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Elftes Kapitel


Kleopha saß am Schreibtisch. Links von ihr auf der grünen Platte des an die Wand gerückten Diplomatentisches brannte schon die Lampe, obschon hinter den weißen, herabgelassenen Rouleaux noch bleicher Tagesdämmer stand und für das gelbe Lampenlicht einen hellgrauen Hintergrund gab. Aber die Gräfin Klingsberg hatte keine Zeit, trauliche Dämmerstunden zu verträumen. Sie war eine arbeitende Frau, die jede Viertelstunde ausnutzen und von ihren Untergebenen ausnutzen lassen mußte. Kleopha trug Zahlen in das Apotheker- und in das Droguenbuch, addierte in andern Büchern lange Ziffernreihen, schrieb Bestellzettel und machte Notizen.

Über dem Schreibtisch, auf der gelblich geblümten Tapete, hell vom Licht beschienen, trat aus einer Konsole die Gestalt des Thorwaldsen'schen Christus hervor. Rings, in symmetrischer Anordnung, hingen gestickte Sprüche und Photographien religiöser Bilder.

Rechts hinter Kleopha, im nur schmalen Zimmer an der gegenüberliegenden Wand, saß die Gräfin Klingsberg auf dem Sofa und schrieb, im Licht einer zweiten Lampe, die auf dem Tische vor ihr stand.

Zwei Bücherschränke, allerlei Bilder und Stühle mit grünem Damast bezogen vervollständigten die Ausstattung der sehr altmodischen und einfachen Stube. Es war das Schreib- und Arbeitszimmer der Gräfin.

Sie mochte in ihrer Jugend recht unbedeutend ausgesehen haben.

Allein das strenge weiße Häubchen mit seinem glatt geplätteten, diademartigen Streifen stand ihr sehr gut. Der weiße Kragen, den eine Brosche mit rotem Kreuz schloß, das schwarze Kleid, diese ganze völlige Schmucklosigkeit gab ihrer Erscheinung Würde. Das frische Gesicht strahlte von heiterm Behagen und selbstzufriedener Sicherheit.

Sie schrieb kurze Briefe, mit Auskünften über Kranke an deren auswärtige Familien.

Man hörte nichts im Zimmer wie die raschelnden Bewegungen der beiden Damen beim Schreiben.

Ein durchdringender leiser Geruch von Karbol und Jodoform wehte im Raum. Die beiden, die darin atmeten, spürten ihn nicht.

Es klopfte.

»Ja?« rief die Gräfin, ohne aufzusehen.

Eine Diakonissin, ähnlich gekleidet wie die Gräfin, kam und legte schweigend die Post auf die Tischecke.

Viele Minuten lang blieb der ganze Stapel von Zeitungen, Kreuzbändern und Briefen unberührt liegen. Die Gräfin hatte keine aufregenden oder persönlich wichtigen Geschäfte mehr mit der Welt. Je größer der Haufen Briefe war, desto mißtrauischer sah sie ihm entgegen. Jeder erhob Anspruch oder Bitte an sie. Das kannte sie schon seit Jahren.

So beendete sie erst seelenruhig ihre Korrespondenz, ehe sie die Postsachen heranzog, um sie zu sichten.

»Da ist einer für dich, mein Kind.«

Kleopha nickte dankend und schlug das große Haushaltungsbuch auf, um eine neue Addition anzufangen.

»Na – lese nur gleich«, sagte die Gräfin mit gutmütigem Lächeln.

Kleopha brauchte sich nur zurückzulegen und den Arm auszustrecken, um nach dem Brief zu greifen, den die Klingsberg ihr hinüberschob.

Von Hartard!

Sie hätte die Aufschrift küssen mögen. Sie war in alles verliebt, was zu ihm gehörte, von ihm kam. Sogar in seine Handschrift, sogar in die großen, viereckigen Briefumschläge, die er benutzte. Daran erkannte auch ihr kurzsichtiges Auge schon gleich, daß der Brief von ihm kam.

Mit großer Behutsamkeit schnitt sie die obere Kante auf und begann zu lesen.

 

»Geliebte! Etwas Fürchterliches hat sich begeben. Papa stürzte in dieser Nacht unglücklich vom Wagen. Aber nicht dieser Sturz ist das Fürchterliche, denn außer einem Unwohlsein von zwei, drei Tagen und einem ausgerenkten Arm, der alsbald wieder eingerenkt ward, hat Papa keinen Schaden zu tragen. Wie soll ich Dir klar machen, was sich begeben hat! Anfangs, als Papa noch bewußtlos lag, dachte ich, es sei ein tödlicher Sturz gewesen, Papa müsse sterben. Was da alles in mir vorging, kann ich niemals in Worte kleiden, nicht einmal vor mir selbst. Ich wußte aber, daß ich Papa nicht hätte überleben können. Warum nicht? Warum ein Selbstgericht? Es gibt so tief verborgene, so viel verzweigte Gedanken, die uns schuldig machen. Und ich habe, ich hatte meinem Vater seit Monaten nicht mehr Liebe zu schenken, Vertrauen zu geben vermocht. Du weißt es. Nach und nach haben wir es voreinander enthüllt, daß wir glauben, mein Vater liebe, habe seit Jahren geliebt und warte nur das Trauerjahr ab, um zu heiraten.

Sie, die wir meinen, sie kam in der Nacht. In der Leidenschaft des Schmerzes, mit der Miene des Rechtes stand sie vor mir und begehrte Einlaß. Mir aber war, als müsse ich meinen sterbenden Vater – ich wähnte ihn sterbend – für mich allein haben. Mir war, als müsse ich meine Mutter verteidigen und rächen. Und ich jagte sie fort!

Mein Gott – ich bereue es nicht – gewiß nicht. Käme die Stunde noch einmal, ich thäte noch einmal so. Ich hasse dieses Weib. Ich bereue die Schwärmerei, die ich als Knabe, als Jüngling für sie hatte. Mein Instinkt hätte mich schon damals lehren sollen, sie zu hassen. Denn ihretwegen hat mein Vater meine heilige Mutter belogen. Wer will mir beweisen, daß es anders war? Wem, wie sollte ich es glauben?

Geliebte, ich handelte, wie ich mußte. Aber doch handelte ich unklug. Denn mein Vater wird und muß erfahren, was geschah. Ich selbst muß es ihm sagen, ehe ›sie‹ mich bei ihm anklagt. Sie wird nicht säumen. Hätte ich Deinetwegen klug handeln sollen? Ich flehe Dich an, schreibe mir: ›Nein, tausendmal nein!‹

Ich lebe jetzt wie ein Verurteilter. Jede Stunde ist Frist. Wenn mein Vater von dem Vorgefallenen erfährt, dann wird er wählen müssen zwischen ihr und mir. Wenn er mich wählte! Mich! O meine Kleopha, auf Händen wollen wir ihn tragen, unsre Liebe und unser Dank sollen keine Grenzen kennen, nicht wahr? Und wenn er sie wählt?! Dann wird er mich von sich stoßen und mich hassen, weil ich sie hasse. Nein, das wird er nicht – das kann er nicht! Und doch .... ließe ich Dich?! Nicht um Vater und Mutter, um kein Gut der Welt.

Am liebsten flöhe ich zur Dir. Aber Du begreifst: ich muß hier stehen bleiben, wo ich stehe. Schreibe mir, schnell, schnell. Sage mir, daß Du auch den Hoffnungslosen, den Verstoßenen lieben würdest.

Hartard.«

 

Die Gräfin Klingsberg sah von ihren Briefen hinüber zu Kleopha. Die saß ja wie versteinert.

Dann entfaltete die Gräfin ihre Kreuzzeitung und sah nach, wer gestorben war, ob sich Jemand verheiratet hatte. Wieder flog ihr Blick über den Zeitungsrand fort nach Kleopha. Die saß noch immer regungslos da.

Die Gräfin überlas mit raschen Blicken die Tagesneuigkeiten und schaute zum drittenmale auf Kleopha.

Entschlossen legte sie die Zeitung nieder, faltete die Hände darauf und fragte:

»Sag' mal Kindchen, was hat dich denn zur Salzsäule gemacht?«

Kleopha schüttelte den Kopf. Aber nicht wie jemand, der etwas verneint, sondern wie jemand, der etwas nicht fassen und nicht glauben kann.

Mit einer starken, gutmütigen Neugier behaftet, die um sich herum durchaus keine Geheimnisse ertrug, drang die Gräfin lebhafter in Kleopha.

»In dem Brief hat was Unangenehmes gestanden! Das kann ja 'n Blinder sehen. Darf ich es nicht wissen? Kann ich dir nicht raten? Hast du kein Vertrauen?«

Kleopha stand auf.

»Lesen Sie,« sagte sie kurz.

Es war zu viel für sie allein. Sie hatte selbst das Bedürfnis, mit der mütterlichen Freundin darüber zu reden.

Die Klingsberg machte große Augen, als sie den Brief las.

»Nun«, rief Kleopha, »was sagen Sie!«

»Mein Kind«, begann die Gräfin bedächtig, »zu diesem allen kann ich sehr wenig oder sehr viel sagen. Sehr wenig, wenn dein künftiger Schwiegerpapa etwa eine niedrige Neigung haben sollte – von einer schuldvollen könnte ja wohl in keinem Fall die Rede sein, wenn man seine Lage vorurteilslos erwägt. Was wollt' ich sagen? Ja, also, wenn der durch sein Geschick – weißt du, Kindchen, seine kranke Frau – wirklich sollte in die Arme irgend einer Person getrieben worden sein – was wir Damen so 'ne Person nennen, ohne daß es immer gerade eine ist – und wenn er diese nun zur Frau von Fronhofen und Nachfolgerin einer Christine von Schill machen wollte – dann, mein Kind, ist bloß zu sagen: Dein Hartard handelte entschuldbar! Sehr entschuldbar! Aber verfahren bleibt sein Verhältnis zum Vater doch für lebenslänglich. Und um eure Zukunft sieht es flau aus. Sollte es sich hingegen um eine ernste, standesgemäße Wiederheirat handeln – na ja, es ist ja 'n bißchen rasch – aber wer kann da 'reingucken – dann, Kindchen, läßt sich viel dazu sagen und deinen Hartard möchte ich wohl auf seinen Verstand untersuchen lassen.«

»Aber Tante!« rief Kleopha und brach in Thränen aus.

»Setz dich dahin.« Sie rückte aus der Mitte des Sofas in die Ecke.

»So, nun, weine nur nicht. Für Söhne ist es ja wohl immer schwer, wenn Väter noch Liebeshändel haben. Man hört ja genug von Familienzwisten läuten, um solcher Gründe willen. Wieder ein Beweis für mich, daß aller Unfriede in der Welt, alles Unheil von der Verliebtheit kommt. Nächstenliebe, mein Kind, Nächstenliebe – klug moderiert, praktisch angewandt – das einzig Heilsame! – Also, mein Kindchen – erst muß ich den Namen der präsumtiven Frau von Fronhofen kennen. Eher kann ich keine Meinung haben.«

»Den Namen ...« stammelte Kleopha.

»Weißt du ihn nicht?« fragte die Klingsberg. »Als wir neulich von dem Kapitel sprachen, wollte ich nicht indiskret sein. Aber nach diesem Krach da,« sie schlug auf den Brief, »muß ich fragen.«

»Ich möchte ihn nicht sagen,« stotterte Kleopha.

»Na – behalt ihn für dich! Ich werde ihn so wie so bald hören,« sprach die Gräfin etwas geärgert; »ich habe vor ein paar Tagen an die Königsegg geschrieben. Deine Lage gefällt mir nicht mehr so. Ich habe sie der Königsegg anvertraut und zugleich mal auf den Busch geklopft, ob sie weiß, wer Frau von Fronhofen Nummer Zwei werden solle.«

Kleopha schrie beinahe auf. »Der Königsegg! An die Königsegg haben Sie geschrieben! Sie ist es, mein Gott, sie selbst!«

Die Gräfin war betroffen, so sehr, daß sie mit offenem Mund dasaß und ihren Schützling anstarrte. Das erste, was sich aus ihrer Verdutztheit löste, war ein kräftiger Ärger. Sie dachte im Moment nicht an Kleopha und Hartard, sondern daran, daß sie, die einen förmlichen Sport daraus machte, durch ihren milden Takt allen Menschen wohlzuthun, daß sie die Königsegg durch einen taktlosen Brief gekränkt oder doch beunruhigt hatte; gerade die Königsegg, die eine von den ganz wenigen Menschen war, die ihr noch imponierten.

»Das kommt von den Halbgeständnissen,« sagte sie heftig. »Hättest du mir gleich die ganze Wahrheit geschrieben, würde ich der Königsegg vis-à-vis nicht so eine heillose Dummheit gemacht haben. Egal, ob's 'ne unschuldige Dummheit ist. Sie wirkt auf den, gegen den sie sich richtet, doch greulich.«

»Verzeihen Sie mir, Tantchen«, flehte Kleopha. Sie bat nur aus Ergebenheit, aus Dankbarkeit. Sie fühlte noch jetzt, daß es ihre Pflicht gewesen war, diskret zu bleiben.

Weniger diese Bitte dämpfte den Ärger der Gräfin, als die Neugier, die doch triumphierte. Sie setzte sich ordentlich behaglicher zurecht, als sie sagte:

»Nun erzähl' gründlich. Also ihr glaubt, daß Fronhofen schon bei Lebzeiten seiner Frau Alexandra liebte? Du warst doch vier Monate da – hast du nichts gemerkt? War die Fronhofen eifersüchtig?«

»Gemerkt habe ich damals nichts. Gleich nach ihrem Tod, durch Dienstbotenrederei sind mir die Augen geöffnet. Wann Hartard es merkte oder erfuhr, weiß ich nicht,« sprach Kleopha. »Aber nachher, wenn man so zurückdenkt, begreift man diesen und jenen kleinen Moment. Gewiß ist aber, daß Hartards Mama nie eifersüchtig war, ihren Gatten anbetete und auch die Baronin Königsegg sehr liebte. Sie war es, die unendlich viel Freude in das Krankenzimmer brachte. Das habe ich Hartard so oft gesagt. Was ich Hartard aber nicht sagen kann, ist, daß seine Mama das verzogenste, anspruchsvollste Menschenkind war, welches man sich denken kann. Es hieß immer, sie sei ein Engel und trüge ihr Leiden wie ein solcher. Ach, Tantchen ... sie war ein Kind. Und die andern trugen ihr die Leiden. Es ist wahr, die Freuden der Welt waren ihr verschlossen. Aber was man gar nicht mehr kennt, entbehrt man nicht. Nicht wahr? Ich kann nur sagen: Herr von Fronhofen ist ein herrlicher Mensch. Er hat so etwas Leuchtendes – still beinah', aber es wirkt so weit hin – auf jeden, der ihn kennt. Ich meine, wenn es Hartard auch weh thut – er müßte es ertragen. Ach, es ist zu spät – es ist alles verfahren – zu Ende – verloren.«

Sie weinte wieder.

Die Gräfin hatte ihren Rat angeboten. Aber sie saß nun hilflos und zugleich befriedigt da. Sie hatte alles gehört. In den Konflikten der Welt war sie nicht mehr erfahren. Was bei ihr, in ihrem Hafen landete, brachte auch schon immer die Resignation mit und die Jenseitsgefühle, die körperliches Leid den Leidenschaften der Gesunden gegenüber verleiht.

Plötzlich trocknete Kleopha ihre Thränen. Sie tupfte mit dem geballten Taschentuch wieder und wieder gegen die roten Lider.

»Das ist so merkwürdig,« begann sie, »wenn man still über was nachdenkt, wird man immer trauriger und hilfloser. Aber wenn man spricht, kommt man zur Klarheit. Ich weiß auf einmal, was ich muß. Wenn die Baronin Königsegg von mir und Hartard weiß, dann kann ich zu ihr gehen und sie bitten, daß sie Hartard verzeiht. Vielleicht ist dann noch nichts verloren. In dieser letzten Nacht erst geschah das Schreckliche. Man muß doch glauben, daß der noch Leidende nichts erfahren wird – sollte man's ihm auch durch Lügen verheimlichen.«

»Vortrefflich,« rief die Klingsberg und rieb sich die Hände, »siehst du – ich sagte gleich, du sollest nur offen gegen mich sein, dann würden wir schon etwas finden.«

Durch Thränen lächelnd fragte Kleopha: »Darf ich morgen früh um sechs fahren?«

»Natürlich. Ich werde, ich selbst werde an die Königsegg depeschieren und bitten, daß sie dich holen läßt.«

»Nein. Ich finde schon einen Wagen. Ich will unerwartet vor sie hintreten. Wie, wenn sie depeschierte, sie wolle Hartards Braut nicht sehen? Könnte man ihr es verdenken?!«

Die Klingsberg umarmte Kleopha.

»Man merkt meine Schule,« rief sie befriedigt; »umsichtig und entschlossen! Reise mit Gott, mein Kind.«

Kleopha erhob sich, getröstet und mutvoll. Und so ging sie wieder an die unterbrochene Arbeit und notierte fünfundzwanzig Paket Salicylwatte, fünfundzwanzig Rollen Sublimatgaze und andre wichtige Dinge. –

Auf leichtem Wägelchen, das in all seinen Teilen klapperte und stieß, fuhr Kleopha am andern Morgen auf Hörstel zu. Monatelang hatte sie in Hospitalluft verbracht, ihre einzigen Erfrischungen waren die kleinen Fahrten gewesen, die Hartard, wenn er alle vierzehn Tage Sonntags kam, mit ihr und der immer sie behütenden Gräfin unternahm.

Nun wehte die Morgenluft sie an, wie frische Kraft. Ihr kam es wie eine Offenbarung vor, daß es das gäbe: weites Gelände, das in satten, rotgelben Farben glühte; reine Luft, die den ganzen Körper zu durchdringen schien, wenn die gierigen Lungen sie tief einatmeten; ein Himmel, so groß und weit, so blaß und zart. Still träumte dieser Morgenhimmel über der taufeuchten Erde. Das lichte Blau ging gegen den Horizont in grauliche Töne über, es schien, als stehe da eine dünne Wand.

Am Wege zog sich die endlose Reihe der Ebereschenbäume hin. Die massigen Beerenbüschel glänzten flammend rot. Das gefiederte Blattwerk gilbte sich schon und erschien stark gelichtet. Links hob sich das fahlgelbe Stoppelgelände bis zu einem Gehöft. Vor dem bleichblauen Himmel scharf und dunkel ausgeschnitten, standen die Silhouetten eines Daches und fünf verschieden geformte Pappeln, eine malerische Gruppe bildend. Und rechts, hinter einem braunen Feld, auf dem ein Pflüger ruhevoll hinter Pflug und zwei Schimmeln herstampfte, stand ein Kiefernwald. Die Wellenlinie seiner Wipfel zog sich blaudunkel vor dem hellen Himmel hin; man sah deutlich das rote Gitter der Stämme vor der Waldestiefe.

Die Erde dampfte, der steigende Tag mit seiner Wärme zog die Feuchtigkeit empor.

Kleopha hätte die Arme ausbreiten mögen. Eine zersprengende Sehnsucht dehnte ihr Herz. Die Sehnsucht, die Natur aufzunehmen, zu fassen, die unbestimmbaren Wonnen ihrer tauigen Schönheit zu nennen, zu genießen, mit robusteren Sinnen aufzunehmen als dem Auge. Vielleicht war es auch nur die Sehnsucht nach Jugend, nach Glück. Vielleicht die Vorfreude, den Geliebten zu sehen.

Was es auch war: die leise Majestät dieses Morgens, die Schönheit der Gegend, die unauffällig und doch wirksam war, wie die Schönheiten einer vornehmen Seele – alles drang auf sie ein und hob aus ihrem Innern das Köstlichste, was der Mensch gewinnen kann: hohen Mut.

Nach anderthalbstündiger Fahrt sah sie die Seitenfassade eines weißen, modernen Schlößchens, welches einer Renaissancevilla glich. An dies Profil rückwärts schloß sich in leiser Senkung ein waldartiger Baumbestand, offenbar ein Park; nach vorn ging vom Bau eine dicke, dunkle Baumlinie sanft herab, die auf die Häuser zu münden schien. Darüber hinaus, zu beiden Seiten der Chaussee, lagerte mit roten Dächern, dichten Wipfeln, die nun rot und gelb schimmerten, ein großes Dorf; ein Kirchturm, viereckig, grau und hoch, mit unverhältnismäßig kleinem Spitzdach, dazwischen heraus. Die Morgensonne blinkerte oben auf der Kugel, die noch ein Kreuz trug.

»Das ist Dorf und Schloß Hörstel,« sagte der Kutscher, mit der Stirn dahinnickend.

Wo die Ulmenallee auf die Chaussee stieß, faßte Kleopha den Mann am Arm.

»Hier will ich aussteigen.«

Sie lohnte den Mann ab. Ihr Herz klopfte doch, als sie sich dem Schloß näherte. Sie war beinahe überrascht, von Angst und Verlegenheit befallen zu werden. Während der Fahrt war ihr alles so einfach, so selbstverständlich vorgekommen. Was konnte es Menschlicheres geben, als daß ein Weib zum andern sprach:

»Der, den ich liebe, hat dem, den du liebst, weh gethan, hat dich selbst tödlich beleidigt. Verzeihe ihm.«

Nun stand plötzlich ihr Unternehmen in einem andern Licht vor ihr.

Sie wußte ja gar nicht, ob Albrecht von Fronhofen sie seinem Sohn gern als Gattin gäbe, ob er und jene Frau der Wahl seines Sohnes nicht ganz feindlich gegenüberstanden.

Es gehört immer einige Großmut und Selbstüberwindung dazu, eine ganz arme Schwiegertochter willkommen zu heißen. Und gerade für den Majoratserben von Rethen wäre eine Gattin wünschenswert gewesen, die ihm Geld und Gut zubrachte.

Unter diesen Gedanken schritt sie die sanft ansteigende Allee entlang.

Beinahe schwarz war der feuchte Boden unter den, sich greifend ineinander schließenden Ulmenkronen. Zwischen den dicken, rissigen Stämmen stand ein Grasrand. Die Tauperlen troffen schwer an den Halmen.

Da war die Thür. In der weißen Mauer stand ihr hoher Bogen. Die Messingknäufe in ihrer Füllung blitzten – –

Kleopha stand still.

Dann hob sie entschlossen das Haupt höher.

»Ich kann mich einer Demütigung aussetzen,« dachte sie, »das ist alles. Aber kann mich etwas demütigen, das ich für Hartard thue? Nein!«

Das Thor war immer verschlossen. Man mußte klingeln.

Der Diener, der öffnete, sah die Dame erstaunt an.

Er hatte diese schlanke, schöne Dame hier nie gesehen. Aber sie kam ihm doch bekannt vor. Er konnte sich nur nicht genau erinnern. Woher kam denn die, morgens halb neun – zu Fuß –

»Ist die gnädige Frau schon auf?« fragte Kleopha.

»Welche?« fragte der Diener zurück und dachte: »Herrgott, wo habe ich die schon gesehen?« Das war ja ganz gleichgültig, im Grunde auch ihm, aber es ging ihm wie allen Menschen, die einen förmlichen Trotz darauf setzen, ihrem Gedächtnis nun schnell einen Namen oder eine Situation abzuzwingen.

Welche? An Frau von Stechows Existenz hatte Kleopha gar nicht mehr gedacht.

»Frau Baronin möchte ich sehen.«

Der Diener guckte und besann sich noch immer.

»Aufgestanden sind die Gnädige. Sie sitzen beim Thee. Aber ob sie schon Besuch annehmen – das glaub' ich nun gerade nicht.«

Dabei dachte er:

»Das muß ich doch 'raushaben, wo ich die schon gesehen hab'.«

»Sagen Sie nur, es sei eine junge Dame da, die Grüße von der Gräfin Klingsberg aus Berlin brächte,« sprach Kleopha mehr befehlend als bittend.

Sie kannte eigentlich gar keinen andern, als einen unbewußt befehlenden Ton. Der war ihr in ihrem Beruf so angeflogen. Hier war er ihr von Nutzen, denn er imponierte dem Diener.

»Bitte zu warten,« sagte der. Sein bartloses Gesicht in die nachdenklichsten Falten verzogen, ging er den Korridor entlang. »Daß man nur auf so was nich' kommen kann! Wo hab' ich die schon gesehen? Auf Dolac ...«

Er schüttelte den Kopf.

»Na, Anton?« sagte Alexandra fragend, als sie den Mann eintreten sah.

Sie saß in einem Lehnstuhl, ihr Frühstück vor sich.

Sie sah sehr angegriffen aus. Ein Zug nervöser Unruhe lag auf ihrem Gesicht.

»Da ist jemand ...«

»Von Rethen!« rief Alexandra gleich und fuhr angstvoll aus ihrer bequemen Stellung auf.

Anton erlaubte sich, fast ungeduldig den Kopf zu schütteln.

»Eine Dame. Aus Berlin sagt sie. Und habe Grüße von der Gräfin ... ach, Frau Baronin verzeihen, ich hab' den Namen nicht recht verstanden. Eine schöne, junge Dame, ganz in Schwarz.«

»Jetzt?« sagte Alexandra.

»Ja. Sie muß wohl mit 'n Frühzug gekommen sein.«

»Nun – führe sie herein.«

Vor der Schwelle kehrte Anton sich plötzlich um.

»Ich hab's, ich hab's,« rief er triumphierend, »auf einmal. Und hab' mich förmlich gequält.«

Alexandra sah ihn erstaunt an.

»Das ist sie! Ja, das ist sie, gewiß. Die barmherzige Schwester, die zuletzt auf Rethen war. Bei der Leichenfeier habe ich sie gesehen.«

Alexandra stand auf. Mit gereizter Stimme sagte sie:

»Das geht Sie ja nichts an, wer es ist.«

»Na – ich dachte man bloß ...« murmelte Anton.

Von einer starken Unruhe erfaßt, ging Alexandra mit heftigen Schritten auf und ab.

Kleopha? Wirklich Kleopha? Was wollte sie hier? Hatte Hartard sich auch ihr gegenüber als blinder Egoist benommen? Kam sie, ihn zu verklagen? Ein Recht, ein Wort zu fordern? Vermittelung zu erflehen? Das arme Mädchen wußte natürlich noch nichts von der traurigen Veränderung der Lage.

In dem lebhaften Gefühl, daß ihr eine äußerst peinliche Unterredung bevorstehe, erwartete Alexandra den Besuch.

Die Thür öffnete sich, und Kleopha trat herein.

All ihre sichere Weltgewandtheit fiel mit einem Schlage von ihr ab. Was die Erziehung der Gräfin Lehben, was der Beruf der Schwester Kleopha gegeben, war wie weggewischt.

Sie war nur ein hilfloses Mädchen, das für den Geliebten zitterte.

Sie konnte Alexandras Züge nicht deutlich erkennen, aber ihr schien die ganz hochaufgerichtete Gestalt Feindschaft und Strenge auszudrücken.

Schweigend standen die beiden Frauen sich einige Sekunden gegenüber.

»Was wünschen Sie von mir?« fragte Alexandra. Ihre Stimme klang gegen ihren Willen scharf. Das Unbehagen war eben stärker als die Vorsätze, schonend und höflich zu sein.

»O, diesen Empfang habe ich gefürchtet,« rief Kleopha und bemühte sich, nicht in Thränen auszubrechen.

»Und sind dennoch gekommen ...«

»Ich mußte. Sie wissen doch, wer ich bin – die Gräfin Klingsberg schrieb es Ihnen doch ... Hartards Braut ...« nun weinte Kleopha doch.

»Hartards Braut,« wiederholte Alexandra mit bitterem Lächeln, »die er Fremden eher als solche vorgestellt, wie seinem Vater.«

»Das lag in den Verhältnissen,« sagte Kleopha, schnell bereit, den Geliebten zu verteidigen.

»Es gibt keine Verhältnisse, die den Mangel an Vertrauen gegen solchen Vater entschuldigen,« sprach Alexandra hart.

»Es kann eine Reihe von unglücklichen Seelenzuständen geben, in welchen auch ein treues, liebendes Herz zuletzt den geraden Weg verliert,« rief die jüngere Frau warm.

Alexandra sah sie nachdenklich an. Um ihren Mund schlich zuletzt ein wehmütiges Lächeln.

»Mein liebes Kind,« sagte sie milderen Tones, »warum sprechen Sie zu mir von Hartard?«

»O, ich weiß alles! Ich weiß, daß Sie Herrn von Fronhofens Gattin werden ...«

Über Alexandras Gesicht flammte Röte.

»Das wissen Sie,« sprach sie langsam.

»Hartard und ich, wir ahnten es – wie alle Leute es ahnen. Und sehen Sie, deshalb, deshalb zumeist schwieg er gegen seinen Vater. Aber seit gestern abend weiß ich es. Sie selbst, Sie haben es Hartard gesagt – vorgestern nacht ...«

Sie brach zum zweitenmal in Thränen aus.

Alexandra stand stumm. Langsam erlosch die Glut auf ihrem Angesicht.

Sie ging an die Glasthür und sah auf die Terrasse hinaus. Sie sah ganz deutlich, daß die gelben Blätter auf dem schwarz-weißen Fliesenboden klebten, der feucht ausgeschlagen war. Und sie sah, daß eine noch frisch-grüne Klematisranke von oben herabhing und leise vom Winde hin und her bewegt ward. Und doch waren ihre Gedanken ganz wo anders.

Qualvoll dachte sie: »Jetzt wird auch dieses Mädchen mich bitten, zu verzichten, damit wieder Friede werde zwischen Vater und Sohn.«

Ihr Mund verschloß sich herb.

Fünfzehn Jahre voll übermenschlicher Selbstbezwingung, voll lächelnder Selbstaufopferung zogen an ihrer Erinnerung vorüber.

Alle Stunden durchlebte sie noch einmal, in denen ihr Begehr nach Glück, ihr Recht auf Glück von der Hoffnungslosigkeit ihrer Liebe niedergeschlagen worden war wie mit Keulenschlägen.

Und endlich, wider alles menschliche Erwarten, endlich sollte sie doch des Mannes Weib werden, den sie über menschliches Maß hinaus liebte – und da warf sich der Sohn mit der Selbstsucht seiner Jugend in ihren Weg.

Mußte sie auch für ihn, was sie für die arme, kranke Frau mit stolzer Kraft gethan – sich opfern?!

Sie hob den Blick und sah in unbestimmte Fernen hinaus.

Sie fühlte: dazu reichte weder mehr ihre Kraft noch die Albrechts. Das hätte für sie beide das Alter, ja den Tod bedeutet.

War das immer so? Hatten im brutalen Leben nicht zwei Generationen nebeneinander Platz für dieselbe Arbeit und dasselbe Glück?

Sie seufzte schwer.

Da berührte eine Hand leise ihre Schulter, und eine bebende Stimme sprach:

»Haben Sie denn kein gutes Wort für mich? Fühlen Sie denn nicht, daß ich sehr, ach sehr unglücklich bin? Wenn ich selbst ein Unrecht begangen hätte, wollte ich es schon tragen und büßen. Aber zu wissen, daß der geliebte Mann in der Verwirrung seines Gemütes so fehlte – sich so schwer verging gegen Sie – der er doch Dank schuldet für alles, was Sie seiner Mutter waren – daß er damit auch dem edelsten Mann weh that – seinem Vater ...«

Alexandra fuhr herum.

»Deshalb sind Sie hergekommen – deshalb?« rief sie.

Mit gefalteten Händen flehte die andre zu ihr: »Vergeben Sie Hartard! Und wenn Sie es können – verschweigen Sie seinem Vater, was er Ihnen gethan.«

Alexandra fiel ihr stürmisch um den Hals.

»Mein Kind,« rief sie, »mein liebes, treues Kind!«

Sie mischten ihre Thränen und küßten sich wie zwei, die sich in Liebe und Verständnis fanden.

Es war Alexandra, als habe sie plötzlich einen Kampfgenossen gefunden, wo sie einen Feind erwartete. Sie vergaßen beide, daß sich in der That nichts geändert hatte als ihre Stimmung.

Und dann, als sie sich ein wenig beruhigten, erwachte in Alexandra das weibliche Bedürfnis, dem Mädchen pflegsam wohlzuthun.

Liebkosend, fast fröhlich nahm sie ihr Hut und Jacke ab, fragte nach Art ihrer Herkunft, bestand darauf, daß sie Thee nehmen müsse, und sprach in einem fort.

»Nenne mich du,« sagte sie, »nenne mich du! Wir sind so nah aneinander gedrängt durch das Geschick – wir wollen denken, es sei uns bestimmt, Schwestern zu werden.«

Kleopha war glücklich. Das Wichtigste hatte Alexandra ihr zugestanden: gegen Albrecht von dem Vorgefallenen zu schweigen. Was weiter zu thun sei, wollten sie nachher in Ruhe besprechen.

Hier trat Anton wieder ein und hatte einige Mühe, sein Gesicht in der vorschriftsmäßigen Ausdruckslosigkeit zu erhalten, als er seine Herrin zusammen auf dem Sofa mit der Fremden sitzen sah und zwar so eng nebeneinander, als hätten sie sich gerade umarmt gehabt.

»Ein Brief vom gnädigen Herrn auf Rethen,« sagte er.

Alexandra fuhr auf. Sie strahlte, als sie den Brief Anton förmlich entriß.

»Wer hat ihn gebracht?«

»Baum.«

»Wie geht es? Sie haben sich doch genau Bericht geben lassen?«

»Es geht sehr gut. Baum hat von Dora gehört, daß der gnädige Herr heute schon wieder aufstehen würde,« meldete Anton mit einem Gesicht, als sei das gute Befinden des Herrn sein Verdienst.

»Baum soll warten, ob Antwort ist.«

»Zu Befehl, Frau Baronin,« sagte Anton und ging hinaus.

Als wolle Alexandra dem jungen Mädchen nicht einmal den Anblick der teuren Handschrift gönnen, vielleicht auch in einem Gefühl von Seelenkeuschheit, trat sie mit dem Brief weit hinweg von Kleopha, unwillkürlich fingierend, als wolle sie das Licht an der Glasthür benutzen.

Mit schmerzlichem Schreck las sie:

 

»Meine Alexandra! Du Einzige, Große wolltest mit einer frommen Lüge Dein Fernbleiben erklären. Du wolltest ihn schonen, der so unerhört sich gegen dich verging. Er hat aber doch wenigstens den Mannesmut gehabt, selbst zu sagen, was geschah. Vielleicht faßte er den Mut nur, weil er eine Anklage von Dir fürchtete. Ich will es nicht untersuchen.

Er hat Dich aus dem Hause gewiesen, das bald Dein Haus sein soll. Es ist genug. Es scheidet mich von Hartard. Ich habe keinen Sohn mehr.

Das ist die Haltung, die ich Dir schulde für Deine beispiellose Liebe und Treue. Und auch die Haltung, die ich mir selbst schulde. Seit langen Monaten ertrug ich die vorwurfsvolle Feindschaft meines Sohnes mit Geduld – ich, der ich glaube, seine Liebe und seinen Dank verdient zu haben.

Nun wirst Du zu mir eilen wollen. Ich bitte Dich: komm nicht. Nach dem Vorgefallenen will ich Dich nicht anders auf Rethen sehen, denn als meine Braut, die ich feierlich empfange. Heute noch, sonst morgen, je nachdem es mir die Folgen dieses verwünschten Sturzes nur irgend möglich machen, laß ich mich zu Dir fahren. Wir wollen besprechen, was zu geschehen hat. Wir wollen es in Christinens Sinn besprechen! Ich glaube, wenn unsre liebe Verklärte wüßte, wie alles war und alles ist, würde sie sagen: denkt endlich, endlich an euch selbst, denkt nicht, daß ihr mein Andenken verletzt, wenn ihr euch nicht an das Datum des ablaufenden Trauerjahrs klammert.

Mein Gemüt ist schwer belastet. Ich habe meinen Sohn verloren! Und so – so ... Du, Geliebteste, Du mußt mir nun alles sein. Mir ist, als hätte ich nun zwei Gräber hinter mir. Aber ich will an Dich denken. Du bist die Freude und der Stolz meines Lebens.

Dein Albrecht.«

 

Alexandra kam langsam an den Tisch zurück.

»Es ist aus, mein armes Kind,« sagte sie, während Thränen in ihre Augen traten; »der Vater weiß, was geschah, Hartard gestand es selbst. Albrecht schreibt mir, er habe keinen Sohn mehr.«

Das Mitleid mit dem geliebten Mann quälte ihr Herz. Sie wußte am besten, was ihm dieser Sohn gewesen war und wie er seit langer Zeit durch ihn gelitten hatte.

Kleopha umklammerte sie weinend.

»Helfen Sie uns – Sie allein können es ... wie soll er leben, belastet mit der Feindschaft seines Vaters! Das ist doch wie ein Fluch.«

»Wie soll ich dir und ihm helfen, mein Kind?« sagte Alexandra schmerzlich und streichelte sanft das Haar der Weinenden. »Wenn ich den Vater heirate, mache ich den Sohn unglücklich, und wenn ich dem Sohne aus dem Weg gehe, mache ich den Vater unglücklich.«

»Kann der Vater jemals ganz glücklich sein, wenn sein Glück sich aufbaut auf Feindschaft mit dem Sohn?« rief Kleopha leidenschaftlich.

Tief betroffen trat Alexandra einen Schritt zurück. Sie wurde sehr bleich.

Da war sie also doch, die Forderung, zu verzichten – wenn auch in versteckter Form. Aber wie wahr war dieses Wort! Wie traurig wahr! Diese Wunde in Albrechts Herzen zu heilen, würde selbst ihre Liebe nicht stark genug sein.

»Du forderst, daß ich von Albrecht lassen soll?« fragte sie leise. »Mein Kind – ich liebe ihn seit fünfzehn Jahren ... ich liebte ihn vollkommen hoffnungslos ... er und ich, wir erwarteten nichts ... wir waren fest darin, uns zu opfern ... für sie! Bis sie so wider alles Denken und Rechnen vor uns davon ging – sie, von der man, ich weiß selbst nicht warum, annahm, sie würde uns alle überleben. Und nun willst du, ich solle verzichten, bloß weil des Sohnes Wille sich gegen mich richtet ...«

»Nein,« rief Kleopha und hielt die gefalteten Hände zu Alexandra empor, »nein – wie dürfte ich das fordern! Mein Gott – ich wollte ja gern mich opfern, auf Hartard verzichten, wenn damit etwas gewonnen wäre! Nein, nein – du sollst nicht verzichten. Aber versöhne Vater und Sohn!«

Alexandra stand und sah grübelnd vor sich hin. Sie legte den Handrücken der Rechten gegen ihre Stirn, wie jemand, der Kopfschmerzen hat.

Das junge Mädchen vor ihr hing mit verzehrender Spannung an ihrem Gesicht.

Endlich hob Alexandra das Haupt.

»Ich muß allein sein,« sagte sie, »ich muß nachdenken.«


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