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Sechstes Kapitel


Es war Winter geworden, und ein Schneefall, der mehrere Tage stark und dicht niederging, gab bei klarer Kälte der Landschaft eine leuchtende Helle.

Christine freute sich des blinkenden Lichtes, das förmlich Glanz in ihre Stube hineinzustrahlen schien. Auf den Ulmenästen drüben im Park haftete freilich die weiße, leichte Last des Schnees nicht, aber die lange Diana trug davon eine Polenmütze auf dem Kopf und ihre gezierten Beine waren bis zur Wadenhöhe im Schnee verborgen.

Auf dem Altan gab es fast den ganzen Tag Geflatter und Gepiepse. Dort mußte Albrecht morgens und mittags den Vögeln Futter streuen. Und Christine sah dann zu, wie die grauen und schwarzen Gäste herangesegelt kamen oder ein Krümchen im Schnabel, eiligst davonschossen. Sie behauptete, alle genau zu kennen, jeden Spatz und jede kleine gelbgrünbrüstige Kohlmeise. Sie konnte sich darüber aufregen, wenn unter den Vögeln draußen eine Balgerei entstand, und wußte genau, wer Schuld hatte.

Hartard saß oft stundenlang bei seiner Mutter, nahm an ihren kleinen Interessen teil und that, als wenn auch für ihn das Leben gar keinen andern Inhalt habe, als zu erfahren, ob die Vögel draußen lieber Brot mochten oder lieber an einem hingehangenen Knochen mit Fleischresten pickten; ob Doras Bruder, der in Amerika gestorben war, ihr zwei- oder vierhundert Thaler hinterlassen; ob Löbell seine Frau wirklich prügele oder ob es nur eine Verleumdung von Lina sei; ob Frau von Aulendorf noch denselben Wintermantel habe, den sie schon seit vier Jahren trug; ob – – und so weiter und so weiter.

An andern Tagen hielt er es keine Viertelstunde aus. Diese Gespräche erschienen ihm läppisch. Anstatt sich darüber zu freuen, daß seine Mutter die Monotonie ihres Lebens gar nicht empfand, sondern es sich mit hundert kleinen Nichtigkeiten ausgefüllt hatte, wurde er ungerecht und übte Kritik. Dann war es ihm, als habe der glitzernde Tag draußen verführerische Reize, als müsse ihm unendlich wohl werden, wenn er im kleinen Schlitten, das trabende Pferd voran, dahinsausen könne, einsam, rings um sich die weite, weite blendende Ebene.

Wenn er sich dann hastig von der Mutter verabschiedete, klagte sie wohl:

»Du bist oft so ungeduldig. Dein Papa hat immer Geduld bei mir. Nie mal mehr, mal weniger. Immer gleich – ach so gut und treu.«

»Und treu!« dachte Hartard und stellte tausend Fragezeichen hinter das Wort.

Aber darin hatte seine Mutter recht: in immer gleicher Geduld und Herzlichkeit widmete sein Vater der Kranken täglich viele Zeit, und er schien niemals ihre Interessen läppisch, ihre Gespräche kindisch zu finden.

In den Augenblicken, wo Hartard das Krankenzimmer wie eine Gefängniszelle sich umschranken fühlte, wallte in ihm immer eine maßlose Bewunderung für seinen Vater auf.

Und fuhr Hartard dann allein durch die weiße Stille der Natur, wurde ihm anstatt wohler, nur schwerer, immer schwerer ums Herz.

Längst hatte er erkannt, was alle schon wußten, ehe er gekommen war: daß er eine vollkommen überflüssige Figur auf Rethen bildete. Er begriff selbst nicht, daß ihm draußen nie beigefallen war, was er sich hätte an den fünf Fingern abzählen können.

Die frühern Majoratserben von Rethen waren ausnahmslos Offiziere gewesen, bis sie zum Antritt des Erbes berufen wurden. Daher war die Frage in der Familie noch niemals kritisch gewesen, was der männliche Sohn neben dem männlichen Vater für Raum und Pflichten fände.

Hartard hatte Zeiten, wo er seinem Vater grollte, daß dieser ihn nicht tyrannisch gezwungen habe, auch Offizier zu werden. Er machte dem Vater einen Vorwurf daraus, die Individualität des Sohnes respektiert zu haben. Eltern sind reifer als Kinder und übersehen das Leben besser. Sie müssen im Notfall die Kinder zu dem zwingen, was für diese ihnen nützlich scheint. Gewiß, er wäre als Offizier nicht glücklich gewesen, das fühlte er genau, aber so unglücklich wie jetzt gewiß nicht.

Manchmal sah Hartard mit weniger getrübten Blicken. Dann erkannte er deutlich, daß der Fehler darin gelegen hatte, daß Kinder nie genau die Kräfte und das Alter ihrer Eltern abzuschätzen wissen. Sie erscheinen ihnen immer verbrauchter und älter, als sie sind. Und hatte er so seinen Vater nicht deutlich gesehen, war andrerseits sein Vater zu zartfühlend, zu liebevoll gewesen, ihm vorher zu schreiben: »Was willst du hier? Ich bin zu jung, dich neben mir zu dulden.«

Führte nicht jeder Gedankenweg dazu, ihm eine schöne Eigenschaft seines Vaters klar zu machen?

Und er wünschte manchmal ihn hassen zu können.

Auch Albrecht sah wohl, daß das Leben seines Sohnes von der Jagd, der Geselligkeit und der kindlichen Fürsorge um die Mutter gar nicht ausgefüllt war. Langsam reifte in ihm der Plan, dennoch eine Hypothek aufzunehmen, damit Hartard eine Pachtung anfassen könne. Da der Entschluß schwer, die Ausführung immerhin mit langwierigen Formalitäten verbunden war, sprach er noch nicht zum Sohn davon, hauptsächlich in der Hoffnung, daß dessen Verlobung die ganze Lage auf einmal kläre. Denn Natalie betrug sich so geheimnisvoll und sagte bei jedem Hartard von Fronhofen betreffenden Gespräch zu jedermann: »Das muß ich wissen, ich stehe ihm als Freundin sehr nahe,« daß man ganz einfach annahm, sie seien heimlich verlobt, und nur eine Schrulle der Baronin sei Grund der Nichtveröffentlichung.

Schweigend schonten Vater und Sohn den heiklen Punkt der Arbeitsfrage. Aber es war nicht die zarte Schonung, die Liebe übt. Es lag in dem Schweigen etwas, wie die Furcht, an peinlichen, unheilvollen Dingen zu rühren.

Jeder von ihnen sah ein, daß der andre im vollkommenen Recht seiner Persönlichkeit war.

Und dennoch wuchs langsam im Herzen des Vaters schmerzliches Mißbehagen, in dem des Sohnes brütender Groll.

Oft war Hartard ganz einfach entschlossen, hinterrücks zum ersten Januar eine Stellung als Verwalter oder Inspektor anzunehmen, vielleicht fände sich gar, trotz seiner noch nicht bewährten Jugend, eine für ihn als Güterdirektor. Die Zeiten waren ja andre. Das Geldverdienen modern. Warum sollte sich nicht auch ein Fronhofen an diesem sittlichen Ausgleich der Standesunterschiede beteiligen? Ihm war, als müsse es leichter sein, sich von irgend einem reich gewordenen Herrn Müller oder gar Moses als eine Art höherer Domestike anranzen zu lassen als hier, wo er nach vielhundertjährigem Recht seines Hauses einmal als Herr sitzen sollte, unnütz zu vegetieren.

Aber bleischwer war er an diesen Platz gebannt. Zwei Gefühle fesselten ihn hier so, daß er, er gestand es sich, niemals den Mut gehabt haben würde, Rethen zu verlassen.

Das eine Gefühl war die fieberische Spannung, mit welcher er seinen Vater und Alexandra von Königsegg beobachtete.

Liebte nur sie ihn, dann war sein Vater in seinen Augen schuldlos; denn wer kann dafür, wenn ein Frauenherz ihm Liebe schenkt?

Daß es ihm während der ersten Wochen gar nicht aufgefallen war, daß sein Vater jede Woche mindestens einen Abend auf Hörstel verbrachte, ohne ihn mitzunehmen, das begriff er jetzt gar nicht.

Zwei- oder dreimal wagte er es, nachzureiten und als ungebetener Gast auf Hörstel zu erscheinen.

Da hieß man ihn freundlich willkommen, wenn auch nicht übermäßig freudig, und er fand einmal Zwota, Frau von Stechow, seinen Vater und Alexandra friedlich beim Whist, das der Hörstler Pastor und die alte Dame sehr liebten. Ein andermal fand er Alexandra an ihrem Schreibtisch, sein Vater stand daneben und gab ihr eindringliche Ratschläge für einen Brief, den sie an ihren Bankier schreiben solle.

Alexandra kam jede Woche ein- oder zweimal nach Rethen, um die Kranke zu besuchen.

Hartard sah es, er mußte es begreifen: es waren die Freudenstunden der Woche für seine arme Mutter. Strahlend, wie das Leben und die Schönheit selbst, erschien Alexandra im Krankenzimmer und brachte Anregung, ja geradezu Vergnügen für Christine mit.

Keine Miene dieses leidenschaftlichen, beredten Gesichts entging dem Lauernden. Er verhehlte es sich nicht: Alexandra gehörte nicht zu den Frauen, die heucheln können. Ihre Liebe zu Christinen war echt.

So kann man sich einer Frau gegenüber nicht geben, die man bestiehlt.

Mit klopfendem Herzen brachte Hartard zuweilen das Gespräch auf seinen Vater.

Unbefangen, nicht von dem mindesten Versuch nur beengt, etwas zu verhehlen, sagte da Alexandra einmal:

»Es ist mir der anziehendste und bedeutendste Mann von der Welt. Ich kenne keinen Charakter seinesgleichen.«

Und dafür küßte seine Mutter begeistert die Wangen der Freundin rechts und links.

War sein Vater zugegen, so verkehrten er und Alexandra in einer Weise, die Hartard sehr herzlich fand, die sich aber um keinen leisesten Grad von der Wärme unterschied, mit welcher sie sich in Gegenwart des Pastors oder der alten Dame begegneten.

Es war offenbar: die Unsicherheit, die ein Schuldbewußtsein gibt, lastete weder auf ihr noch auf ihm.

Und dennoch – dennoch war da irgend ein unbestimmtes, nicht greifbares Etwas ...

Es schien die beiden zu umstrahlen, wenn sie nebeneinander standen, ein königliches, wie für einander bestimmtes Paar ...

»Mein Verstand reicht da nicht aus,« dachte Hartard verzweifelt.

Und er beschloß von Tag zu Tag zu warten, weiter zu beobachten.

Das andre Gefühl aber, das ihn hier mit Ketten der Qual festhielt, war seine Liebe.

Er glaubte seine Worte und seine Blicke zu bewachen. Niemand sollte ahnen, was in seiner Seele loderte.

Seine Mutter durfte nicht unruhig, sein Vater nicht stutzig werden. Sie hätten Kleopha auf der Stelle entlassen.

Und sehen wollte er sie wenigstens – das arme, karge Glück ihrer Nähe genießen, wenn er sie denn nie, nie besitzen sollte und konnte.

Er verstand es auch, sich vor allen zu verbergen. Nur vor der einen nicht, der seine Liebe galt.

Kleopha hatte schon an jenem Oktoberabend, da er von Hörstel zurückkam, begriffen, daß er sie liebe.

Kaum betrat er damals die dürftig erhellte Halle, während sein Vater noch im Stall mit Löbell sich besprach, so eilte, vom Krankenzimmer kommend, Kleopha auf ihn zu. Die Kurzsichtige nahm den Sohn für den Vater.

»Sie möchten gleich zu Ihrer Frau Gemahlin kommen,« sagte sie, »die Gnädige hat heut nach Tisch einen Traum gehabt, den sie noch erzählen müsse.«

Da drückte Hartard ihr die Hand, zärtlich und immer wieder, ohne ihre Finger loszulassen.

»Ich bin es, Kleopha,« murmelte er, »ich.« Er war sich seines Thuns nicht bewußt.

Und nachher, beim Abendessen, that er, als sei sie gar nicht im Zimmer. Er vermied es, das Wort an sie zu richten. Als er ihr gute Nacht sagen und dabei der Gewohnheit gemäß, die Hand reichen mußte, war sie kalt wie Eis.

Erbittert und beseligt zugleich, dachte Kleopha die ganze Nacht:

»Wenn er nur schweigen kann! Nur nie, nie ein Wort von sich verrät.«

Sie wußte, er konnte das arme Mädchen nicht zum Weibe begehren, und sie hoffte, daß er sie genug achten würde, ihr nicht von seiner Liebe zu sprechen.

Und das Wissen hätte hier ja auch zugleich das Ende bedeutet.

Es war doch ein wenig Glück, es war doch wie der Blick in ein fernes, schönes, üppiges Land – wenn man auch nie von der rauhen Höhe, auf der man steht, den senkrechten Absturz hinabklimmen kann – der Blick allein, das Bewußtsein, daß es so viel Schönheit gibt, ist Entzücken.

Und er schwieg.

So gingen sie nebeneinander her, gequält und beglückt zugleich.

Wie er seinen Vater beobachtete, so überwachte er auch Kleopha. Ihre Briefe, die sie bekam, gingen fast immer durch seine Hand; die Hausordnung hatte es so gefügt, daß er die Post entgegennahm. Aber er sah nie, an wen sie schrieb. Und daß sie schrieb, wußte er, denn sie kaufte sich manchmal Freimarken bei Bödner. So mußte sie schon bei ihrem täglichen kleinen Spaziergang im Freien ihre Briefe in den Kasten stecken, der sich an der Pforte des Wirtschaftshofes befand. Den leerte Bödner von Amts wegen aus. Diesen Postboten zu fragen, war unmöglich, ganz unmöglich.

»Was versteckt sie?« fragte Hartard sich gemartert.

Daß es etwas Schuldvolles sei, dachte er nie.

Aber sie konnte zum Beispiel heimlich verlobt sein. Vielleicht warteten der Mann, den sie liebte, und sie Zeiten ab, wo sie sich zur Gründung eines Hausstandes genug zusammen verdient haben würden. Und eine Jahre lange Verlobung behandelt man gern als Geheimnis.

Die Eifersucht auf alles in ihrem Leben, was er nicht wußte, verzehrte ihn fast.

Kurz vor Weihnacht bat Kleopha um einen Urlaub von zwei Tagen. Sie brachte die Sache bei Tisch zur Sprache und sagte, wenn Herr von Fronhofen es für unmöglich hielte, daß Dora, etwa mit Linas Hilfe, zwei Tage die Leidende besorge, so wolle sie erst gar nicht dieser selbst mit der Bitte kommen.

Albrecht sah nur zu gut das Recht der Pflegerin auf eine kurze Erholung ein. Er sagte, daß man sich selbstverständlich zwei Tage behelfen werde und daß Löbells Frau schon früher, als nicht ungeschickt in solchen Dingen, zur Aushilfe herangezogen worden sei.

»Wohin will sie? Was will sie?« dachte Hartard. Als wenn sie seine Gedanken erriete, vielleicht auch in dem Gefühl, daß ein junges Mädchen nicht für zwei Tage nach Berlin fährt, ohne eine Art Rechenschaft über den Verbleib abzulegen, sagte sie:

»Mein Bruder reist zum Fest zu den Verwandten. Da will ich ihn doch gern zwei Tage haben.«

»Papa,« sprach Hartard, ohne sich zu besinnen, »gestatte doch Fräulein Reineck, ihren Bruder hierher einzuladen.«

»Gewiß, mein liebes Fräulein,« sagte Albrecht gutmütig. »Er wird hier vielleicht mehr Vergnügen haben, als bei den Verwandten. Er hat seine Schwester. Und dann hat er all das Pläsier, was so'n Wirtschaftshof und Ställe einem Jungen machen.«

Kleopha war ganz rot geworden. Man sah es ihrem Ausdruck an: sie freute sich der Gesinnung für sie, die aus Albrechts Worten sprach.

»Sie wird es annehmen, sie wird es annehmen,« dachte Hartard glücklich. Dann fuhr sie nicht fort, für zwei endlos öde Tage. Dann konnte er ihr wohlthun, indem er ihrem kleinen Bruder die Rethener Tage zu einem Fest machte.

Sie aber sprach:

»Ich danke Ihnen von Herzen für Ihre große Güte. Sie haben mich sehr glücklich gemacht. Aber annehmen darf ich es nicht. Die Verwandten fordern es, daß Berthold zu ihnen kommt. Da sie versprochen haben, ihm später nützlich zu sein, da dieser Vetter meines verstorbenen Vaters zugleich Bertholds Vormund ist, haben wir keine Wahl.«

»Verwandte, die Wohlthaten mit Tyrannei verbinden, sollten strafbar sein,« sagte Albrecht.

»Vielleicht ist es nur ein Vorwand, vielleicht will sie durchaus nach Berlin und lehnt deshalb die Einladung für den Bruder ab,« dachte Hartard. »Natürlich – sie könnte doch nicht etwa gestehen: ich will meinen Bräutigam treffen. Das klingt immer übel.«

Und Kleopha fuhr wirklich am Vormittag des zweiundzwanzigsten Dezembers fort. Löbell brachte sie im Schlitten nach Trebbin.

Hinter seinen Gardinen stand eben Hartard und sah zu, wie sie einstieg.

Das enge kleine Jackett, das Pelzkätzchen um den Hals, auf dem vollen Blondhaar das schwarze Jägerhütchen verwandelten sie völlig. Aus der klösterlichen Erscheinung, die durch die Tracht der Krankenpflegerin von einem gewissen romantischen Nimbus umgeben war, schien eine sehr elegante Weltdame geworden.

Hartard sah es wohl, einfacher konnte man sich kaum kleiden. Aber es kam ihm vor, als sei es die Einfachheit einer Prinzessin im Inkognito. Ihr Wuchs, ihre Haltung, ihr Ausdruck, alles war die Vornehmheit selbst. Wenn sie so im Berliner Straßengewühl von irgend einem Mann bemerkt wurde, mußte der sie für eine große Dame halten, die nicht beachtet zu werden wünscht.

Sie fuhr davon und wandte ihr Angesicht noch einmal zurück – nach seinem Fenster. Hartards Herz klopfte drängend. Er wußte ja, sie konnte ihn nicht erkennen. Es war also eine ganz unwillkürliche Bewegung gewesen, eine Folge vielleicht von Gedanken, die von ihm Abschied nahmen!

Er hatte sich die beiden Tage schlimm vorgestellt. Aber von ihrer wirklichen Leere hatte er dennoch keinen Begriff gehabt.

Es war ihm ganz gleichgültig, ob und wann man aß. Sie fehlte ja doch bei Tische.

Er bildete sich ein, in seinem ganzen Leben noch nie die Langeweile empfunden zu haben. Erst heute lernte er sie kennen.

Vielleicht fand er bei seiner Mutter einige Zerstreuung. Ohne Zweifel würde sie das Bedürfnis haben, von Kleopha zu sprechen. Aber seine Mutter stand immer unter dem letzten Eindruck. Der war für sie nun heute die Aushilfe der Frau Löbell. Anstatt von Kleopha sprechen zu hören, erfuhr Hartard, daß Löbell doch manchmal brutal gegen seine Frau werde, daß Ali Löbell, des Herrn Patenkind, Ostern nach Hörstel zur Schule komme, und daß die kleine Stine Löbell bereits laufe, was wegen der vor drei Monaten angekommenen Zwillinge ja sehr erwünscht sei.

Hartard überließ seine Mutter der Familie Löbell und rannte ins Freie.

Der Winter that gerade als ob er sich über die Leute lustig machen wollte, die ihn fürchteten.

Es war schon seit vierzehn Tagen das schönste Wetter – eine lachende Kälte, konnte man sagen. Ein Winter, wie ihn sich die Kinder träumen, um mit brennend roten Wangen, leuchtenden Augen und kalten Füßen sich unter blauem Himmel im Schnee zu balgen.

Auch der See hielt, und da er erst nach dem großen Schneefall zugefroren war, lag seine Fläche, blank, von rötlichen und bläulichen Farbenlichtern überspielt, wie eine Metallplatte inmitten des weißen Geländes. Seinen braunen, raschelnden Schilfkranz hatte man ihm abgeschnitten, sobald das Eis nur Männerfüße trug. Nun war er wie nackend und konnte sich vor den Blicken nicht verstecken.

Hartard lief nachmittags, bis in den tiefen Abend hinein, Schlittschuh.

Es ging ihm wie vielen Menschen: je mehr er grübelte, desto schneller wurden seine Bewegungen. Zuletzt kreiste er in rasendem Lauf auf dem Rund des Sees.

Er sah im Geist Kleopha. Sie hatte einen Knaben, ihren Bruder, an der Rechten, und ihren linken Arm legte sie zärtlich in den Arm eines Mannes, ihres Verlobten. Sie scherzten zusammen, sie waren glücklich.

Und er – er litt hier in der erstarrenden Einsamkeit des Winterabends.

Der weiße Schnee nahm blaue Töne an, die Farbe des Himmels versiegte und ward traurig und grau. Die Kälte stieg und hauchte Stirn und Wangen eisig an.

Über dem Horizont ward die Spitze eines gelbsilbernen Hornes sichtbar und wuchs schnell empor, bis die Mondsichel mit blankem Glanz unten am Himmel stand.

Zuweilen lief ein Zittern über die Eisfläche und ein hohles Krachen folgte. War der geheimnisvolle Laut verhallt, erschien die Stille noch gespenstischer.

Und in dieser großen, weißen, schweigenden Kälte wuchs dem jungen Mann der Schmerz, bis sein ganzes Leben ihm als ein verfehltes und aussichtsloses erschien.

Er schlief in der Nacht fast gar nicht, trotzdem er sich durch übermäßiges Schlittschuhlaufen körperlich sehr ermüdet hatte. Seine Phantasie ward zum Henkerknecht an ihm und spannte ihn auf die Folter eifersüchtiger Vorstellungen.

Solange er neben Kleopha hergegangen war, in der gleichmäßigen Ruhe dieses wehmütigen häuslichen Lebens, so lange hatte er die Kraft gefunden, seine Leidenschaft zu bemeistern. Die erste Störung dieser Gleichmäßigkeit warf alle seine Selbstbeherrschung um.

Er brannte vor Begier, sie nur wiederzusehen, sie nur wieder unter dem Schutz seiner Wachsamkeit zu wissen. Er begriff, daß der bisherige Zustand noch eine Art von Glück gewesen, denn er gestattete ihm, jede Stunde sie zu sehen oder zu erfahren, was ihren Tag ausfülle.

Nun war sie für ihn wie in ein Dunkel getaucht. Wo war sie? Was that sie? Mit wem verkehrte sie? Wie verbrachte sie den Abend? Wo die Nacht?

Und vor allen Dingen: kam sie wirklich am vierundzwanzigsten nachmittags halb fünf wieder?

Er zitterte den ganzen nächsten Tag vor einem Brief, einer Depesche – vor der Bitte um Urlaubverlängerung.

Und dann, als eine solche nicht kam, zitterte er davor, wie er es einrichten könne, Kleopha selbst abzuholen.

Er wollte sie zuerst sehen. Kein andrer sollte sie in Empfang nehmen. Unerwartet wollte er vor ihr stehen und auf ihrem Gesicht noch den Abglanz von Freuden lesen, die ihr die Berliner Tage gebracht. Sie sollte keine Zeit haben, sich erst zu sammeln und für Rethen ihr verschlossenes, ernstes Gesicht vorzubereiten, das sie hier immer zeigte.

Wenn ihm kein Zufall zur Hilfe käme, wollte er es wagen, einfach zu erklären, daß er vor der Bescherung noch nach Trebbin müsse und ja gleich »Schwester Kleopha« abholen könne. Auf dem Lande ist man immer sparsam mit Pferden: sein Vater würde es selbstverständlich finden, daß man nicht noch ein zweites Gespann hinaus schicke.

Er saß den ganzen Morgen bei seiner Mutter. Ihm war, als müsse er seinen Vorsatz erst moralisch abbezahlen, sich erst verdienen, was er vorhatte.

Seine Mutter war sehr vergnügt, in ihrer blassen, schwachen Weise. Sie hatte schon seit acht Tagen mit ihren matten Fingern Netze für den Tannenbaum geschnitten und Nüsse vergoldet. Es war alles sehr schlecht geraten, allein jedermann bewunderte liebevoll ihre Arbeit, so daß sie überzeugt war, dieselben vollendet hergestellt zu haben.

Man stellte in Schloß Rethen den Tannenbaum von mäßiger Größe erst in der Halle auf, wo Albrecht dann den versammelten Leuten Geschenke überreichte, nachdem er ihnen eine kleine väterliche, religiös angehauchte Festrede gehalten. Im Kamin brannte bei dieser Gelegenheit dann ein mächtiges Feuer.

Nachher durften alle Leute an das Bett der Gnädigen treten und ihr die Hand küssen. Christine vergoß dabei immer viele Thränen, aber ihr diese Huldigung entziehen, hätte geheißen sie noch mehr aufregen.

Späterhin trug Albrecht dann den ganzen Baum mit seinen brennenden Lichtern in Christinens Zimmer und baute unter ihm die Geschenke für seine Frau auf.

Hartard hörte nun mit heimlicher Genugthuung, daß Löbell gestern abend wieder etwas angetrunken gewesen sei, daß man Zwota bitten müsse, dem Manne, den man nur seiner braven Frau wegen so viele Geduld bewies, ins Gewissen zu reden und daß es doch schrecklich wäre, wie man ihn nicht mal ohne Sorgen heut nachmittag Schwester Kleopha abholen lassen könne. Hartard erbot sich sofort dazu. Und da Christine gerade mit ihren Gedanken ganz bei dem bevorstehenden Feste war, so fiel ihr jetzt ihre Furcht vor Kleophas Schönheit nicht ein.

Er war selbst beinahe erstaunt, daß es niemanden auffiel, daß man ihn unbehindert fahren ließ.

Als befangener Mensch glaubte er kaum an die Unbefangenheit der andern.

Der Tag starb in langsamer, ängstlicher Dämmerung hin. Himmel und Schneegelände lagen in dem gleichen bläulichen Ton.

»Bei der Heimfahrt wird es schon ganz Abend sein,« dachte er.

Als er mit seinem Schlitten vor dem Bahnhofsgebäude hielt, dachte er darüber nach, ob er den Zug draußen erwarten oder hier bei seinem Pferd bleiben solle.

Kleopha war ja der Meinung, daß sie Löbell hier finden werde.

Er blieb so lange unschlüssig, bis der heranbrausende Zug ihm den Entschluß abnahm.

Sein Herz schlug so, daß er böse über sich und seine Fassungslosigkeit wurde. Er machte sich beim Pferd zu thun, griff an dem Zaumzeug herum und nahm langsam die Decke ab. So kehrte er der Gitterthür, die vom Bahnhof nach draußen führte, den Rücken zu.

Kleopha kam. Ohne sich zu drängen, folgte sie ein paar Bauern und Kleinbürgern, die ihr, beladen mit Paketen und Körben, vorangingen.

Sie sah gleich den Schlitten und einen großen Mann im Kragenmantel und weichem Filzhut, der die Pferdedecke zusammennahm. Sie trat heran.

»Guten Abend, Löbell,« sagte sie.

Hartard drehte sich um.

»O Gott!« rief sie.

Die Tasche welche sie trug, fiel ihr aus der Hand.

Sie stand und zitterte. Sie hatte ihn gleich erkannt. Sie wußte auf der Stelle, daß es Hartard war und nicht sein Vater – trotz der unsichern Beleuchtung.

Er hob die Tasche auf.

Hilflos standen sie voreinander.

»Ist es Ihnen – ist es Ihnen unangenehm – – daß ich es bin?« brachte er heraus.

»Nein – nein. Ich bin nur ... es war nur ...« stotterte sie.

»Wollen Sie nicht einsteigen?« bat er leise. Sie stieg sogleich hastig in den Schlitten, und er nahm neben ihr Platz.

Vor Aufregung vergaßen beide die Pelzdecke festzuknöpfen.

Hartard trieb das Pferd an. Die Schellen auf dem Bügel fingen an zu klirren und zu klingeln. Lautlos glitt der Schlitten weiter. Im Schein der Straßenlaternen und all des Lichtes, das aus den Fenstern fiel, sah man, wie das blauweiß gestreifte Schutzleinen hinter dem Pferd sich blähte, wie die blauweißen Haarbüschel auf dem Glockenbügel wehten.

Nach wenigen Minuten hatten sie das Städtchen hinter sich. Plötzlich ließ Hartard das Pferd langsamer gehen. Er hatte bemerkt, daß die Pelzdecke ganz herabgeglitten war.

»O – Sie werden frieren,« murmelte er und bückte sich, den Saum der Decke zu erfassen. Und Kleopha, um zu verhüten, daß er sie einwickle, bückte sich zu gleicher Zeit, um die Decke zu sich emporzuziehen.

So berührte seine Wange die ihre. Sie fuhren beide zurück, wie im tödlichen Schreck.

Dann saßen sie einige Minuten still und meinten, voneinander ihre Herzen klopfen zu hören.

Die Decke lag noch, anstatt über ihren Knieen, zusammengesunken auf ihren Füßen.

Kleopha glaubte vor Angst gleich ohnmächtig zu werden.

Verzweifelt dachte Hartard: »Diese Situation muß enden. Ich muß was Harmloses sagen. Ich muß sie fragen, wie's denn in Berlin war.«

Und seine Zunge war ihm trocken, wie einem, der von Durst leidet.

Sie schwiegen weiter.

Das Pferd, gar nicht mehr angetrieben, ging einen bequemen Trott.

Es war Hartard, als schaure Kleopha, wie jemand, den sehr friert.

Er bückte sich und zog die Decke in die Höhe.

Dann, den Zügel über dem linken Arm, fing er an Kleopha warm einzupacken.

Sie saß still, so still, daß sie kaum zu atmen wagte. Ihre Nasenflügel bebten, und sie schloß die Augen.

Und wie Hartard so mit liebevollen Händen die Pelzdecke fest um die Gestalt des Mädchens zu legen versuchte, ermatteten plötzlich sein Wille und seine Kraft.

Er wußte nur, daß er liebte, und spürte, von einem verzehrenden Glücksgefühl durchbebt, daß er geliebt sei, daß sie ebenso zittere wie er und ebenso, fröstelnd in Bangen, fast vergehe.

»Kleopha,« murmelte er.

Und dann fiel er ihr um den Hals und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen. –

Das Pferd stand still. Hartard hatte bei seiner heftigen Bewegung unbewußt die Zügel straff angezogen.

Minuten vergingen.

»Kleopha!« jubelte er. »O Gott – mein! Du siehst, die Liebe war stärker als alles. Sag' mir doch ein Wort – ein süßes Wort.«

Er hatte den Arm um sie gelegt, und ihr Kopf ruhte an seiner Schulter. Ihm war, als mache dieses liebe, schöne Haupt eine verneinende Bewegung.

»Du liebst mich doch?« drängte er leidenschaftlich. »Ich habe es gefühlt. Mir war plötzlich, als gehe von deiner Seele aus eine stumme Gewalt und überströme mich mit der Gewißheit, daß du mich liebest.«

Er zog sie fester an sich.

»Weißt du,« sprach er leise, »daß ich vor Eifersucht fast verkommen bin, während du fort warest? Ich redete mir ein, du hättest einen Verlobten. Ich hätte dir als ein unsichtbarer Geist überallhin folgen mögen. Ich habe fürchterlich gelitten.«

Und da sie noch immer schwieg, flehte er: »Sprich doch zu mir!«

»Was soll ich sprechen?« murmelte sie, »ich kann ja von diesem Augenblick an nur noch etwas sagen – nur ein Wort ... es ist vorbei!«

»Vorbei,« rief er feurig, »vorbei? Es fängt ja an, Geliebte – das Glück fängt an!«

Sie richtete sich auf. Fest umklammerte sie seine Hand.

»Ich hab dich lieben müssen vom Augenblick an, wo ich dich sah,« sprach sie mit starker Stimme. Es war, als solle ihr Ton, ihre Festigkeit ihm etwas zuschwören, das noch zwischen ihren Worten lag. Sie litt daran, daß kein Wort groß genug war, ihre Liebe ganz zu sagen. »Und ich habe auch gewußt, daß du mich liebst. Dann habe ich gehofft und gefleht, du mögest mich zu hoch halten, um mir von Liebe zu sprechen, weil du mich nicht heiraten kannst.«

Er machte eine Bewegung. Sie aber fuhr fort: »Ich zürne dir nicht. Es war stärker als wir. Und es ist ein unfaßliches Glück. Aber es darf nicht dauern – keinen armen kurzen Tag lang. Gleich morgen muß ich fort. Deine Mutter hat es mir wohl fünfzigmal erzählt in diesen letzten Monaten, daß du eine reiche Frau haben mußt, daß Rethen nicht groß genug ist, zwei Männern Arbeit, zwei Familien Unterhalt zu geben.«

Hartard riß die Geliebte an sich. Es gab keinen Zweifel und keine Kämpfe in ihm. Etwas, woran er nie vorher gedacht, stand in diesem Augenblick als die klarste Pflicht vor ihm.

»Ich werde fortgehen von Rethen, und du, du bleibst bei meiner Mutter, die von dieser Stunde an auch deine Mutter ist – bis ich dir ein Heim schaffen kann. Ich entsage meinem Anrecht auf das Majorat. Als einfacher Edelmann kann ich besser, was dem Majoratserben aus Vorurteil verboten blieb: arbeiten, Geld verdienen, und sei's auch in demütigen Anfängen.«

Kleopha klammerte sich an ihn. Die leidenschaftlichste Freude machte sie trunken.

Das wollte er für sie thun! So liebte er sie! So über alles Maß hinaus!

Oft genug hatte sie es gehört, wie Hartard mit allen Gedanken und Gefühlen an seinem Familiensitz hänge und sich kein andres Leben vorstellen könne, als auf der angestammten Scholle.

»Ich danke dir – o ich danke dir. Schon dein Vorsatz macht mich unsäglich glücklich,« stammelte sie. »Es kann ja nicht sein.«

»Warum kann es nicht sein?« sprach er feurig. »Denkst du, ich bin einer von denen, die in hoher Stimmung von Heldenthaten reden und nachher hinterm Ofen sitzen bleiben?«

Sie suchte sich gewaltsam zu fassen. »Nein,« sagte sie und drückte ihm fest die Hand, »ich glaube an dich!«

»Also ...?«

»Denke an deine Mutter! Jedenfalls müßten wir sie ganz allmählich dieser Wendung deines Geschickes geneigt machen. Eine plötzliche Erregung hielte sie nicht aus. Sie ist schwächer, viel schwächer, als ihr ahnt,« sprach sie leise.

Hartard war es, als habe man ihm plötzlich alle Hoffnungsblüten vernichtet. Ihm wurde kalt und still ums Herz.

Mechanisch nahm er den Zügel und trieb das Pferd an, das sachte weiterging. Die bläuliche Helle des Abends ließ alle Gegenstände in beträchtlicher Entfernung noch erkennen. Aus dem Schneegelände tauchte die Mühle auf, ihre schwarzen drei Flügel standen sperrig vor dem grauen Himmel, den vierten verbarg sie hinter ihrem schmächtigen Bau. Es war sehr kalt, aber kein Windhauch rührte sich.

Kleopha wagte kein Wort.

Und er saß und dachte der Stunde, wo er in dem brütenden Sonnenglast des reifen Herbstgartens seinem Vater geschworen hatte, allezeit eignes Glück hintenan zu setzen vor der Sorge um die kranke Mutter.

Ihn ein armes Mädchen heiraten zu sehen, eines, um dessenwillen er dem Erbe entsagen mußte – nein, das würde seine Mutter nicht ertragen. Sie war an gar keine Kämpfe gewöhnt, an gar keinen Widerstand gegen ihre Wünsche und Hoffnungen. Das eine körperliche Unglück war für sie wie ein Kaufpreis geworden, womit sie ein Dasein bezahlt hatte, wie es vielleicht keine zweite Frau führte – ein Dasein, in dem es nur Liebe, Schonung, Frieden gab.

Was hatte sein Vater getragen und gelitten?! Wer war der eigentliche Dulder in diesem Schicksal?!

Eine nervöse Kälte durchrüttelte ihn. Kleopha spürte die Bewegung. Sie wollte ihm wohlthun, ihm irgend etwas Tröstliches sagen.

»Vielleicht gelingt es uns, die arme Mama langsam, langsam zu gewinnen. Ich habe beobachtet, daß dein Papa, wenn er sie an einen Gedanken gewöhnen will, erst wie zufällig erwägende oder vermutende Worte hinwirft, bis sie nachher fast von selbst sich in alles findet. Und was bei Kleinigkeiten, wie Einladungen, Dienstbotenwechsel und dergleichen richtig ist, wird es auch im Großen sein. Denn jedem Menschen ist immer auf eine bestimmte, in allen Fällen gleiche Weise beizukommen – das habe ich schon in meinem Berufe gelernt.«

»O Gott – mein Vater!« sagte er stöhnend, denn ihre Worte sprachen wieder von ihm und seinen täglichen Selbstüberwindungen.

»Nein, meine Süße,« fuhr er mit schmerzlicher Stimme fort, »es ist hoffnungsloser, als du weißt. Solange Mama lebt, können wir uns nicht gehören. Das arme Mädchen hätten wir ihr langsam begreiflich gemacht. Daß ich Rethen verlieren müßte – das – nie, nie.«

Er preßte die Faust gegen die Stirn. Ihm war schrecklich zu Mut. Es war ihm, als höre er ganz von fern, wie ein geisterhaftes Echo seine eigne Stimme zurücktönen: »Solange sie noch lebt – solange sie noch lebt ...«

War das wie ein Wunsch, der sich in dem Abgrund seiner Seele rührte? ...

Schweiß perlte auf seiner Stirn.

»Nur schnell heim – heim,« dachte er inbrünstig, »nur zu ihren Füßen liegen, ihre Hände küssen, die sanfte, arme, liebe Stimme hören – nur fühlen, daß sie mir noch lebt!«

Er griff wieder nach dem Zügel, denn das Pferd hatte abermals still gestanden. Aber Kleopha legte hindernd ihre Hand auf seinen Arm.

»Du sagtest schon zum zweitenmal, daß du deinem Erbrecht entsagen müßtest, wenn du mich heiratest. Das verstehe ich gar nicht. Das gibt's doch nicht, daß ein Majoratserbe verpflichtet ist, reich zu heiraten. Deine Mama war ja auch arm, sie sagte es mir selbst.«

Hartard lächelte trübe.

»Ach, mein Kind,« sprach er, »meine Frau braucht eine bestimmte Ahnenreihe.«

»Aber die fehlt mir doch nicht!« sagte sie erstaunt.

Ihr war, als wisse er schon ihr ganzes Leben, als gäbe es keinen Gedanken in ihr, kein Ereignis ihrer Vergangenheit, das er nicht kenne. Sie dachte gar nicht daran, daß sie noch kein Wort über diese Äußerlichkeiten gewechselt.

»Wieso denn das?« fragte er ebenso erstaunt. Sie fiel ihm um den Hals. In all ihren schmerzlichen Aufregungen mußte sie lachen, wie nur die Aprillaune der Jugend lachen kann.

»O du ... ja, es ist wahr. Ich sagte nichts. Aber Lieber, Geliebter! Konnt' ich dir wohl gleich zwischen deinen Küssen sagen, ich bin die Gräfin Lehben? Ich dachte gar nicht daran. Es fällt mir aber ein. Mir war so, als seien wir plötzlich eins, und du wissest demnach wie ein Wunder alles.«

Hartard schob sie ein wenig von sich. Sein Herz klopfte. Ein leises Mißbehagen regte sich in ihm. Alle Geheimnisse haben eine Witterung von Verdächtigkeiten oder Sonderbarkeiten an sich. Er für seine Person haßte dergleichen. Er hatte schon genug davon gelitten, Kleopha von einem solchen umgeben zu sehen – denn trotz all ihrer einfachen, klaren Angaben fühlte er, daß sie noch etwas verbarg.

»Eine Gräfin Lehben ...« fragte er zögernd.

»Ja«, erzählte sie lebhaft, »aus dem Hause Reineck. Mein Papa war der Enkel eines zweiten Sohnes. Das Vermögen ist Fideikommiß. Na, da kannst du dir denken ... Papa, schon als Hauptmann pensioniert, starb vor drei Jahren. Erst nach seinem Tod erfuhr ich, daß er mit kleinen Agenturen, wie sie ein Kavalier in seinen Kreisen unauffällig betreiben kann, und durch Unterstützungen seines Vetters, des Grafen Lehben-Reineck, unser Leben bestritten hat.«

Hartard stieg aus dem Schlitten. Er warf dem Pferd eine Decke über und führte es im Schritt. Es war ein Vorwand, sich zu besinnen. Den Kopf etwas zurückwendend, fragte er: »Und warum das Geheimnis?«

Kleopha ganz ohne Arg, fuhr ebenso eifrig fort.

»Ich hatte nichts gelernt. Nur gerade, was so junge Damen brauchen. Papa hatte wohl gehofft, ich würde mich gleich verheiraten. Wir gingen in Breslau, wo wir wohnten, viel in die Welt. Einmal fand sich auch Gelegenheit. Das erzähl' ich dir später – ich sollte mich an einen Greis verkaufen. Unser Vetter meinte, die große Stellung, das Vermögen, der stolze Name sollten mir genug sein. Er hat es mir nicht verziehen, daß ich nicht wollte. Dann starb Papa. Nun standen wir so da – Berthold und ich. Eine Freistelle im Kadettenhaus konnten wir nicht erlangen für ihn. Graf Lehben versprach das Jahrgeld für ihn zu zahlen, bis ich genug verdiene, dies zu thun. Er versprach auch, Berthold später die nötige Zulage, aber nur für ein Linienregiment, zu geben. Die Bedingung war, daß ich mich in meinem Beruf meines Namens begebe.«

Hartard trat an den Schlitten, der wieder still stand, legte seine Arme auf die Kante und fragte, sich seines Unbehagens schämend, und doch in einer befangenen Stimmung:

»Es gibt doch genug Prinzessinnen und Gräfinnen, die Krankenpflegerinnen sind.«

»Ja – aber anders als ich! Sie gehören einem religiösen oder weltlichen Verband an und arbeiten innerhalb des Schutzes eines solchen und für seine Ziele und Zwecke. Oder sie gehen mit den Missionen hinaus in Gefahren. Weißt du – das ist so anders – so ganz anders. Das gibt einen Nimbus – das ist ideal – das empfiehlt bei Hofe. Aber ich – ich habe ja nur im Rotenkreuzhospital gelernt, und die liebe, gute Gräfin Klingsberg, meiner verstorbenen Mama Jugendfreundin, verhalf mir dazu und verhalf mir auch zur Stellung bei deiner Mama. Ich arbeite ja ganz einfach um Lohn und Brot, wie jede beliebige Proletarierin, die Geld verdienen muß. Lehrerin konnte ich nicht sein – ich habe, glaube ich, kein Talent dazu. Und das mit dem Examen – das ist nicht so einfach. Und Gesellschafterin? Da, wo man eine Gräfin Lehben als solche bezahlt, werden so viel Toiletten verlangt, daß für Berthold nichts übriggeblieben wäre. Auch meinte die Klingsberg, mein Äußeres passe nicht dafür, sie meinte auch, so eine Art klösterlicher Tracht, die ich als Krankenpflegerin, auch ohne einem Verband anzugehören, tragen könne und solle, gäbe ungeahnt viel Würde und Schutz. Darin hat sie recht gehabt. Und obenein, siehst du, war es furchtbar praktisch, als simple Kleopha Reineck im schwarzen Kleid herum zu laufen und sechshundert Mark für Berthold übrig zu haben.«

Eine so reine, naive Freude sprach aus ihren Worten, daß Hartard ihr Gesicht zwischen seine Hände nahm und sie innig ansah.

»Verzeihst du mir?« bat er.

»Was ...«

»Daß ich in eine etwas unglückliche Stimmung geriet, als Geheimnisse auf dem Plan erschienen?«

Sie küßte ihn.

»Von Herzen,« sprach sie, »ich begreife das ganz. Es war mir ja auch selbst gräßlich – weißt du noch, wie ich weinte, als die hundert Mark kamen?«

»Damals wäre ich dir schon beinahe um den Hals gefallen.«

Sie vertieften sich in Erinnerungen. Plötzlich wieherte das Pferd laut. Als der glucksende, wellige Ton laut durch den stillen Abend scholl, schraken die beiden Verliebten aus ihrem zärtlichen Geflüster auf.

»Wir kommen zu spät,« rief Kleopha ängstlich, »man wird mißtrauisch werden.«

Hartard war mit einem Satz im Schlitten.

Nun ging es in rasender Fahrt auf Rethen zu.

»Mir ist doch besser, mutvoller,« sagte er. »Die Lage ist doch anders. Morgen schon wirst du Mama deinen wahren Namen nennen. Ich kenne Ma. Sie hat ungemein viel Sinn für Romantik. Du wirst ihr interessanter, unglücklicher vorkommen. Sie wird darüber nachdenken, wie man das Aschenbrödelchen zur Prinzessin machen könne. Sie wird damit anfangen zu denken: ›Wie schade, daß Kleopha arm ist, sonst wäre sie die Frau für Hartard‹ und sie wird damit enden zu sagen: ›Es macht nichts, daß sie arm ist – möchte er sie trotzdem lieben.‹«

Kleopha schmiegte sich an ihn.

»Überlaß das mir, ein paar Tage zu sondieren. Ich kann dir sagen, so im Hospital lernt man viel. Es gibt Kranke, die eine Wärterin en canaille behandeln und dann nicht einmal mehr aus lauter Respekt von ihr eine Tasse Thee sich bringen lassen mögen, sobald sie erfahren, das sei eine Gräfin oder Baronin. Das Bewußtsein, wer man ist, nimmt auch Hochgebildeten, Herzvollen oft die rechte Unbefangenheit im Begehren von Diensten. Vielleicht möchte auch deine Mama sich von der Gräfin Lehben nicht mehr so alles thun lassen. Von ihrer künftigen Tochter wird sie es sicher. Laß uns etwas nachdenken – es ist so neu alles – so neu ...«

Hartard neigte sich zu ihr und küßte sie. »Du hast recht.«

»Und nicht wahr, Geliebter – du meidest mich, wie bisher!«

Er fuhr förmlich auf.

»Das ist doch meine einfachste Pflicht!« rief er.

Das Schloß lag vor ihnen. Die Lichter vom Wirtschaftshof blinkten. Hunde schlugen an.

»Und noch ein Wort!« sagte sie hastig. »Ein unumstößliches! Wenn deine Eltern nicht frohen Herzens mich willkommen heißen, oder wenn es sich herausstellt, daß wir's deiner Mutter überhaupt gar nicht sagen dürfen – dann – ja dann wollen wir scheiden! Warten will ich nicht, Hartard! Ich habe so viel Häßliches gesehen an Sterbelagern – warten auf einen Tod – das ist beinahe ... hoffen auf einen Tod! Nein, ich will nicht warten. Lieber fortgehen ... auf ewig.«

Er drückte ihr die Hand mit eisernem Druck. Seine Lippen waren ihm verschlossen.

Er war bis ins tiefste erschüttert. –


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