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Siebentes Kapitel


Niemand behelligte sie mit Fragen. Wie die meisten Menschen, die ein großes Erlebnis erfuhren, glaubten sie, die Fülle der seelischen Ereignisse habe sich über Stunden und Stunden hingedehnt. Der reiche Inhalt der Minuten hatte sie das Zeitmaß verlieren lassen. Ihnen schien, als müsse eine lange, lange Frist verstrichen sein, seit sie am Bahnhof den Schlitten bestiegen. Inzwischen hatte sich doch ihr ganzes Leben verwandelt.

In der That kamen sie noch keine Stunde zu spät, und das hatte Christine von vornherein erwartet.

»Zögere nur alles hin,« bat sie Albrecht, gleich nachdem Hartard abgefahren war, »am Heiligenabend verspäten sich die Züge immer ungeheuer.«

In der Halle war alles fertig; sowie sie eintraten, sagte Albrecht, daß er in einer Viertelstunde die Lichter anzünden wolle, sie sollten nur schnell erst den Thee nehmen, der im Eßzimmer bereit stehe.

Aber sie gingen beide gleich zu der Leidenden.

Hartard knieete vor dem Bett seiner Mutter und bedeckte ihre Hände mit leidenschaftlichen Küssen.

Sie fühlte, daß er bis zur Fassungslosigkeit erregt war. Zärtlich legte sie ihre Hand auf sein Haar und wühlte mit liebkosenden Fingern in der dunklen Fülle.

»Was hast du denn?« fragte sie innig.

»Als ich den Tannenbaum draußen sah, mit all der bunten Zier, die du gemacht hast – da fiel mir's auf die Seele: zwei Jahr war ich nicht bei dir an diesem Tag,« sagte er leise.

Er hob sich höher, er küßte ihre Wangen und streichelte sie.

»Ich habe sie noch – ich habe sie noch!« dachte er.

Kleopha hatte ihren Hut und ihre Jacke unterdes abgelegt. Neben ihrem Bett, hinter dem Vorhang, führte eine Thür in ein Stübchen im Anbau. Das war ihr kleines Eigentum.

Nun kam sie wieder, mit der großen weißen Schürze, wie immer. Aber das Mützchen fehlte auf ihrem Haar. Während sie zärtlich von den heimlichen Werdetagen ihrer Liebe geflüstert, hatte Hartard ihr gesagt, daß er dies klösterliche Mützchen hasse. Er sollte es nicht mehr sehen.

Sie trat an das Bett heran. Hartard sprang auf und machte ihr Platz. Und auch Kleopha, einem übermächtigen Gefühl nachgebend, beugte sich und küßte die Hand seiner Mutter.

Ihre Lippen trafen auf eine trockene, brennende Haut.

Sofort ganz Aufmerksamkeit, betastete Kleopha mit ihren beiden Händen die Hände der Kranken.

Sie waren fieberheiß, kein Zweifel. Ganz nah beugte sich Kleopha über die Liegende.

»Sie fühlen sich wohl?« fragte sie zärtlich.

»Danke, liebes Kind, nicht so wohl wie sonst. Etwas Kopfweh. Aber ich bin am Bescherungsabend immer etwas aufgeregt,« sagte Christine.

Ihre Augen leuchteten dunkel, ihre Wangen hatten rote Flecken.

Draußen ging ein langes Gebimmel los.

»Geht hinaus – schnell!« bat Christine. »Und lassen Sie die Thür halb offen stehen, Schwester Kleopha, dann höre ich alles.«

Und nach diesen Worten hustete sie kurz, aber mit einem rohen, dunklen Ton.

Kleopha erschrak und erbleichte. Es dauerte aber nur Sekunden, bis sie sich faßte.

»Ich möchte lieber hier bleiben,« sagte sie.

»Nein, ich will, daß Sie hinausgehen,« befahl Christine, »mein Mann spricht so schön.«

»Ma – du bist ja plötzlich heiser,« rief Hartard.

Kleopha ging hinaus und trat an Albrecht heran, der vor dem, im Lichterglanz strahlenden, etwas sehr bunten Tannenbaum stand und sorgsam nachsah, ob auch irgendwo ein Flämmchen ein Papiernetz aufzehren könne.

»Gestatten Sie den Leuten nicht, in das Zimmer der gnädigen Frau zu gehen,« flüsterte sie, »wenn Sie können, verschieben Sie auch die Bescherung für Ihre Frau selbst bis morgen. Sie hat Fieber. Sie gefällt mir nicht. Ich will sofort die Temperatur messen.«

Albrecht erschrak.

»Mein Gott,« sagte er kleinlaut, »das würde Christine aber sehr, sehr aufregen. Sie würde sich in den Kopf setzen, sie sei krank.«

Da öffnete sich schon die Thür des Eßzimmers, durch welches die Leute, vom Küchenanbau her, in die Halle traten. Lina und Dora voran, dann Frau Löbell mit Baum, der Diener und Gärtnergehilfe in einer Person war, Löbell mit seiner beständigen Miene des Schuldbewußten folgte. Schüchtern drängten sich die Tagelöhner mit Frauen hinterher.

Man ordnete sich im Kreise. Kleopha stellte sich neben den weitklaffenden Thürspalt, um keinen Laut von drinnen zu verlieren. Sie hörte nichts von Albrechts warmen Worten, in denen er väterlich-freundschaftlich zu den Leuten sprach. Ihre Hände waren kalt vor Angst. Ihr Herz schwer vor plötzlich erwachter Sorge.

Hartard war es gelungen, sich neben der Geliebten aufzustellen. Das war alles. Ihre herabhängende Hand zu berühren, mit seinem Blick ihr Gesicht zu streifen, wagte er nicht.

Die immer wachsame Dora hätte es bemerken und beklatschen können. Und niemand sollte vorher besprechen, was erst in schweren, heiligen Kämpfen zu erringen war.

Er versuchte den Worten seines Vaters zu folgen.

Da schrak er zusammen. Drinnen hatte seine Mutter wieder so häßlich gehustet.

Nun sahen sie einander doch an, er und Kleopha, in unwillkürlichem Entsetzen.

Kleopha glitt leise in das Zimmer und zog die Thür hinter sich zu.

»Liebe gnädige Frau,« sagte sie, »gestatten Sie doch, daß die Leute Ihnen morgen die Hand küssen. Sie haben offenbar ein kleines bißchen Fieber. Wir wollen einmal nachsehen. Nicht wahr, die Leute kommen morgen? Ich werde es befehlen.«

Der bestimmte Ton berührte die Kranke sehr eigen. Sie wollte sagen, daß es ihr gar nicht einfalle, bis morgen auf den schönen Moment zu warten, aber indem sie den Kopf etwas heftig umwenden wollte, bemerkte sie, daß er sehr schmerze und schwer schien und so, als ob er ganz groß sei.

»Wie schade ...« sagte sie heiser. Kleopha eilte hin und her, maß die Temperatur, holte Kompressen zusammen und schlüpfte dann wieder hinaus. Gerade schüttelte Albrecht allen Dankenden der Reihe nach die Hand.

»Holen Sie mir Schnee,« flüsterte sie Hartard zu.

»Die gnädige Frau läßt alle Leute bitten, ihr morgen guten Tag zu sagen,« sprach Kleopha ganz laut.

Eine große Bewegung entstand, das war noch gar nicht dagewesen! Albrecht stürzte an das Bett seiner Frau.

Ja, sie glühte, und obschon ihre Augen größer und dunkler schienen als sonst, schienen sie doch zugleich sehr trübe.

Seit dem Mittag war er immer nur auf Minuten bei ihr gewesen und hatte wohl eine gewisse fiebrische Art an ihr bemerkt, sie jedoch auf die Festerregung geschrieben.

»Wir wollen lieber morgen feiern,« sagte sie fast unhörbar, mit rauhem Ton. Es war, als habe sich ein Reif auf ihre Stimme gelegt.

»Aber natürlich,« sagte er mit heiterstem Gesicht, »da habe ich zweimal die Freude, einen brennenden Baum zu sehen.«

Sie lächelte ein wenig.

Hartard kam mit einem Eimer voll Schnee. Er flüsterte an der Thür mit Kleopha, ob er Eis schlagen lassen solle. Sie bat darum, für die Nacht, es halte sich länger.

Dann ließen die Männer die Pflegerin und die Kranke allein.

Im Eßzimmer standen sie ratlos, vor Schreck gelähmt. Was war das? Was konnte das werden? Dora kam herein. Sie war immer etwas gereizt gegen Kleopha, die sich durchaus von ihr fern hielt und immer nur höflich mit ihr war. Dora war an Intimitäten gewöhnt, auch von ihrer Herrin. Daß die Krankenwärterin sie ihr versagte, erbitterte sie.

Während sie nun das, von der heftigen Bewegung sich blähende Tischtuch über den Tisch hinwarf, sagte sie:

»Die Schwester macht das so fürchterlich wichtig. Das ist bloß 'ne kleine Erkältung.«

»Auch bei einer kleinen Erkältung ist bei der gnädigen Frau Vorsicht am Platz,« sagte Hartard scharf und hochfahrend.

»Nu ja,« sprach Dora, »ich meine man bloß so. Die Herren sollen sich nicht ängstigen. Die Löbell hat eben in der Küche erzählt, was ihre kleine Stine is, die hat vorige Woche gerade so bellend gehustet. Und 'n roten, dicken Kopf hat sie gehabt – so.«

Dora zeigte mit hohlen Händen eine ganz unmögliche Kopfgröße und fuhr fort:

»Da ist die Löbell gegangen und hat Dolma seine Mutter geholt. Die alte Dolma ist klüger als mancher Doktor. Die hat der kleinen Stine 'nen gerührten Heringmilcher eingegeben. Da hat das Kind sich mehrmals erbrochen, und den andern Tag war's beinah schon wieder gut.«

»Und davon hat die Löbell kein Wort gesagt!« rief Albrecht empört. »Wer weiß, was dem Kinde gefehlt hat.«

Er glaubte zu wissen, was dem Kinde gefehlt hatte – – die Beschreibung war deutlich genug. Das Herz klopfte ihm. Er eilte hinaus, um Schwester Kleopha das Gehörte mitzuteilen.

Sie begegnete ihm schon in der Halle.

»Es muß sofort zum Arzt geschickt werden. Hier – ich habe die Temperatur und die Symptome aufgeschrieben – dann kann er gleich allerlei mitbringen,« flüsterte sie.

»Am Weihnachtsabend,« stotterte er. Sie verstand seinen Ausruf falsch.

»Es ist meine Pflicht, darauf zu bestehen,« sagte sie.

Er aber hatte unwillkürlich gedacht:

»Wenn die Schwester es an einem solchen Abend für nötig hält, einen Arzt kommen zu lassen – wie ernst sind dann ihre Befürchtungen!«

»Ich fahre selbst,« sprach er tonlos. Hartard stand schon neben ihm.

»Du bleibst, Mama wird dich verlangen. Ich fahre.«

Und, während sein Vater am Bett der schwer und schwerer atmenden Frau saß, fuhr er wieder jenen Weg zurück, auf dem er vorhin im Siegerglanz der jungen Liebe gekommen war.

Diesmal ließ er sein Pferd dahinrasen. Seine Gedanken waren nicht beweglich, schwer und stumpf kreisten sie immer um das eine Wort:

»Sie darf nicht sterben.«

Und als sein Schlitten an der Mühle vorbei sauste, da, wo vor wenig Stunden das Wort gefallen war:

»Solange sie lebt – –« dieses Wort, das ein so gespenstisches Echo gefunden, das ihn durchrüttelte wie das Bewußtsein eines Verbrechens – da trat der Schweiß auf seine Stirn. Das weite, weiße, in der Ruhe der beginnenden Nacht liegende Gelände schien ihm wie ein Gefilde des Todes.

»Sie darf nicht sterben!« flehte er inbrünstig und laut.

Er fand den Arzt, er nahm ihn fort aus den Familienfreuden, er raste mit ihm zurück nach Rethen.

Und Vater und Sohn erfuhren, daß die arme Gelähmte an Diphtheritis schwer erkrankt war. Das Löbellsche Kind hatte einen leichten Anfall gehabt, Frau Löbell die Krankheit übertragen.

Sie erschraken kaum noch über das schlimme Wort, sie hatten etwas dergleichen sofort gefürchtet. Sie waren beinahe wortlos. Nach Männerart saßen sie unthätig und zwecklos zusammen. Stunden vergingen.

Der Vater redete dem Sohn, der Sohn dem Vater zu, zu Bett zu gehen. Jeder wußte vom andern, er würde nicht schlafen, aber jeder lechzte nach Einsamkeit.

Endlich entschloß Hartard sich, in sein Zimmer hinauf zu gehen. Er machte kein Licht, sondern saß still am Fenster.

Draußen wölbte sich über der weißen Winterwelt ein dunkler Himmel, der durch seine Klarheit leuchtete und an dem tausend Sterne flimmerten, als ständen sie nicht ganz fest, so funkelte zitternd durch die reine Kälte ihr Licht hernieder.

Hartard fühlte, daß ihm besser werde in der vollkommenen Stille. Unten hatte das Licht der Hängelampe über dem Eßtisch, hatte der Rauch der Cigaretten, das Ticken der Uhr ihn gestört. Die Haltung seines Vaters sogar, der wie ein Gebrochener dasaß, hatte ihn gequält. Alles sprach von der schrecklichen Wirklichkeit der Lage.

Hier oben, in der Stille und beim Ausblick in die feierlich glänzende Winternacht, fühlte er sich der Sorge mehr entrückt. Sie grinste ihn nicht so unmittelbar an. Sie zermalmte ihn nicht, er konnte wenigstens wieder nachdenken.

Irgend ein Ahnungsgefühl wuchs siegreich in ihm auf, das ihm sagte, seine Mutter werde an dieser Krankheit nicht sterben. Sie hatte nicht viel Kraft, die arme Dulderin, aber sie hatte mehr: Zähigkeit.

In schweren Stunden des Lebens ist auch der Klarste, der Vorurteilsloseste geneigt, geheime Verknüpfungen des Schicksals anzunehmen. Hartard fing an darüber nachzusinnen, ob dieses furchtbare Ereignis, welches wie ein Blitz aus heiterstem Himmel niedergefahren war, nicht eine tiefe Bedeutung habe. Es wollte, mußte ihn lehren, wie unendlich teuer ihm seine Mutter war, wie unkindlich frevelhaft jene geheimsten Gedanken gewesen, mit denen er, über seine Mutter hinweg, eignem Glück zugestrebt hatte. Er sollte in diesen Prüfungsstunden begreifen, daß ein Glück ohne den Segen seiner Mutter und nur durch Warten auf ihren Tod gewonnen, niemals ein rechtes Glück hätte werden können.

Er war sich selbst ein Rätsel, wie er, gerade er, der so an seiner Mutter hing, nur eine Sekunde lang an ihren Tod hatte denken können. Wie fürchterlich wahr, was Kleopha sprach: warten auf einen Tod, ist immer beinah hoffen auf einen Tod.

Sie mußte leben! Ihm war, als würde sein heißer Wunsch es erzwingen.

Es war ja auch gar nicht die Mutter, die zwischen ihm und seinem Glück stand. Sie würde sich geneigt machen lassen. Es war der Vater, dieser junge Vater in seiner blühenden Lebenskraft – –

Hartard war sich bewußt, immer ein sehr guter Sohn gewesen zu sein. Er durfte von sich sagen, seinen Eltern nur Freude bereitet zu haben. Er sah seine Eltern als vollkommene Menschen an, die durch Thorheiten zu betrüben, ihn beschämt hätte. Er war ehrgeizig vor den Eltern gewesen; sie sollten stolz auf ihn sein, ihn loben und lieben. Ihre Freude an ihm war seine Lebenssonne gewesen. Und nun, wo er kein Kind mehr war, wo er als Mann mit den Eigenrechten der Persönlichkeit seinem Vater gegenüberstand, nun fühlte er sich schon durch den bloßen Umstand bis zur aufkeimenden Feindschaft beeinträchtigt, daß auch sein Vater solche Eigenrechte noch beanspruchte?

Und fühlte er sich nicht im stärkern Recht, bloß kraft des brutalen Umstandes der größern Jugend?

Pochte nicht er im Grunde nur auf einen Geburtsschein, auf äußerliche Daten, während der Vater auf erprobte, wertvolle Charaktereigenschaften pochen durfte? Das heißt, er pochte gar nicht. Er stand da, kraftvoll und fest und leuchtend in der Sicherheit seines Rechts. Und Hartard selbst kam sich vor, wie jemand, der widerrechtlich und heimlich an die Wurzeln eines stolzen Baumes herangräbt.

Ob dies wohl allgemein und menschlich war, daß erwachsene Kinder die Jugendfrische ihrer Eltern als ein Hindernis eigner Lebensentfaltung empfinden? Vielleicht immer da, wo diese Lebens- und Kraftentfaltung nur auf demselben Gebiet sich bethätigen kann.

Welche Geheimnisse auch in reinen Herzen, welche Untiefen, dicht neben der heiligsten Liebe!

Unten rührte sich etwas. Es schien, als öffne man die große Eingangsthür.

Richtig, da schritt sein Vater über den Weg hinweg, in den Gemüsegarten hinein. Deutlich sah Hartard, wie die hohe dunkle Gestalt sich dem Steg drüben näherte und dort niederkauerte. Der Eimer, den sein Vater in der Rechten, die Axt, die er in der Linken getragen, machten sein Geschäft deutlich: er holte Eis.

Dies lenkte Hartards Gedanken wieder plötzlich und mit verzehnfachtem Schreck auf die Erkrankung seiner Mutter.

Kleopha war bei ihr! O, sie würde die Teure pflegen, wie noch nie ein Kranker gepflegt worden war, das wußte er gewiß. Und zugleich wuchs eine Angst in ihm auf, vor der Ansteckungsgefahr. Wie, wenn seine Mutter genas, aber Kleopha erkrankte und starb? Dergleichen kam alle Tage vor – –

Ihm war, als müsse diese Nacht ihn noch verrückt machen.

Einmal schlich er hinab. Er fand seinen Vater weder im Eßzimmer noch im Bett. Er war also bei der Kranken, wachte mit Kleopha zusammen – treu und hingebend wie immer. Er horchte an der Thür. Ihm war, als höre er rasselnde Atemzüge. Vielleicht waren es auch nur Geräusche in seinem Ohr. Er sagte sich: wenn Gefahr ist, werden sie mich rufen.

Dann versuchte er zu schlafen. Als es nicht ging, dachte er an lauter frohe, gute Dinge.

Während dieser Krankheit lernte seine Mutter Kleopha noch mehr würdigen und lieben, so sehr, daß sie in Freudenthränen ausbrechen würde, wenn sie hörte, Kleopha werde ihre Tochter. Auch der Vater stimmte freudig bei aus Dankbarkeit, denn Kleophas Pflege rettete seiner Frau das Leben. Nun schien es Hartard, als sei diese Krankheit vom Himmel geschickt, um seiner Geliebten die Herzen seiner Eltern zu öffnen. Seine Phantasie eilte immer weiter und langte schnell bei der Gestaltung des künftigen gemeinsamen Lebens an.

Natürlich konnte Kleopha später die Pflege seiner Mutter mit ihrer Sachkenntnis wohl überwachen, aber nicht mehr selbst besorgen. Man würde eine andre Pflegerin nehmen. Für Kleophas Bruder zu sorgen, war seine Pflicht, niemals würde er den kleinen Burschen, den er schon im voraus lieb hatte, der Sorge des Grafen Lehben-Reineck überlassen. Das verboten sein Herz und seine Ehre als Fronhofen. Auch für seine Mama konnte der junge Berthold eine Quelle der Freude und neuer Interessen werden, bis einmal eine Schar von Enkeln um ihr Lager sich tummeln werde.

Und mitten hinein in dies reichbewegte Zukunftsbild schrie sein Gedächtnis ein schnödes zerstörendes Wort. Das Wort »Geld«. Einen solchen Hausstand, mit so verzweigten Ansprüchen konnte Rethen nicht erhalten, solange eine immer Kranke einer so verschwenderischen Pflege bedurfte.

Sein Vater hatte die arme Frau an ein nahezu fürstliches Leben gewöhnt. Welche Liebe! Liebe?

Hartard fühlte, daß sein Glück ihm die Blicke heller gemacht. Da er nun mit ganzer Seele und mit allen Sinnen liebte und begehrte, konnte er nicht fassen, wie sein Vater diese Ehe ertragen hatte, deren ganzer Inhalt doch Entsagung hieß.

So ging ihm die Nacht hin. Aber vor lauter fiebrischer Unruhe fühlte er am Morgen gar nicht, daß er nicht geschlafen habe.

Er durfte an das Bett seiner Mutter treten.

Sie schien ihn zu erkennen, drückte ihm die Hand und schloß dann sogleich die Augen. Im Zimmer herrschten Terpentindünste. Die obern Fensterflügel standen auf, es war recht kalt im Zimmer, und Kleopha hatte ihr Jackett an.

Hartard nahm ihre Hand und preßte sie heftig. Er konnte nicht beherrscht bleiben. Die Angst um die Mutter und um das, was der Geliebten durch die Krankheit aufgebürdet ward, quälte ihn zu sehr. Aber ehe er noch einige Worte, die ihm auf den Lippen brannten, flüstern konnte, trat gerade sein Vater ein.

Die Kranke mußte ihn wohl am Schritt erkennen. Sie öffnete die Augen wieder und lächelte ein wenig.

Albrecht beugte sich über das Bett und sagte mit seiner zuversichtlichen, tönenden Stimme, deren beruhigende Kraft auch der Sohn mit Erstaunen empfand:

»Heut morgen geht's schon besser. Wir sind über den Berg. In zwei Tagen können wir Weihnacht nachfeiern.«

Sie machte eine Bewegung mit den Augenlidern. Man sah ihr an: es war ein gläubiges »ja«, was in ihrem Ausdruck lag.

»Und Alexandra wird binnen einer Stunde hier sein,« fuhr er fort.

Hartard hatte eine widrige Empfindung. Kaum graute draußen der Tag. Eben war es sieben Uhr. Und schon war ein Bote zwischen seinem Vater und Alexandra hin- und hergegangen?! Beinahe heftig sprach er:

»War es so eilig, sie zu benachrichtigen?«

Etwas erstaunt sah Albrecht sich nach seinem Sohn um.

»Mama hat diese Nacht dreimal gefragt, warum Alexandra noch nicht käme? Ich habe um fünf Uhr Löbell hinüberfahren lassen.«

Hartard schwieg und ging hinaus.

Er fühlte sich unglücklich und überflüssig. Selbst in diesen schweren Stunden vollkommen überflüssig in seinem Vaterhaus.

Er dachte daran, Zwota zu holen. Aber der Pastor war heut und morgen sehr beschäftigt, es war Weihnachtszeit.

So mußte er sein Bedürfnis, sich mit irgend jemand auszusprechen, niederkämpfen.

Er quälte sich zwei, drei Stunden mit Lektüre in seinem Zimmer hin. Er sah ganz genau, daß Alexandra vorfuhr, aber er wollte sie nicht begrüßen. Ihm war, als müsse er hart gegen sie werden, als würde er sich hinreißen lassen, gegen seinen Vater eine Ungehörigkeit zu begehen. Und warum? Auf bloße Empfindungen hin?

Die gärende Unruhe seines Innern wuchs bis zur Verzweiflung.

Endlich glaubte er, das Geräusch eines abfahrenden Schlittens zu hören. Silbernes Geklingel verschwebte in der Luft. Eine Thür fiel dumpf zu.

Er wollte hinab gehen und blieb auf den obersten Stufen der Treppe stehen. Seine Kniee bebten, sein Herz klopfte. Da unten standen sein Vater und Alexandra und besprachen sich.

Das Treppengeländer endete in einer viereckigen Holzsäule, deren obere Platte eine Lampe trug. Albrecht stand an dies Geländer gelehnt und hatte den Ellenbogen gerade in den Winkel gestemmt, wo das Geländer an die Säule stieß. Alexandra stand vor ihm, das Gesicht in ihrem Taschentuch verborgen. Sie weinte leise.

»Nein,« sagte Albrecht mit fast tonloser Stimme, »es kann, es wird nicht sein. Sie lebt so gern. Sie ist so zufrieden. Gott wird ihr das Leben lassen.«

»Was hätte auch sonst das unsrige noch für einen Zweck?« sprach sie weinend. »Wir wußten es gar nicht anders, als daß sie der Mittelpunkt war, für alles, was wir thaten und dachten.«

Sie schwiegen.

Albrecht nahm ihre Rechte. So standen sie still, und Alexandra schien leiser zu weinen.

Bleich und stumm kam Hartard nun vollends die Treppe herab. Er kam sich wie ein Unwürdiger vor, der diese beiden Edlen mit seinen Gedanken beleidigt hatte.

»Der Doktor war eben hier,« sprach Albrecht, als er den Sohn die Treppe herabkommen sah.

»Nun und ...«

»Wir müssen uns auf alles gefaßt machen.«

»O Gott!« stöhnte Hartard.

Da trat Alexandra an ihn heran und nahm seinen Kopf zwischen ihre beiden Hände, wie sie manchmal gethan, als er noch ein halbwüchsiger Junge war.

Sie sah ihn an, tief und innig.

»Mein armer Junge,« sagte sie mit bebender Stimme, »nicht wahr, wir wollen nicht darauf gefaßt sein! Es ist, als könnte man mit der Kraft des Wunsches das Schicksal aufhalten.«

Sie sprach seine drängenden Gedanken aus. »Nein, Ma darf nicht sterben,« murmelte er.

Die Tage und Nächte vergingen. Sie hatten für Vater und Sohn jede Unterscheidung verloren.

Jeden Morgen, noch vor Tagesanbruch, wenn das blasse Sonnenlicht durch den Frühnebel sich mühsam kämpfte und der Himmel noch nicht mit der Farbe leuchtender Bläue durchsogen war, jeden Morgen kam Alexandra. Sie half Kleopha bei der Pflege und sorgte dafür, daß das junge Mädchen täglich einige Stunden schlief.

Wie war Hartard ihr dankbar dafür! Er sah die blassen, abgespannten Züge der Geliebten täglich schärfer werden und konnte nichts für sie thun, als darauf achten, daß sie ordentlich sich ernähre. Es fiel niemandem in diesen Tagen auf, daß er starke Weine herbeitrug und darüber nachdachte, wie man Kleophas Kräfte schone und erhalte. Sein Vater dankte ihm sogar einmal dafür.

»Was sollen wir ohne die beiden Frauen machen?« sagte er. »Schwester Kleopha übertrifft sich selbst. Wenn ich daran denke, daß mir das Mädchen vor ein paar Monaten gestand, Hospitalgerüche und Hospitalschrecken seien ihr fürchterlich, so muß ich nun doppelt ihre beispiellose Hingabe bewundern.«

»Sie wird Mama eben sehr, sehr lieb gewonnen haben,« meinte Hartard, und er kam sich einen Augenblick ordentlich glücklich vor.

Selten nur gelang es ihm, einige Worte mit Kleopha zu wechseln. Sie waren fast nie allein oder nur auf knappste Minuten.

Einmal flüsterte sie ihm zu:

»Benachrichtige Berthold, daß ich ihm in diesen Tagen nicht schreiben kann. Er ist gewöhnt, alle acht Tage einen Brief zu bekommen.«

Das war ein beglückender Auftrag. Hartard setzte sich hin und schrieb an den Kadetten einen langen Brief, der im Grunde nichts war wie eine einzige Lobeshymne auf Kleopha. Wenn Berthold ein heller Junge war, mußte er bemerken, daß der Schreiber seine Schwester anbete.

Auf den Nachbargütern wurde es bekannt, daß Frau von Fronhofen lebensgefährlich erkrankt sei. Boten kamen und fragten nach dem Stande der Dinge. Zwota sprach täglich vor. Und jedermann wandte sich, wenn sein Vater gerade auf dem Wirtschaftshof sich befand oder sonst beschäftigt war, in einer ganz selbstverständlichen Weise an Alexandra. Man mußte den Eindruck haben, als sei sie die Hausfrau. Die Dienstboten fragten sie. Hartard bemerkte mit Erstaunen, daß sie das ganze Getriebe der Rethener Wirtschaft genau kannte und in einer unmerklichen, überlegenen Art zu regeln wußte. Jeder fühlte einen starken klaren Willen über sich.

Alles, was auch nur entfernt für die Bedürfnisse der Kranken in Frage kommen konnte, war vorgesehen und wie von selbst zur Stelle. Wenn der Doktor irgend ein Stärkungs- oder Nährmittel vorschlug, sagte Alexandra: »Wir haben es gestern kommen lassen.«

»›Wir‹ das heißt ›sie‹!« sagte Albrecht dann dankbar.

»Nun ja, Männer können nicht an all diese Dinge denken,« meinte sie dann.

Hartard küßte ihr jeden Tag zehn mal die Hände. Alle seine feindseligen Gedanken waren in einem stürmischen Enthusiasmus untergegangen.

Furcht vor Ansteckung schien Alexandra auch nicht zu kennen. Er hatte sie schon oft vor dem Bett der Kranken knieend gefunden. Die in Atemnot Ringende hatte dann ihre Arme um den Hals der schönen, blühenden Frau geschlungen. Es sah aus, als wolle sie sie mit sich ziehen in den Tod.

Aber er wagte keine Warnung. Er sah wohl, Alexandra dachte nicht an sich.

Er sprach sich einmal mit Zwota darüber aus. Der alte Mann bekam nasse Augen.

»Na ja,« sagte er, »das sind schon Menschen von besonderm Zuschnitt, zwischen die dich das Leben gestellt hat, mein alter Junge. So von fürstlicher Art kann man sagen. Menschen, die Mut haben! Ich mein' nicht bloß den, sich einer Ansteckung auszusetzen, was ich kaum rechne. Höhern Mut. Den höchsten! Na, lassen wir das. Und was deine Mutter anlangt, so glaube ich: sie kommt durch.«

Es schien wirklich, daß Zwota Recht erhalte. Es schien wirklich, als habe die brünstige Gewalt heißer Wünsche eine zwingende Macht besessen.

Eines Morgens erklärte der Arzt, daß alle Erscheinungen zurückgegangen wären. Fieber war ebenfalls nicht mehr vorhanden. Nur eine Schwäche, eine hochgradige Schwäche des Herzens – leider immer eine Folge der greulichen Krankheit.

Und nun stellte es sich heraus, daß die beiden Männer beinahe zu erschöpft waren, um sich zu freuen. Acht Tage tödlicher Sorge hatten sie aufgerieben. Matt und still saßen sie zusammen in der Halle auf der Truhenbank, und in ihrem Ohr lag noch der Nachhall der klingenden Schlittenglocken. Der Arzt war eben fortgefahren.

Hartard hatte das Bedürfnis, zu weinen wie ein Knabe und kämpfte schwer dagegen. Albrecht dachte immer: »Sie lebt so gern – sie lebt so gern.«

Er gönnte ihr dies arme Schattenleben, mit dem sie doch so zufrieden war. Er hätte sein eignes hingegeben, um es ihr zu erhalten.

Die Sonne schien durch die beiden Fenster der Halle und zeichnete auf dem Estrich zwei länglich viereckige gelbe Lichtflächen. Im Kamin brannte ein großes Feuer. Um dunkle, enorme Wurzelkloben lohten die gelben Flammen hinauf zur schwarzen Höhe.

Die Thür des Krankenzimmers öffnete sich. Strahlend in einer scheinbar unzerstörbaren Frische kam Alexandra.

»Christine will euch sehen. Sie ist glücklich. Der Doktor hat ihr gesagt, daß er sehr zufrieden sei,« rief sie.

Auf der Stelle von aller lähmenden Schwerfälligkeit befreit, sprangen sie beide auf.

Drinnen im noch sonnenlosen Zimmer war es gleichwohl licht und festlich freundlich. Die großen Fenster gaben den Ausblick frei auf die blendende, sonnenüberglitzerte Schneelandschaft. Auf einem Tischchen stand ein Korb mit einer Unmenge roter Kamelien. Sie glühten wie warme Lebensfreudigkeit. Alexandra hatte sie heute früh, in Watte und Moos verpackt, mitgebracht, »aus ihrem Treibhaus«.

Christine lag bleich und lang im weißen Bett, mit all ihren steilen Linien und blassen Farben anzuschauen wie ein getöntes Marmorbild.

»Kommt her,« sagte sie mit matter, aber klarer Stimme. »Hat der Doktor es euch auch erklärt?«

Albrecht und sein Sohn traten jeder an eine Seite des Bettes, das man in diesen Tagen herumgeschoben hatte, um die Kranke besser bedienen zu können.

»Jawohl,« sprach Albrecht heiter, »freilich hat er's erklärt: deine Halsentzündung ist gehoben, und in einigen Tagen bist du wieder die Alte.«

Christine war der Meinung, daß sie eine Halsentzündung gehabt habe.

Sie lächelte Albrecht an.

»Daß man von so etwas so krank sein kann,« sprach sie. »Lacht mich nicht aus, aber ein paarmal dachte ich, ich müßte sterben.«

»Aber Christine!« sagte Albrecht in scheltendem Ton. »Du und sterben! Du hast mehr Widerstandskraft als wir alle.«

Sie sah herum. Ihr Gesicht strahlte in einer tiefen und glücklichen Befriedigung.

Da standen ihr Sohn und ihr Gatte. Da standen am Fußende des Bettes die treue Freundin und die treue Pflegerin. Und alle lächelten ihr verheißungsvoll zu, als sei sie der Mittelpunkt einer Feier.

»Ja, es wäre auch noch zu früh für mich gewesen,« fuhr sie fort und tastete mit schwachen Fingern nach Hartards Hand. »Eben habe ich meinen Jungen wieder. Und ich weiß auch gar nicht, warum ich mir den Tod wünschen sollte. Ich bin sehr, sehr glücklich gewesen. Mein Glück ist ja anders wie das anderer Frauen. Aber Glück ist es doch. Das dank ich dir, Albrecht – ja dir vor allem.«

»Rege dich nicht auf. Sprich nicht so viel,« flehte er.

Aber Christine war befriedigt, endlich wieder ein paar Worte sprechen zu können und zu dürfen.

»Ich danke euch allen, allen,« sprach sie weiter. »Dir, Hartard. Ich weiß wohl, du hast so viel mitgewacht nachts. O, ich habe immer alles gemerkt. Nur manchmal war es so komisch. Da kam es mir vor, als wenn der Ofen sich gegen mich verbeugte und Zwotas Gesicht habe.«

»Das war im Fieber, gnädige Frau. Es ist nun gottlob vorüber,« sagte Kleopha sanft.

»Ach, und dir danke ich, Alexandra. Ich kann ja seit unendlichen Jahren nichts thun, als dir immer danken.«

Ihre Stimme bebte vor Rührung. Alexandra drohte ihr scherzhaft.

»Willst du wohl schweigen! Thätest du mir nicht dasselbe? Aber doch ganz gewiß.«

»Und Ihnen danke ich, Schwester,« sprach Christine, die sich wie von einem beseligenden Überschwang getragen fühlte und ihre hohen Empfindungen um jeden Preis mitteilen mußte. »Ihnen danke ich am allermeisten. Wißt ihr, Schwester Kleopha hat sich für mich aufgeopfert. Ich bin ihr Dank schuldig, so viel wie man gar nicht sagen kann. Schwester Kleopha, ich habe Sie so lieb gewonnen, daß Sie uns nie mehr verlassen dürfen.«

Kleopha errötete.

Hartard meinte, vor Freude die Beherrschung verlieren zu müssen. Er streichelte seiner Mutter zärtlich die schmalen blassen Finger. »Ich werde es sagen,« dachte er, »jetzt und gleich!«

Aber Christine war von der nervösen Sucht befallen, zu sprechen, zu sprechen. Das unüberwindliche Bedürfnis kam ihr ja oft – man konnte die Wiederkehr desselben vielleicht für ein Zeichen sicherer Genesung nehmen.

»Ich glaube, Lexe, du schwindelst mit all den Prachtblumen, die du immer aus deinem Treibhaus haben willst. Seit wann wachsen da denn so viel geruchlose, für ein Krankenzimmer geeignete herrliche Sachen? Jeden Tag was andres,« fuhr sie unaufhaltsam fort. »Denke dir, ich hatte einen stillen Aberglauben an deine Blumen geknüpft. Jeden Morgen wenn du kamst, sah ich auf deine Hände: ›Bringt sie mir bunte, leb' ich, bringt sie mir weiße, sterb' ich‹, dachte ich. Und du hast immer lila oder gelbe oder rote gebracht.«

»Aber du mußt nun schweigen!« befahl Albrecht.

»Gleich. Ganz gewiß gleich. Aber bleib hier. Dann verspreche ich zu schweigen. Ach Gott, und Schwester Kleopha hat wieder noch nicht gefrühstückt. Schwester, gehen Sie, die Meinen bleiben bei mir. Von nun an quäle ich Sie auch nicht mehr so viel.«

»Sie haben mich gar nicht gequält, gnädige Frau,« sprach Kleopha leise. »Sie waren immer noch rücksichtsvoll für andre.«

»Wirklich?« meinte Christine und nahm dies Lob mit naiver Freude gern hin. »Ich fürchte oft, dieses ewige Kranksein hat mich zur Egoistin gemacht.«

»Aber gar nicht, mein Herzchen,« behauptete Alexandra, und Albrecht lächelte nachsichtig.

»Kommen Sie,« sagte Hartard, »Mama wird böse werden, wenn Sie nun nicht an sich denken.«

Er öffnete einfach die Thür vor Kleopha und folgte ihr. Es war ihm gleichgültig, ob seine Eltern es auffallend finden konnten. Er mußte mit ihr sprechen, jetzt gleich.

Kaum waren sie im Eßzimmer, so riß Hartard die Geliebte in seine Arme und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen.

Sie entrang sich ihm mit Gewalt.

»Was thust du, was wagst du!« rief sie mit zitternder Stimme.

»Ich danke dir, für alles, was du Mama gethan.«

»Und setzst mich dabei der Gefahr einer Mißdeutung aus,« sprach sie beinahe zornig.

»Nein! Der Augenblick ist gekommen, die Wahrheit zu sagen,« rief er jubelnd. »Du hast es gehört, Mama liebt dich, sie will dich nie mehr von sich lassen, sie glaubt dir ewigen Dank zu schulden. Laß uns gleich vor sie hintreten und ihren Segen erbitten.«

Kleopha faltete die Hände und hob sie bittend zu ihm empor.

»Und die äußern Verhältnisse? Haben sich die geändert? Glaubst du, sie würden deine Eltern weniger aufregen, weil die Gefühle sich vertieft haben, die sie mir schenken? Glaubst du, daß deine Mutter sich nicht, gar nicht erschrecken würde!«

Ihre dunklen Augen sahen ihn beschwörend an.

Sein hoher Mut sank schon in sich zusammen.

»Es ist wahr. Im Grunde genommen ist die Lage dieselbe. Aber sie kann sich doch leichter klären, weil Mama dich liebt, Papa dich achtet.«

»Ganz gewiß. Aber erst laß Mama aus aller Gefahr sein.«

»Ist sie es denn nicht?« rief er entsetzt.

»O doch – die eigentliche Krankheit ist ja vorbei – nur die Herzschwäche,« sagte Kleopha ausweichend, »aber darüber werden wir schon durch Schonung und Pflege hinwegkommen.«

»So sehe ich wohl, daß ich noch schweigen muß,« sprach er niedergeschlagen.

»Ich würde dich bitten, vertraue dich deinem Vater an,« begann sie nach einer Pause des Nachdenkens, »aber wenn er unserm Bund nicht zustimmen will, würde dadurch eine peinliche Lage geschaffen, die mich zwänge, Rethen zu verlassen. Und in diesem Augenblick darf deine Mama die Pflegerin nicht wechseln, ohne Schaden davon zu haben.«

Er nahm ihre Hand, er zog mit sanfter Gebärde und bittender Miene die ganze liebe, sich ihm nun doch willig zuneigende Gestalt an sich.

»Du denkst mehr an Mama als an mich,« sagte er mit einem Vorwurf, der von Liebe und Dankbarkeit durchglüht war.

»O Hartard – deine Mutter ...«

Er küßte ihre Lippen. Und auch sie vergaß Strenge und Vorsicht.

Das Recht ihrer Liebe siegte. Sie waren glücklich und wagten einige Minuten an ihr Glück zu glauben.

Am Abend dieses Tages sagte Albrecht sich behaglich dehnend: »Heut nacht kann man mal endlich wieder in Frieden schlafen. Das waren harte Tage.«

Hartard sah es seinem Vater an, daß sie ihn mitgenommen hatten. Er schien etwas hagerer geworden, und seine Farben waren fahl. Das griff ihm ans Herz. Er machte eine liebevoll besorgte Bemerkung darüber. Albrecht lächelte. Aber es war ein recht melancholisches Lächeln.

»Ja, mein Junge, das ist nun mal mein Los. Ich hab' immer mit etwas anderm zu thun, als wozu ich von Natur aus wohl bestimmt bin. Ich hab' Fäuste zum Dreinschlagen, eine Stirn, um Wände einzurennen. Ich glaub beinah, in mir steckt eigentlich so ein Stück von einem alten Ritter, der sich mit dem Schwert Leben und Liebe erobert. Und ganz unversehens hat das Schicksal aus mir einen stillen Lastträger gemacht. Aber siehst du, das wäre nun kein Kunststück, ein rechter Mensch zu sein, wenn man auf seinem rechten Fleck stände! Aber auf falschem Boden stehen und dennoch aus sich machen, was man kann – da scheint mir auch Moral drin zu stecken.«

Hartard dachte in seinem Bett noch lange über seines Vaters Worte nach. Ihm lag darin auch eine Mahnung, sich seiner eignen schiefen Lage nicht länger in unzufriedener Beschaulichkeit hinzugeben. Er war glücklich, zur Versöhnlichkeit gestimmt und voller Hoffnungen.

»Im Grunde liegt es so: ich fühlte mich lediglich als Erbe von Fronhofen. Will man heute Junker sein, muß man große Mittel haben. Sonst ist es eine Albernheit. Warum soll nicht der Majoratsherr von Rethen für sein Brot arbeiten? Von dem Taschengeld, welches Papa mir gibt und welches der Zulage entspricht, die ich als Offizier von ihm bekommen haben würde, kann ich keine Familie gründen. Es muß und wird mir gelingen, eine Stellung zu finden.«

Und weil er im Augenblick gute und klare Gedanken hatte, glaubte er am Ende aller Kämpfe zu stehen, und sah dem morgenden Tag wie einem Glücksereignis entgegen. Er wollte mit seinem Vater sprechen. War der erste Schritt zur Lösung der Existenzfrage gethan, konnte der zweite Schritt, die Bitte um die Einwilligung zu dem Bündnis mit Kleopha bald folgen.

Trotz all den fröhlichen Empfindungen wollte ihm der Schlaf nicht kommen. Die Stunden schlichen. Eine unerträgliche Unruhe peinigte ihn. Mehrmals machte er Licht und sah nach der Uhr. Eins. Dann halb drei. Dann drei Uhr.

Wenn es nur draußen nicht so unerträglich totenhaft ruhig gewesen wäre. Wenn nur einmal, wie in den nächtigen Straßen der Stadt, ein Wagen vorbeigerasselt käme oder ein hallender Schritt davon Kunde gegeben hätte, daß es noch lebende Wesen außer ihm, dem einsam Wachenden, gäbe.

Endlich stand er auf und sah hinaus. Kein Stern. Selbst das Schneegebreite schimmerte nicht in jener Helle, die es unter klarem Himmel auch nachts ausdämmert. Schweres Gewölk mußte die Höhe verhüllen.

Er ging wieder zu Bett und machte nach drei Minuten wieder Licht. Ein heulender Klageton war durch die Luft gegangen. Ein zweiter folgte und endete in einem kurzen Gebell.

Was hatten die Hunde?

Vielleicht strich ein wildes Kaninchen vorbei.

Sie waren wieder still.

Aber Hartard kleidete sich an. Ein nervöser Kälteschauer lief ihm den Rücken entlang. Ein unwiderstehliches Gefühl trieb ihn an, hinab zu gehen, an der Thür zu horchen, hinter welcher seine Mutter schlief und die Geliebte wachte.

Leise, leise schlich sein Fuß, und seine Hand, die das Licht hielt, zitterte.

Als er, ohne daß auch nur eine Stufe geknarrt hätte, schon auf die untere Hälfte der Treppe gelangt war, schrak er zusammen. Aus seines Vaters Thür, dicht am Fuß der Treppe, quoll ein Lichtschein. Leise ward die Thür geöffnet, sein Vater erschien auf der Schwelle.

Mit großen Augen sahen sich die Männer an, jeder beim Anblick des andern einen peinlichen Schreck empfindend.

Sie atmeten schwer und mußten doch stumm bleiben.

Sie begriffen sofort: die gleiche quälende Unruhe hatte sie von ihrem Lager aufgescheucht, und in ihrem Herzen erwuchs eine abergläubische Furcht.

Sie schlichen, die kalten Finger ineinandergepreßt, Hand in Hand bis zur Thür der Genesenden.

Mit gierigem Ohr horchten sie.

Drinnen kein Laut, kein einziger. Albrecht war der erste, der sich freimachte von dem bangen Zwang. Er schlich zurück und winkte dem Sohn, ihm zu folgen.

Erst als sie in Albrechts Stube waren und die Thür hinter sich geschlossen hatten, wagten sie zu flüstern.

Albrecht saß auf dem Rand seines zerwühlten Bettes, Hartard hockte auf der Chaiselongue. Auf dem Nachttischchen brannte rauchend das Licht und ließ an der einen Seite schwere Tropfen wie eine entstellende Geschwulst an seiner weißen kleinen Rundsäule niederfließen. In diesem Flackerschein sahen beide Männer in ihrer halbgeordneten Kleidung elend, fast verkommen aus.

»Warum kamst du herunter?« fragte Albrecht.

»Ich weiß nicht. Ich mußte,« sagte Hartard leise und schaudernd.

»Das dumme Hundegeheul hatte Schuld,« meinte Albrecht. »Wir sind eben nervös. So 'n Kraftmensch ist niemand, daß er acht Tage fast ohne Schlaf leben kann, ohne ein bißchen überreizt zu werden.«

»Gewiß,« sagte Hartard.

Dann blieben sie sitzen, stumm und stumpf. Sie dachten nicht daran, daß sie wieder ins Bett gehen müßten.

Draußen war alles wieder still. Und die Stille schlich durch das ganze Haus und legte sich mählich sanft auf die Seelen der beiden Männer. Ihr brütendes Grübeln linderte sich in Müdigkeit. Dem einen fielen beinahe die Augen zu, der andre gähnte. Und doch saßen sie zwecklos und froren und waren nicht imstande, sich zu erheben.

Mit einemmal schraken sie auf und wurden ganz wach mit allen Sinnen.

Das klagende Hundegeheul scholl wieder durch die Nacht. Das Tier mußte hart unter dem Fenster der Stube vorbeistreichen. Denn in erschreckender Nähe klang der Mißton schaurig durch das Dunkel.

Eine widrige Empfindung bedrückte Albrecht. Hartard bekam rasendes Herzklopfen.

Aber sie wollten es beide abschütteln, was ihr Gemüt so rätselvoll beklemmte.

»Komm,« sagte Albrecht, »laß uns schlafen gehen. Dies Herumsitzen ist thöricht. Geh hinauf oder streck dich auf die Chaiselongue. Da hast du ein Kissen.«

Er warf ihm eines aus seinem Bett hinüber.

Sie wollten und mußten beisammen bleiben, das fühlten sie beide.

Und dann erschraken sie zum andernmal. Aber jetzt stürzten sie hinaus – hinüber.

Ein fürchterlicher Ruf war durch das Haus gegellt.

»Hilfe – Hilfe.«

Die Thür des Krankenzimmers stand weit geöffnet, und drinnen warf sich gerade Kleopha wieder über das Bett, um an dem Herzen zu horchen, das nicht mehr schlug. –


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