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19

In der Erinnerung an sein Manöver, durch das er Louis Gaspard in Versuchung geführt und zu Fall gebracht hatte, seufzte Cabrillo vor Vergnügen und rieb sich die Hände.

»Zwölftausend Dollar im Jahr sind immerhin ein ganz schönes Stück Geld«, bemerkte der Kid ruhig.

»Natürlich«, beeilte sich Cabrillo, ihm beizupflichten. »Aber Gaspard war ein alter Mann; wer hätte ahnen können, daß er noch zwölf Jahre leben würde? Wenn er gestorben wäre, würde ich den jungen José sich selbst überlassen haben, und er hätte zusehen müssen, wie er sich am besten durchs Leben schlüge. Sie können übrigens selbst alle weiteren Tatsachen aus diesem Briefe entnehmen.«

Der Kid sah eine schöne Handschrift, nur die Linienführung war etwas unsicher. Doch die einzelnen Buchstaben waren so sorgfältig geschrieben, daß sie einem Schüler, der sich in Schönschrift übt, als Vorlage gedient haben könnten. Der Schreiber bestätigte in dem Briefe den Empfang der letzten Ueberweisung und dankte Cabrillo für seine übliche Promptheit. Er berichtete, daß Don Felipe Carvajal in seiner körperlichen und geistigen Entwicklung ständig Fortschritte mache und wohl als das Vorbild eines jungen Edelmannes angesehen werden könne. Was ihn, Louis Gaspard, beträfe, so ließe seine Gesundheit nichts zu wünschen übrig. Mit Bezug auf seine Arbeit könne er wohl sagen, daß er sich ihr mit Leib und Seele gewidmet habe. Das Produkt seiner Erziehung wäre ein Gentleman und ein Gelehrter von so hoher Vollendung, daß er nur noch den einen Wunsch hege, so lange am Leben zu bleiben, bis sein Meisterwerk vor den Augen der Welt Anerkennung fände.

Der Schluß lautete wörtlich: »Wenngleich nun Felipe bei seinem Eintritt ins Leben eine minderwertige Welt vorfindet, eine rohe, grausame, argwöhnische Welt, so wird er doch seinen Weg machen. Denn Verdienst und geniale Leistungen finden immer noch eine gerechte Würdigung. Daß ich ihm die großen Besitzungen abwendig gemacht habe, bedauere ich nicht im geringsten. Wenn jener Verlust nicht mit in den Kauf genommen worden wäre, würde er nicht mit all diesen Geistesschätzen ausgerüstet sein. Ueber seine Erziehung habe ich Ihnen bereits einiges berichtet, Señor Cabrillo, aber ich muß noch einmal betonen, daß ich in zwölfjähriger, anstrengender Arbeit Wunder vollbracht habe. Die griechische und lateinische Literatur ist ihm ein vertrautes Gebiet; er beherrscht drei fremde Sprachen in Wort und Schrift; er besitzt gründliche Kenntnisse in der Philosophie, in der Mathematik, in der Musik; seine zeichnerischen Leistungen sind leidlich, wenngleich sie mich nicht ganz befriedigen. Auf anderen wissenschaftlichen Gebieten, die mir nicht so vertraut sind, hat er sich allein seinen Weg gebahnt. Er hat sich durch eifriges Selbststudium umfangreiche Rechtskenntnisse angeeignet, da er sich für die Juristerei besonders interessiert. Ich erzähle Ihnen dies alles, um Ihnen zu zeigen, was man noch alles von einem zweiundzwanzigjährigen Jüngling erwarten kann, der seinen alten Lehrer bereits weit überflügelt hat!

Sie könnten nun vielleicht annehmen, daß seine körperliche Ertüchtigung vernachlässigt worden ist, aber ich versichere Ihnen, daß dies nicht der Fall ist. Um die Aktivität seines Geistes zu erhöhen, bin ich darauf bedacht gewesen, daß sein Körper gestählt wurde. Er ist in allen möglichen Sportarten trainiert worden. Berufsmäßige Lehrer haben ihn im Boxen und Ringen unterrichtet. Er ist ein verwegener und geschickter Reiter. Im Gebrauch der Schußwaffen hat er es dank seinem sicheren Auge und seinen ruhigen Nerven zu einer staunenswerten Treffsicherheit gebracht.

Kurz, Señor Cabrillo, wenn Sie den jungen Mann, der sich Felipe Carvajal nennt, sehen, werden Sie zu der Ansicht kommen, daß mein Begriff von einem vollkommenen Manne als ein leibhaftiges Gebilde aus Fleisch und Blut vor Ihnen steht!«

Ueber diesen Teil des Briefes sann der Kid eine Zeitlang nach, schließlich schlug er seine großen, dunklen Augen auf und heftete seinen Blick auf das Gesicht Cabrillos.

»Es stimmt, Señor«, sagte er ruhig, und Cabrillo atmete erleichtert auf, da er sich sagte, daß dieser Brief als vollgültiger Beweis für die Wahrheit seiner Geschichte anerkannt wurde. Er hatte geglaubt, es mit einem weit skeptischeren Geiste zu tun zu haben.

»Ich habe nun«, sagte Cabrillo, »folgendes unternommen: In dem Moment, wo ich sah, daß ich durch Ihre geschickte Ausnutzung der Volksstimmung von meinem Platze weichen mußte, sandte ich nach Gaspard und dem jungen José – oder Felipe, wie er jetzt heißt!«

»Wenn er kommt«, meinte der Kid, »wird er den Besitz an sich bringen, und wir gehen mit leeren Händen aus.«

»Sie irren sich, Señor. Er wird mir dankbar sein, weil ich ihn wieder in seine Rechte eingesetzt habe! Ich kann mir seine Dankbarkeit gut bezahlen lassen.«

»Er wird Ihnen auch sehr dankbar sein«, versetzte der Kid, »weil Sie ihm seinen Besitz zwölf Jahre lang vorenthalten haben. Ich glaube, dafür können Sie sich ebenfalls gut bezahlen lassen!«

Cabrillos Gesicht verfinsterte sich, und er machte eine ungeduldige Geste. »Daran habe ich auch gedacht. Doch jetzt lassen Sie mir bitte ein Glas Branntwein bringen, mein Freund. Ich bin sehr durstig!«

Es wurden zwei Gläser gebracht, und Cabrillo stürzte den Inhalt des einen hinunter.

»Mittlerweile«, sagte der Kid, der seinem Gaste nur mit einem Schluck Bescheid trank, »kommt der richtige Vereal auf dem schnellsten Wege nach San Triste?«

Cabrillo rutschte unbehaglich auf seinem Stuhle hin und her. »Er kommt«, bestätigte er. »Es lassen sich jedoch immer noch vorbeugende Maßnahmen treffen!«

»Ich wußte doch«, sagte der Kid, »daß Sie uns nicht beide mit einem Strick aufhängen würden!«

Cabrillo grinste. »Die Sache liegt so. Ich habe einen Ort bestimmt, an dem ich mich mit Gaspard und José Vereal treffen will. Wenn ich dort nicht erscheine, werden sie einen Brief von mir vorfinden. In diesem Briefe wird Gaspard aufgefordert, dem jungen Manne seine Herkunft zu enthüllen. Gaspard wird auch erfahren, weshalb ich nicht persönlich komme, sondern nur den Brief schicke. Mein Nichterscheinen wird nämlich damit begründet, daß ich getötet worden bin, weil ich beabsichtigte, den armen José über alles aufzuklären!«

»Wenn es so ist, dann darf ich Sie nicht töten, Cabrillo.«

»Es freut mich, daß Sie das einsehen. Bedenken Sie also, daß Gaspard und José sich schnell einem Ort nähern, der mir wohlbekannt ist. Aber inzwischen lassen Sie uns ein Abkommen treffen. Wenn Sie jetzt auch der unumschränkte Herr von San Triste sind, so sehen Sie doch gewiß ein, daß ich einen Trumpf in den Händen habe, der Ihre Machenschaften zunichte macht. Es wäre indes sehr töricht von uns beiden, wenn wir es aufs Aeußerste ankommen ließen und so ein großes Vermögen preisgäben. Erklären Sie sich bereit, sich mit einer gewissen Summe abfinden zu lassen! Wenn Sie wollen, können Sie auch noch einige Hypotheken auf die Besitzungen eintragen lassen. Ein paar zehntausend Dollar mehr oder weniger machen mir nichts aus. Dieses Abenteuer soll Ihnen etwas einbringen. Aber Sie müssen sich bereiterklären, San Triste zu verlassen und die Casa Vereal und alle anderen Besitzungen wieder an mich abzutreten, sobald Sie den gewünschten Betrag erhalten haben. Auf diese Weise kommen Sie zu dem Gelde, um das es Ihnen ursprünglich zu tun war, und für mich bleibt immer noch genug übrig.«

»Und José?«

»Wenn ich die beiden treffe, werde ich Gaspard erzählen, daß ich sie herbeigerufen hätte, weil ich zu dem Entschluß gekommen sei, sie sollten ihren Wohnsitz in einem anderen Lande nehmen – in Frankreich oder Spanien. Das genügt! Die beiden werden sofort abreisen. Sie bekommen den vereinbarten Betrag; ich erhalte die Besitzungen zurück; und alles ist in schönster Ordnung!«

»Ausgezeichnet!« murmelte der Kid. »Aber wenn ich Ihnen nun das Geld anbiete, Cabrillo, und dagegen die Besitzungen behalte? Würde Ihnen das angenehm sein?«

»Niemals!« brüllte Cabrillo.

Der Kid beobachtete ihn scharf. Er konnte sich die schroffe Ablehnung nur zu gut erklären. Cabrillo war es um jeden Preis darum zu tun, sich die Position der Vereals wiederzuerringen. Das gab ihm ein Ansehen in den Augen der Städter, wenn sie ihn auch noch so sehr hassen mochten. Und vor allem konnte er damit erreichen, daß er die liebliche Alicia de Alvarado zur Frau bekommen würde!

»Es ist nicht zu machen, Cabrillo«, sagte der Kid mit eiserner Schärfe. »Seien Sie vernünftig! Nehmen Sie das Geld; nehmen Sie die Hypotheken, die Sie in Vorschlag gebracht haben. Ich kann mich nicht von diesem alten Hause trennen. Es bedeutet für mich mehr als Geld. Ich will es entweder behalten – oder alles verlieren!«

»Sie Narr!« schrie Cabrillo. »Sie werden alles verlieren und nichts gewinnen!«

»Sie nicht auch?« fragte der Kid.

»Bah! Ich bin vermögend genug. Für mich ist dies alles ein Luxus, keine Notwendigkeit. Aber Sie – was bleibt Ihnen anderes als die Hoffnung auf den günstigen Ausgang des Abenteuers?«

»Ein Pferd«, erwiderte der Kid mit derselben eisigen Schärfe wie vorhin, »und ein Revolver!«

Cabrillo erbleichte. »Sonst nichts?« fragte er. »Und Sie wollen trotzdem nicht mit sich reden lassen?«

»Ich schwöre Ihnen, Señor, daß der richtige Vereal das Haus wiederbekommen wird, wenn es mir nicht gehören soll! – Adios, amigo.«

Ein erstickter Schrei drang aus der Kehle Cabrillos, ein Ausdruck seines Hasses und seiner teuflischen Wut. Dann stürzte er zur Tür hinaus.

Der Kid folgte ihm nicht, sondern blieb noch eine Weile ruhig auf der Tischkante sitzen. Aus dem Garten wehte der Duft der Blumen zu ihm herein. Das würzige Aroma der Geißblattblüten machte sich besonders stark bemerkbar und erinnerte ihn so lebhaft an Alicia, daß er sie im Geiste vor Augen sah. Sie war ihm mehr ans Herz gewachsen, als er sich jemals hatte träumen lassen.

Er würde gern auf alles verzichtet haben; doch der Gedanke, Alicia zu verlieren, kam ihm unerträglich vor. Vor einer kurzen Stunde hatte er ihre Verlobung mit Cabrillo nur als ein großes Hindernis angesehen, aber in Anbetracht des drohenden neuen Unheils mußte er jede Hoffnung begraben. Eine Kugel hätte notfalls das eine Problem lösen können; das andere ließ sich indes nicht durch eine Kugel aus der Welt schaffen!

Tief in Gedanken versunken, erhob er sich schließlich und schritt langsam auf das Kabinett zu. Kaum hatte er die Tür geöffnet, als er zu seinem Schreck die hagere Gestalt und das bleiche, ernste Gesicht Emile Fleuriots vor sich erblickte. Was hatte der Diener dort zu suchen? Ein ungemütliches Gefühl beschlich den Kid, und seine Befürchtungen wollten auch dann nicht ganz weichen, als Fleuriot verkündete, daß Señor Marmont den Vereal zu sprechen wünsche.

Alsbald betrat Pierre Gaston Marmont das Zimmer. Er hatte einen weißen Anzug an, in dessen Knopfloch eine rote Blume steckte. Gelbe Handschuhe bedeckten seine Hände.

»Jones!« platzte er aufgeregt heraus. »Haben Sie Gelegenheit gehabt, mit den Damen zu sprechen?«

Der Kid spürte, daß er blaß wurde. Um sich nichts anmerken zu lassen, gähnte er und bedeckte seinen Mund mit der Hand.

»Frauen füllen meine Zeit nicht aus«, erklärte er.

»Die meine auch nicht«, antwortete Marmont schnell. »Sie füllen nur einige Lücken aus. Sie sind die Würze, die meinem Unternehmungsgeist Antrieb verleiht. Ich bin verliebt gewesen in Madrid und Nizza, in Oxford und Prag, in Neapel und Moskau, aber ich habe erst warten müssen, bis ich nach Mexiko kam, um wirkliche Schönheiten zu sehen. Hier in dem alten San Triste, unter Mantillen, steckt eine geheimnisvolle Macht, die alle Könige in Europa auf ihren Thronen schwindlig machen würde; und davon habe ich einen Blick erhascht!«

»Sie brauchen Geld?« fragte der Kid trocken.

»Nur eine Kleinigkeit«, bestätigte Marmont. »Fünfhundert Pesos würden mir genügen. Sie können dagegen sechshundert von meinem Anteil an der Beute abziehen. Sind Sie damit einverstanden, mein lieber Freund Jones?«

Der Kid zog seine Brieftasche und entnahm ihr einige Banknoten. »Hier sind dreihundert«, sagte er.

»Nur drei?« fragte Marmont stirnrunzelnd. »Bin ich Ihnen nicht gut für die geforderte Summe?«

»Morgen«, sagte der Kid lächelnd, »können Sie die anderen zweihundert haben.«

Marmont brach in ein heiteres Gelächter aus. »In Ordnung!« bemerkte er, sogleich wieder gutgelaunt.

»Es sei denn«, sagte der Kid, »daß ich Ihnen kein Geld geben kann. Vielleicht reiten wir morgen schon alle nach der Grenze.«

»Zum Teufel! Was heißt das?«

»Holen Sie Denny und Halsey herbei. Dann wollen wir darüber reden.«

»Halsely ist fort. Er kommt erst morgen wieder.«

»Dann müssen wir auf ihn warten.«

»Monsieur Jones!« rief Marmont und machte eine unwillige Gebärde.

»Genug! Noch etwas. Ich werde dort in den kleinen Raum treten. Machen Sie die Tür hinter mir zu. Dann stellen Sie sich hier an den Tisch und sprechen Sie einige Worte – ziemlich laut.«

Marmont warf ihm einen durchdringenden Blick zu, legte dann seinen Stock auf einen Stuhl und führte die erhaltenen Anweisungen widerspruchslos aus. Alsbald öffnete er wieder die Tür des Privatkabinetts.

»Ich habe nichts gehört«, sagte der Kid. »Gehen Sie zurück und sprechen Sie noch einmal.«

Die Tür ging wieder zu, und diesmal trat der Kid dicht heran, ohne indes das Ohr an das Schlüsselloch zu legen. Er konnte jetzt deutlich hören, wie Marmont in dem anliegenden Zimmer sagte: »Es ist sehr heiß.«

Diese Worte jagten dem Kid keinen geringen Schreck ein. Mit nachdenklicher und finsterer Miene wischte er sich den auf seiner Stirn ausbrechenden Schweiß ab. Es hing alles davon ab, wo der Diener gestanden hatte. In der Mitte des kleinen Gemachs dürfte indes mehr als genug an sein Ohr gedrungen sein!


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