsprung herum und zügelte sein Pferd. Dort unten lag San Triste, weiß schimmernd im Glänze der Morgensonne. Der Reiter rieb sich die Hände und setzte dann seinen Weg fort, bis er eine Staubwolke auf der sich zu Tal schlängelnden Straße erblickte.

Die Staubwolke kam näher heran, wurde großer, und bald konnte man in ihr einen Reiter erkennen, der sein Pferd den Abhang hinanhetzte. Der Mustang war mit Schweiß bedeckt; aber das hinderte seinen Herrn nicht, ihn so unbarmherzig anzuspornen, als hinge sein Seelenheil davon ab, den Bergkamm so schnell wie möglich zu erreichen.

Der Mann rief dem Fremden einen Gruß zu, den er mit einer Handbewegung begleitete; der Mann auf dem grauen Pferde erwiderte den Gruß auf dieselbe Weise und wollte gerade vorüberreiten, als er merkte, daß der andere plötzlich einen forschenden Blick zu ihm herüberwarf. Da ließ er das graue Pferd einen langsamen Trab einschlagen; er hörte, wie der Mustang hinter ihm haltmachte, herumschwenkte und ihm dann in einem nicht allzu großen Abstände folgte.

Der Fremde wurde noch um einen Schatten bleicher als vorhin und versuchte, sich möglichst unauffällig davonzumachen. Schon hatte er die Talsohle erreicht, als er zu seinem Entsetzen eine andere Staubwolke vor sich gewahrte. Diesmal war es eine Gruppe von drei Reitern. Auch diese riefen ihm schon von weitem einen freundlichen Gruß zu, aber als sie zu ihm herangekommen waren, zügelten zwei plötzlich ihre Pferde.

»Sie sind Joseph Simon!« schrie der eine mit vor Entsetzen, Wut und Ueberraschung bebender Stimme.

Der Mann auf dem grauen Pferde schüttelte den Kopf, zwang sich zu einem Lächeln und trabte weiter. Aber wenn er seinen Weg auch unbehindert fortsetzen konnte, so wandte er nach einer Weile doch seinen Kopf und sah, daß die drei zu dem ersten Manne herangekommen waren. Joseph Simon durchfuhr ein tödlicher Schreck.

»Sie haben mich nicht vergessen!« stammelte er, und plötzlich waren all seine körperlichen Schmerzen vergessen.

Die vier redeten nur kurz miteinander, dann setzten sie ihre Pferde bergabwärts in Trab. Joseph Simon wartete nicht, bis sie herankamen. Er lehnte sich nach vorn, schrie dem Grauen ins Ohr und wurde im nächsten Moment durch das plötzliche Angaloppieren des Pferdes fast aus dem Sattel geworfen. Gleichzeitig drang ihm ein wilder Schrei seiner Verfolger ans Ohr.

Als er wieder fest im Sattel saß, blickte er zurück. Sie kamen wie wilde Indianer hinter ihm hergeritten, und jeder hielt ein Gewehr in der Hand. Die Waffen blitzten in der Morgensonne, und bei diesem Anblick packte ihn ein solches Entsetzen, daß er den Grauen zu äußerster Eile antrieb.

Er konnte feststellen, daß seine Verfolger nicht näher herankamen. Sein Pferd zeigte sich sogar an Schnelligkeit überlegen – wenngleich es von dem langen Ritt ermüdet sein mochte –, denn der Abstand zwischen dem Grauen und den Mustangs vergrößerte sich beständig. Es stand wohl auch zu erwarten, daß die bessere Rasse und die längeren Beine seines Tieres bei der kurzen Entfernung bis zum Ziel auch weiterhin den Ausschlag geben würden. Zwar zeigte das große Pferd nach einer Weile bereits deutliche Spuren von Ermüdung, aber nun war die Casa Vereal nicht mehr weit entfernt, und Joseph Simon hielt direkt auf sein Ziel zu. Er erreichte die Brücke über den Rio Sabrina. Die Hufe seines Pferdes donnerten hohl darüber hinweg. Die ergrimmten Verfolger erkannten, daß sie den Flüchtling nicht einholen konnten, und griffen zu ihren Gewehren. Eine Kugel pfiff Joseph Simon über den Kopf hinweg. Erschreckt aufstöhnend, drückte er sich flach gegen den Hals seines Pferdes.

Es folgte eine ganze Salve; ein unheilverkündendes Summen drang an das Ohr Simons. Dann erblickte er das große Eingangstor der Casa Vereal vor sich und fegte wie der Wind hindurch.

In dem Hof traf er keine geringere Persönlichkeit als Vasco Corteño, der gerade einer Gruppe niedergeschlagener Gärtner die Leviten las, weil sie ihre Pflichten vernachlässigt hatten. Doch ein erstickter Wutschrei unterbrach seine Rede, als er des Ankömmlings ansichtig wurde.

»Simon!« rief er. »Die unglückseligen Zeiten sind wieder über uns hereingebrochen!«

Simon glitt aus dem Sattel und schwankte – fast wäre er zu Boden gestürzt.

»Draußen sind Banditen – Mörder, die mich verfolgt haben – rufe Señor Vereal herbei – rette mich – schütze mich – lieber Corteño!«

»Hund!« murmelte Vasco Corteno mit unterdrückter Stimme. Laut fügte er hinzu: »Sie werden nicht wagen, Ihnen hierher zu folgen. Aber wenn Sie auf den Rat eines ehrlichen Mannes hören wollen – halten Sie sich von San Triste fern. Es befinden sich fünftausend Männer in Ihrer Nähe, denen es ein Vergnügen bereiten würde, Sie als Zielscheibe zu benutzen, Joseph Simon!«

Simon stöhnte. Argwöhnisch betrachtete er die Gärtner. Auch diese musterten ihn mit finsteren Blicken, denn es waren Leute, die er vor fünfzehn Jahren aus den Diensten der Vereals entlassen hatte. Wie sehr ihn Vasco auch hassen mochte, so hatte er ihm doch die Wahrheit gesagt, als er ihm riet, sich anderswo in Sicherheit zu bringen. Aber der Zweck, zu dem er hierher gekommen war, war ihm fast so lieb wie sein Leben.

Er verlangte, sofort zu dem Vereal vorgelassen zu werden. Vasco Corteño verkündete, daß er seinen Besuch anmelden wolle, und ging davon. Nach einiger Zeit kam er in den Hof zurück und berichtete, daß der Vereal bald zur Verfügung stehen werde.

»Bald?« platzte Simon wutentbrannt heraus. »Ich bin von weither gekommen, um mit ihm zu sprechen!«

»Das will ich nicht bezweifeln«, sagte Corteño und lächelte boshaft.

So verging eine halbe Stunde, bevor man Simon rufen ließ und ihn in die Bibliothek geleitete, wo der Kid auf ihn wartete. Kaum war die Tür hinter Vasco Corteño zugegangen, als Simon hervorstieß: »Was soll das bedeuten, Jones? Warum werde ich wie ein Narr behandelt?«

»Simon«, sagte der Kid in seiner ruhigen Tonart, »in San Triste bin ich José Vereal.«

Simon reckte sich empor. »Sehr gut«, sprach er lächelnd, »aber diese Wände sind dick, Jones! Doch Gott sei Dank, daß ich hier bin. Ich habe während der letzten halben Stunde wohl ein dutzendmal am Rande des Grabes gestanden, aber das hat nichts zu sagen. Die Hauptsache ist, daß Sie alles großartig in die Wege geleitet haben. Ich habe die Geschichte unterwegs gehört. Die Spatzen pfeifen sie von den Dächern: Der junge Vereal ist zurückgekehrt, edelmütiger, gütiger als alle seine Vorfahren!«

Kichernd ließ er sich auf einen Stuhl fallen. »Aber wie steht es mit der Sache unter dem Hause?« fragte er, zu Boden deutend.

»Darum haben wir uns noch nicht gekümmert. Wir wollten bis zu Ihrer Ankunft warten. Es hat keinen Zweck, in dem Hause umherzurumoren, bevor es nicht unumgänglich notwendig ist.«

»Sehr klug gehandelt. Und die drei?«

Anstatt zu antworten, ging der Kid quer durch das Zimmer und öffnete die Tür des kleinen Privatkabinetts, aus dem Halsey, Marmont und Denny nacheinander heraustraten. Man konnte ihnen ansehen, daß es ihnen gut ging, denn von dem Verealschen Golde war genug an ihren Fingern haften geblieben, um sich an ihrer Kleidung und in ihrem Gebaren bemerkbar zu machen. Jeder begrüßte Joseph Simon auf seine Art: Marmont verneigte sich, Halsey winkte vertraulich mit der Hand, und Silas Denny ließ ihm einen wuchtigen Händedruck zuteil werden.

»Da wir nun alle beisammen sind«, sagte der Kid, »kann ich Ihnen verraten, daß wir unser Spiel bald zu Ende gespielt haben.«

Die drei blickten einander an; Joseph Simon war sehr blaß geworden. Er erhob sich von seinem Stuhl und bewegte die Lippen, ohne daß er ein Wort hervorbrachte.

»Cabrillo hat mich vor kurzem aufgesucht«, sagte der Kid. »Er wollte mir eine Masse baren Geldes und noch obendrein einige Hypotheken auf die verschiedenen Besitzungen geben, falls ich mich bereitfände, ihm das Feld zu überlassen und aus dem Lande zu verschwinden. Er hält einen Trumpf in den Händen: Er weiß, wo sich der echte Vereal befindet, und kann ihn jederzeit herbeischaffen lassen!«

»Und Sie?« murmelte Joseph Simon, vor Erregung zitternd.

»Ich machte ihm dasselbe Angebot, wenn er seinen echten Vereal aus dem Spiel lassen wollte.«

»Warum das?« fragte Halsey. »Hat es einen Zweck, eine hohe Summe für einen Besitz zu zahlen, den man Ihnen jederzeit fortnehmen kann?«

»Darüber habe ich zu entscheiden«, antwortete der Kid.

»Konnte er glaubhaft machen, daß José lebt?« fragte Simon.

»Jawohl.«

»Würde er die Identität Josés beweisen können?«

»Louis Gaspard befindet sich bei José.«

»Er wollte also das Geld nicht nehmen?«

»Nein. Er verließ mich wutentbrannt.«

»Wie lange wird es dauern, bis er José herbeischafft? Bleibt uns überhaupt noch Zeit, den Schatz aus Mexiko abzutransportieren?«

»Ich weiß nicht.«

Joseph Simon wanderte im Zimmer hin und her. Hin und wieder hob er seine ineinander verschlungenen Hände hoch über den Kopf empor; zuweilen schlug er sich gegen die Stirn; aber schließlich wandte er sich dem Kid ergrimmt zu.

»Mr. Jones, hatten Sie ein Recht, selbständige Entscheidungen zu treffen? Sind Sie nicht mein Beauftragter hier? Haben Sie es nicht mir zu verdanken, daß Sie sich in diesem Hause festsetzen konnten?«

Der Kid ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Aber er hielt es für angebracht, sich in eine Ecke des Zimmers zurückzuziehen, um alle vier im Auge zu haben. Und die vier errieten instinktiv, daß sein Verhalten eine Art Unabhängigkeitserklärung bedeutete. Hinfort würde der Kid nur halb bei der Sache sein, wenn es sich um ihre Interessen handelte. Er würde seine eigenen Wege gehen.

»Sie haben mich hierher geschickt«, sagte der Kid langsam, »und es stand mir nichts anderes zu Gebote als meine Aehnlichkeit mit den Vereals. Was ich erreichte, habe ich mir selbst zu verdanken. Marmont, Denny und Halsey waren zu nichts nutze. Ich habe alles allein vollbracht: die Menge aufgewiegelt, Cabrillo aus der Casa Vereal vertrieben, mich dort festgesetzt und mir ganz San Triste geneigt gemacht. Was ich mir erworben habe, beabsichtige ich zu behalten. Meine Chance, das Begonnene durchzuhalten, war schon nicht allzu groß, bevor mir Cabrillo von dem echten José Vereal erzählte; nun ist sie fast gleich Null. Aber ich beabsichtige, nicht vom Fleck zu weichen und es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Das ist sicher!«

»Narr!« stieß Joseph Simon hervor.

»Vielleicht«, sagte der Kid. »Aber wenn Ihr Geld in dem Hause ist, so lassen Sie es aus Mexiko hinausschaffen. Meinen Anteil an dem Raube können die drei einstecken. Ich werde die Maulesel und die Treiber zur Verfügung stellen. Ich bleibe zurück, um Ihnen einige Ihrer hiesigen Freunde vom Leibe zu halten. Wenn Sie jedoch glauben sollten, daß ich mir unberechtigte Vorteile verschaffen will, so können Sie ja hierbleiben und an meiner Seite Ihr Glück versuchen, wenn der echte Vereal auftaucht.«

Sie betrachteten ihn, als hätten sie einen Irrsinnigen vor sich. Joseph Simon sprach als erster: »Sie hätten dafür sorgen können, daß man den Schatz ohne jede Gefahr aus Mexiko hinausschaffen könnte. Sie hätten Ihre Belohnung bekommen können, die ich Ihnen versprochen habe – und das ist genug, Sie für den Rest Ihres Lebens vor dem Hungern zu bewahren! Statt dessen lassen Sie uns von Cabrillo die Hunde auf den Hals hetzen und verderben uns das ganze Geschäft! Wir brauchen Zeit. Wir können nicht siebzig Maultiere herbeischaffen, sie beladen und im Handumdrehen über die Grenze treiben. Und José Vereal kann in jedem Moment eintreffen! Jones, sind Sie verrückt?«

»Vielleicht«, war alles, was der Kid sagte.

Marmont rief: »Da steckt ein Weib dahinter. Wer könnte in dem rechten Geleise bleiben, wenn ihm ein Weib in den Weg tritt?«

Der Kid gab der Unterhaltung eine andere Wendung, als er sagte: »Bis jetzt sind wir ja noch nicht einmal sicher, daß das Geld in der Casa Vereal ist!«

»Zum Teufel!« murmelte Marmont. »Wenn es verschwunden ist, Monsieur Jones – –.«

Er warf dem Kid einen drohenden Blick zu, den der jedoch mit Gleichmut ertrug, obgleich er sich sagte, daß man ihn anklagen würde, den Schatz beiseitegeschafft zu haben, falls er nicht gefunden werden sollte.


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