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Achtes Kapitel


Später konnte sich Hartard niemals besinnen, was nach diesem schrecklichen Augenblick alles geschehen war. Er hatte nur eine dumpfe Erinnerung an verworrenen Lärm, an Lichter, die durch die Nacht getragen wurden, an ein Kommen und Gehen, an Schreie, Thränen, Klagen. Und daß es endlich feierlich still im Hause geworden war, als der Tag anbrach und der Arzt davon gefahren war, der nur noch den Tod bestätigen konnte.

Den Tod!

Ganz sanft war sie eingeschlafen. Kleopha bewachte ihren Schlummer, der etwas schwerer und fester schien als sonst. Wie immer seit der Erkrankung hörte sich die Atmung etwas rasselnd an. Aber friedvoll waren die edlen Züge, und kein Zucken des Gesichts, keine Bewegung der Hände deutete auf irgend eine Not. Dann flog es wie ein Schatten über das Antlitz. Die Brust hob sich nicht mehr. Schlafend war sie erlöst, schlafend, leise, hatte sich die Sanfte aus der Welt geschlichen. –

Die sie zurückließ, waren fassungslos. Dreiundzwanzig Jahre lang war die Gelähmte der Mittelpunkt ihres Lebens gewesen. Das Dasein aller schien zunächst zwecklos, weil der Mittelpunkt nun fehlte.

Und seit dreiundzwanzig Jahren hatte der Arzt, hatten alle Menschen zahllose Geschichten gewußt von Fällen, wo ein so Leidender alle seine gesunden Familienmitglieder überlebt habe. Es war wie eine Legende, wie eine ganz naive, selbstverständliche Annahme gewesen, daß Christine sehr alt werden würde. Ja, man sprach sogar oft davon, daß sie um ihr fünfzigstes Lebensjahr herum wohl gar noch von ihrer Lähmung geheilt werden könne.

Nun war sie tot! Sie, die noch gestern gesagt hatte: »Ich lebe gern. Ich bin sehr glücklich gewesen.«

Hartard hörte dieses Wort immer und immer in seinem Ohr nachklingen. »Ich bin sehr glücklich gewesen!«

Kraft wessen stiller Größe?!

O, es brauchte keiner Antwort! Hartard hing am Halse seines Vaters und stammelte weinend: »Dir dank ich, – dir – für alles, was du ihr gethan.«

Albrecht war totenbleich, ein eherner Ernst lag auf seiner Stirn. Es war, als gehe eine besondere Würde und Festigkeit von ihm aus, die den Sohn mit Ehrfurcht erfüllte.

Und alle Geschäfte, die der Tod mit sich bringt, ordnete er selbst an. Dazwischen saß er stundenlang am Bette der Verblichenen, wie er zu ihren Lebzeiten gethan.

Sie hatte es immer gefordert und war immer glücklich gewesen über seine Gegenwart. Es war, als wolle er sie ihr auch jetzt noch schenken, da sie kein Bewußtsein mehr davon hatte. Treu bis zuletzt. Ergeben, bis an die Schwelle des Grabes.

Und am Bett der Stillen saß er auch, als man ihm den ersten Besuch meldete: Alexandra. Sein Sohn sagte es ihm, daß sie da sei.

Er erhob sich. Hochaufgerichtet blieb er neben dem Lager stehen.

»Alexandra wird sie sehen wollen,« sprach er.

Das war so natürlich. Aber Hartard wußte nicht, wie ihm geschah. Sein Herz klopfte. Er hätte gewünscht, zugegen bleiben zu dürfen, und fühlte doch, daß er sie allein lassen müsse.

Aber das sah er doch noch, daß sein Vater unbeweglich neben der Toten stehen blieb, daß Alexandra, bleich wie eine Tote selbst, auf ihn zuschritt, und daß sein Vater sich tief über ihre Hand neigte – so ernst, so ritterlich. – – Und er sah noch, daß Alexandra dann aufweinend neben dem Bett in die Kniee fiel.

Draußen fand er Frau von Stechow, die sich eben von Kleopha den Hergang der letzten Nacht erzählen ließ. Frau von Stechow war sehr ernst und ihre Haltung ganz so, wie man sie fordern mußte.

Und dennoch schien es Hartard, als hätte sie mehr Trauer, mehr Teilnahme zeigen müssen. Ihn kränkte ihre Fassung. Er wollte Thränen sehen. Er meinte, alle Menschen müßten mitweinen. Es war das erste Mal, daß der Tod in seinen Gesichtskreis trat. Er glaubte, es sei ein so furchtbares, ein so noch nie dagewesenes Geschehnis, daß es jedermann aus allem Gleichgewicht bringen müsse. Daß Frau von Stechow gefaßt, sehr gefaßt schien, ließ ein feindseliges Gefühl gegen sie in Hartards Herzen aufkeimen.

Er konnte sich nicht überwinden, sich an dem Gespräch zu beteiligen. In seines Vaters Wohnstube saß er neben den Frauen und hörte grollend zu. Er war auch böse, daß Kleopha sprechen müsse. Sie war so blaß, so vollkommen überangestrengt, daß er sich ängstigte. Er nahm sich vor, alle Besuche abweisen zu lassen und darüber zu wachen, daß Kleopha nun Ruhe bekomme. Da schlugen Worte an sein Ohr, die ihn entsetzten.

»Und Sie, liebe Schwester,« fragte Frau von Stechow in ihrer abgemessenen und doch gütigen Art, »verlassen Sie schon heute Rethen?«

»Ich – ich – nein,« stammelte Kleopha. Dann aber suchte sie sich zu fassen. »Ich kehre selbstredend so bald als möglich nach Berlin zurück und bin sicher, daß die Gräfin Klingsberg mich gleich anstellen wird, wenn es irgend geht, oder wenigstens mich zunächst bei sich aufnimmt. Aber von dem Bett einer Diphtheritiskranken darf ich unmöglich sofort in eine Anstalt übersiedeln. Das ist verboten und wäre frevelhaft. Ich hoffe, daß Herr von Fronhofen mir die nötigen acht Tage noch gestattet zu bleiben.«

Da begriff Hartard die neue Situation. Sie mußte nun fort. Natürlich. Aber er hatte noch gar nicht daran gedacht.

Er durfte keine Stunde mehr zögern. Heute noch wollte er seinem Vater sagen, daß er Kleopha liebe. In Thränen und Leid, am Sarge der Mutter wollte er sich den Segen des Vaters holen. Und würde der ihn jetzt nicht, aus kummerschwerem Herzen, ergriffen geben? Brachte dieser Bund nicht gleich in die tiefsten Leidensstunden die tröstliche Verheißung lichtvoller Zukunftsstunden?

Das Haus war leer und verwaist. Sogar die treue Dora ging weinend umher und jammerte: sie habe gar nichts mehr zu thun.

Sein junges Weib würde die Freude und das Leben wieder bringen.

Und bis zu der heiligen Stunde konnten Alexandra und ihre Mutter seine Braut bei sich aufnehmen.

Sie würden es thun. Denn sie hatten Christine geliebt.

Alexandra kam und holte ihre Mutter. Sie drückte Hartard nur hastig die Hand. Man sah, es wollte kein Wort von ihren Lippen. Ihr Gesicht war von Thränen überwaschen. Ihre Augen rot. Kaum hielt sie sich aufrecht.

Sein Vater aber blieb unsichtbar, auch noch als die beiden Frauen fortgefahren waren.

Am Bette der Toten, das fühlte Hartard wohl, durfte er die ersten Worte nicht sprechen. Da durfte nur die Weihe, nicht der Kampf stattfinden.

Und er dankte dem Zufall auch für die ruhigen Minuten mit Kleopha. Ihm brach nun erst sein Gram in ganzer Größe auf. Das Haupt an ihrer Schulter, beweinte er seine Mutter. Und sie, von Mitleid mit ihm erschüttert, vor Abspannung fast zerbrochen, von dem Anblick des Todes fürchterlich erregt, weinte mit ihm.

Dora kam und störte sie auf. Sie dachten beide nicht daran, daß ihre gemeinsamen Thränen, daß ihre Haltung mißdeutet werden könne.

Löbell sei schon vorhin dagewesen, sie habe bloß nicht stören wollen wegen Frau von Stechow. Das Trauergeschirr in der Geschirrkammer sei nicht im besten Stande, Löbell meine, ob er das silberne mit Flor überziehen dürfe.

Mit einem schweren Seufzer erhob sich Hartard.

Draußen ging ein leiser Nebel nieder und verdichtete sich zum Sprühregen. Das Schneegefilde sah glasig aus. Auf dem Wege war es schon braun und breiig. Die Luft hatte eine undurchdringliche, zinnerne Farbe. Traurig und jammervoll schien die Welt.

Hartard ging nach dem Wirtschaftshof. Da war es unfroh und schmutzig. All die zahllosen Fußtritte, die den Schnee durchkreuzten, waren schon zu wässerigen, länglichen Flecken geworden, all die Wagen- und Schlittenspuren zu braunem Schmutzgeäder. Eine Schar von Spatzen lärmte vergnügt darin herum.

Quer im Grunde des Hofes, ihn abschließend, lag der Pferdestall, an dem einen Ende von Löbells Wohnung, am andern von der Wagenremise begrenzt. Weit stand das Thor der Remise auf. Aber Hartard ging durch den Stall, von dessen Mittelgang aus auch eine Thür in die Geschirrkammer führte.

Im Stall war es dämmerig, dunstig und warm, und es rumorte darin von all den kleinen, leisen und lauten Geräuschen, die in ihren Verschlägen die angebundenen Pferde verursachten.

Auf dem festen Lehmgang schritt Hartard entlang. Am Ende des Ganges gähnte eine schwarze Öffnung; die Thür, welche in die Geschirrkammer führte, stand offen. Im letzten Verschlage darin hatte Pluto seinen Stand.

Es kam Hartard vor, als dürfe er an dem Tier, das er in glücklicher Stunde für seinen Vater gekauft, nicht so vorbeigehen. Ihm war, als müsse er ihm sein Leid kund thun. Er fühlte sich so elend, so verwaist, so beraubt. Jedes Lebewesen sollte ihm Mitleid geben. Seinen Hund hatte er inniger geliebkost als sonst; ihm kam es vor, als müsse selbst ein unvernünftiges Vieh begreifen, daß etwas Furchtbares geschehen war.

Leise klopfte er dem edlen Tiere die Kruppe. Aufwiehernd und den Kopf wendend dankte es ihm.

Nebenan sprachen Löbell und ein Knecht so laut zusammen, wie Leute bei eifriger Arbeit pflegen, wenn sie mit ihren Stimmen eine gewisse Entfernung überschreien müssen. Wahrscheinlich war der Knecht im zweiten Raum der Remise, während Löbell sich direkt nebenan befand. Aber sie sprachen, als seien sie nicht durch zehn, sondern durch fünfzig Schritte getrennt.

Hartard stand und hörte zu. Müde und zwecklos eigentlich – immer mechanisch das Pferd mit liebkosender Hand streichelnd.

»Wat ik dir sage,« schrie Löbell, »du lackierst den ollen Landauer uff. Drei in eine Kutsche hinter 'n Leiche, dat is nu mal nich.«

»So'n Aberglauben!« rief der Knecht.

»Von Aberglauben is keine Rede. Dat sind Thatsachen. Als der olle Aulendorff bejraben wurde, fuhr Zwota mit den jetzigen und seinem jungen Bruder. Und wat ik dir sage: in 'ne Wochner zehne oder zwölfe war der junge Aulendorff dodt. Also forn'n Pastor und unsern Herrn den neuen Landauer. Der Junker kann mit jemand anders in den zweiten Wagen steigen. Sollst mal sehen, mit den Glanzlack und denn mit det viele Flor krieg'n wir noch n' pumpösen Chik in den ollen Landauer.«

»Der Junker kann ja mit seine künftige Stiefmutter fahren,« sagte der Knecht.

»Willst du dat unjewaschne Maul halten,« schrie Löbell.

»Na, dat wir nu bald die Hörsteler Baronin als Jnädige kriegen, ist woll jewiß,« rief der Knecht.

»Und wenn dat zehnmal jewiß is und wenn sich auch jeder dat denkt, denkt er dat stille bei sich,« schrie Löbell; »zumal in den Momang, wo die Jnädige noch über die Erde steht. Und auf Händen hat er ihr jetragen, da kann ihm keiner was nachsagen.«

Hartard hielt sich mit klammernden Händen an dem Balken des Verschlags.

Seine Lippen bewegten sich – wie bei einem, der etwas rufen will. Sein Mund blieb stumm. Jede Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Fahl und grau sah er aus, und seine Lippen waren blau.

Er atmete mühsam.

Draußen, die beiden rohen Sprechenden schwiegen. Das leise rumorende Geräusch des Stalles ging weiter.

»Ich muß fortgehen,« dachte er und stand doch hilflos still.

»Hier kann ich nicht bleiben.« Und er blieb stehen, betäubt und matt.

Die leisen und traulichen Stallgeräusche hörte er nicht mehr.

Um ihn war ein ungeheures drohendes Schweigen. Er stand allein, in einer fürchterlichen Einsamkeit.

Er lehnte die Stirn gegen den hölzernen Träger, neben welchem er stand, er umfaßte das Holz mit seinen Armen.

Er weinte.

Löbell wollte aus dem Stall etwas holen, erschien auf der Schwelle und trat sofort scheu zurück, heftig hinter sich winkend, daß der Knecht sich nicht rühre. Er hatte den jungen Herrn in einer fassungslosen Haltung gesehen – an der Bewegung der Schultern sah man es: er weinte.

Löbell wurden auch die Augen naß, und sachte putzte er an der silbernen Krone auf einer Lederklappe weiter, obschon sie bereits blank war. Dabei schielte er manchmal zur Thür hin, in der Erwartung, daß der junge Herr sich fassen und doch kommen werde, um Befehle zu geben. Aber Hartard kam nicht. Und als Löbell nach einigen Minuten den Mut faßte, nachzusehen, war niemand mehr im Stall.

Im Schloß suchte jedermann vergebens nach Hartard. Sonst schien es immer, als sei er dort eine völlig überflüssige Persönlichkeit. Aber heute wollte jeder etwas von ihm. Selbst Albrecht hatte Bitten und Fragen auf dem Herzen.

Für den folgenden Tag waren die Besuche der Nachbarn zu erwarten.

Die Ausschmückung des alten Festsaales mit Tannenreisern und Flor mußte angeordnet und überwacht werden.

Hartard hätte nach Hörstel hinüberfahren können, um mit Zwota den Text der Trauerrede zu besprechen. Vielleicht hatte Christine einmal einen besonderen Wunsch gehabt.

Aber Hartard war nicht zu finden.

Auf Albrechts Stirn erschien eine Falte, die von leiser Ungeduld sprach, vielleicht auch von Sorge.

Kleopha übernahm es, die Ausschmückung des Saales anzuordnen und zu beaufsichtigen.

Sie fühlte sich elend, traurig, besorgt. Aber in ihrer ganzen weiblichen Kraft der Selbstüberwindung nahm sie sich zusammen.

Sie gab sich die größte Mühe, nur an die Arbeit der Stunde, nicht aber an ihre und Hartards Lage zu denken. Denn jeder Gedanke darüber mußte sie notwendig zu der Erkenntnis führen, daß ihrer Verbindung mit Hartard nun alle Wege gebahnt seien.

»Die Selbstsucht ist doch etwas Furchtbares,« dachte sie, beinahe über sich selbst entsetzt, »im tiefsten Leid rührt sie sich noch. Wie darf ich, wie kann ich jetzt an uns denken!«

Vielleicht ging es Hartard ebenso. In all seinem Gram fand sich in seiner Seele noch Raum für die Hoffnung, die durch die neugeschaffene Lage ja riesengroß wachsen durfte. Vielleicht war er davongelaufen, nur um nicht zu sprechen.

Mußte es den Gatten, der eben die Frau verloren, nicht peinlich kränken, wenn gerade neben ihm der Sohn an ein eignes Glück dachte, das sich nur auf dies frische Grab aufbauen ließ?

Kleopha nahm sich vor, Hartard zu bitten, daß er noch ein paar Wochen schweige.

Erst in der Dämmerung kam Hartard heim. Er sah leichenblaß aus. Seine Füße und Kleider waren derart beschmutzt und bespritzt, daß man merken mußte: er war stundenlang umhergelaufen, durch Schneeschlamm und Waldtiefen.

Albrecht, der ihm gerade in der Halle begegnete, war tief erschüttert. Er hatte gehofft, sein Sohn werde sich als Mann bewähren. Aber wie verzeihlich, daß gerade der Tod der Mutter den Sohn nicht als gefaßten Mann findet! Albrecht erinnerte sich des Todes seiner Mutter und seines leidenschaftlichen Jammers. Er war freilich damals erst sechzehn Jahr alt gewesen. Aber der Tod einer Mutter – das ist die Stunde, die wohl auch gereifte Männer wieder zu Kindern machen kann.

Seiner Umarmung entzog sich Hartard. »Mir ist nicht wohl,« murmelte er, »ich bitte um Erlaubnis, allein bleiben zu dürfen.«

Und er ging mit tappenden Schritten in sein Zimmer hinauf.

Oben auf dem Flur erschreckte ihn ein dumpfes Hämmern.

Die Thür nach dem großen Festsaal stand auf. –

Drinnen arbeitete im letzten blassen Schein des verschwindenden Tages Baum mit einem Knecht. Kleopha, lange Florstreifen über dem Arm, stand mitten im Raum und sah mit zugekniffenen Augen zu den Männern empor, die auf Leitern standen und Tannenzweige annagelten. Die Spiegel waren schon schwarz verhängt.

Hartard stürzte in sein Zimmer.

Er wollte nichts sehen und nichts hören. Nicht die Hammerschläge, nicht den Flor und das finstere Grün. Er schloß seine Thür hinter sich ab und öffnete sie für niemanden.

Die einzige, die nicht vergebens gepocht haben würde, Kleopha, wagte nicht zu ihm zu kommen.

In dieser Nacht schlief Hartard traumlos, fest und lange. Sein Körper war schwer, sein Hirn betäubt.

Aber am Morgen wachten die Gedanken wieder mit ihm auf.

Und es war etwas so Seltsames, Unheimliches mit diesen Gedanken.

Sie nahten ihm, wie dem physischen Auge sich manchmal eine Gestalt nähert, die man ganz genau zu erkennen meint; aber plötzlich, in greifbarer Nähe sieht man, daß es doch eine andre ist.

Sein Herz bebte vor Empörung über die Roheit, die seines Vaters Namen schon heute mit einem andern Namen zusammen nannte, und zugleich dachte er immer, was er gar nicht denken wollte:

»Wenn es wahr ist, war, wird, wenn ... dann kann ich die Geliebte nie erringen, nie ...«

Er empörte sich gegen sich selbst und seinen Egoismus. Aber indem er sich verachtete, fühlte er es doch:

»Wenn mein Vater meiner Mutter eine Nachfolgerin gibt – kann ich nicht heiraten – ich nicht ...«

Welche gewichtigen Gründe, welche schreienden Beweise mußte man haben, wenn man schon davon sprach, während die Tote noch unbegraben auf der Erde stand.

Er vergaß den Bildungsgrad der Männer, die er belauscht. Er dachte nicht an die naive Nützlichkeitsmoral dieser Leute, die oft nur in einer Frau eine Haushälterin oder ein bißchen Mitgift erwerben und, kaum daß ihnen ein Weib stirbt, bedacht sind, schnell ihrem Herd eine neue Hüterin zu geben.

Er wurde blind und ungerecht. Er hatte nur für Empörung, Verzweiflung und Erbitterung die Seele bereit.

Höhnisch dachte er an das Hamletische:

»Das Gebackene vom Leichenschmaus
Gibt kalte Hochzeitsschüssel.«

Mit seinem Vater zusammenzutreffen, war ihm unmöglich. Er klingelte nach Dora, sagte, er sei krank und wolle allein bleiben.

Natürlich besuchte Albrecht ihn trotzdem sofort. Er fand den Sohn am Fenster sitzend und in den Regen hinausstarrend.

Auf seine liebevollen Fragen wandte Hartard widerwillig das Haupt ab.

»Mein alter Junge,« sagte Albrecht und legte die Hand auf des Sohnes Haar, »ich verstehe und ehre deinen Schmerz. Aber ich glaube, in Mamas Sinn wäre es, wenn du versuchtest, dich etwas zu fassen.«

»In Mamas Sinn?!« schrie Hartard auf. »Ja, in Mamas Sinn ist es, wenn wenigstens ich ihr wahrhaftig nachweine!«

Albrecht trat einen Schritt zurück. Maßloses Erstaunen drückten seine Züge aus. Aber er bezwang sich. Es war doch unmöglich! Sein Sohn, der noch gestern an seinem Halse gehangen und ihm gedankt hatte für alles, was er der Toten gewesen, dieser Sohn konnte nicht die Aufrichtigkeit seines Grames oder die Tiefe desselben bezweifeln wollen.

»Du bist überreizt,« sprach er nachsichtig, »es ist so menschlich und so allgemein: jeder glaubt, sein eignes Leid übertreffe das aller andern.«

Hartard schwieg.

»Wenn du von Mama Abschied nehmen willst,« fuhr Albrecht fort, während seine Stimme bebte, »so mußt du es heute morgen. Wir haben sie schon im Saal aufgebahrt.«

Hartard nickte.

Sachte ging sein Vater hinaus. Einsamkeit mochte das Beste für ein so tödlich verwundetes Herz sein.

Aber da er seinen Sohn beunruhigend elend gefunden hatte und da er wußte, daß fast alle Menschen die Schwäche haben, bei gewissen Seelendispositionen gegen Fremde mitteilsamer, selbstbeherrschter und dankbarer zu sein, als gegen die Nächsten, so bat er Kleopha, doch einmal nach seinem Sohn zu sehen.

Hartard warf sich leidenschaftlich in ihre Arme wie einer, der des Schutzes und Trostes bedarf.

»Ich kann dich meinem Vater nicht als Braut zuführen,« sagte er heiser. »Es geht nicht – noch nicht – wir müssen warten. Zweifle deshalb nicht an mir.«

»Sei doch ruhig,« bat sie traurig, »du zehrst dich ja auf. Denke nicht an mich. Ich habe schon von selbst gedacht, daß wir nun warten müssen. Wie können wir so egoistisch sein, an Glück zu denken, von Glück zu sprechen, während dein Vater so todtraurig ist.«

»Ist er es wirklich – wirklich?« fragte er leise und packte sie fest am Handgelenk.

Kleopha sah erschreckt in seine glühenden Augen.

»Was für eine Frage?« sprach sie erstaunt. »Du zweifelst an deines Vaters Gram? Hast du denn nicht selbst gesehen, was dieser Mann fort und fort für die Kranke that? Ich darf dir sagen, es war beispiellos. Ich habe solche Aufopferung noch nie gesehen. Und dir, dir allein darf ich es wohl sagen: sie war sehr anspruchsvoll, deine arme liebe Mama, sehr – – Ich habe manchmal gedacht, das Leben deines Vaters hätte sich anders und reicher gestaltet, wenn ihm eine gesunde Frau beschieden gewesen wäre oder wenn deine Mama gleich zu Anfang ihrer Leiden gestorben wäre.«

»Nicht wahr – nicht wahr – das wäre eine Erleichterung für ihn gewesen – ihm vielleicht erwünscht ...« rief er fiebernd.

Sie nahm seine Hand.

»Du sagst furchtbare Sachen,« sprach sie milde, »die du nicht weißt und bedenkst. Du bist krank. Du kannst die Dinge nicht objektiv ansehen. Aber ich warne dich davor, gegen deinen Vater ungerecht zu werden.«

»Du weißt nicht ...« sagte er hastig, »es gibt Umstände ... vielleicht ist alles nicht wahr. Dann will ich vor ihm auf den Knieen liegen ... Aber ich muß auf etwas warten – warten ... Wird dich mein Warten nicht an mir zweifeln machen?«

»Nie!« sprach sie mit starker Stimme.

»Komm mit mir zu Mama,« bat er, »nur mit dir zusammen will ich sie noch einmal sehen.«

Schweigend gingen sie hinüber.

Als Hartard über die Schwelle des Raumes trat, fiel aller Zorn, ja beinahe aller Schmerz von ihm ab.

Die heilige Stille, die ihm entgegenwallte fast wie etwas Körperliches, wie eine Gestalt, die feierlich und schweigend schreitet, erdrückte mit ihrer Majestät alle menschliche Leidenschaft.

Und die stumme weiße Frau, die lang und steif, hoch aufgebahrt inmitten lag, erschien wie eine Gebieterin. Ihr starres Schweigen forderte wieder Schweigen. Ihre hoheitsvolle Ruhe bebende Ehrfurcht.

Lichter brannten, ihre zahlreichen rotgelben Lichtpünktchen standen wie Goldgestein vor grünem und schwarzem Grunde.

Es war ein Duft wie bei einem Weihnachtsfest, aber daneben noch ein andrer Geruch, der süßlich und durchdringend dem Atem der Tannen und Wachskerzen beigemischt war.

Hartard stand an dem hohen Sarge, von dessen Rand schwarzer Stoff bis auf den Estrich niederwallte und gegen den schon Kränze lehnten.

Er sah seine Mutter an.

Ihm war, als könne das nicht seine Mutter sein. Das kindliche Lächeln, das ihr Reiz und ihre Anmut gewesen, war fortgewischt. Die harte Hand des Todes war über ihre Züge gefahren und hatte sie umgeformt. Nun waren sie schön und streng und erbarmungslos. Mehr zum Fürchten als zum Lieben.

Das Leben hatte das Angesicht seiner Mutter nicht zeichnen können. Sie war ein großes Kind geblieben in ihrer Krankenstube. Aber der Tod hatte es gezeichnet.

Auf den Kissen ihres Bettes lag ein lächelndes, unberührtes, fragendes, vertrauendes, bittendes Gesicht.

Hier auf dem Kissen des letzten Lagers lag ein hartes, herrisches, stolzes Antlitz.

Wie seltsam! Wäre so ihr Ausdruck geworden, wenn sie im Kampf des Daseins hätte stehen müssen?

Er legte die Hand über die Augen.

Kleopha stand neben ihm. Sie schien zu beten, ihr Haupt war geneigt, ihre Hände gefaltet.

Plötzlich griff er nach einer dieser Hände. »Wie ist sie verändert!« flüsterte er bang.

»Das kommt dir nur so vor,« sprach sie leise, »es sind dieselben, edlen, teuren Züge. Der Ausdruck im Angesicht eines Entschlafenen – das ist Zufall – das erklär' ich dir später einmal.«

Er fühlte sich erleichtert, beinahe beglückt. Und auf einmal bildete er sich ein, die Strenge käme nur von der Starre – er habe in dieses geliebte Gesicht Züge hineingesehen, die nicht dastanden.

»Mama,« flüsterte er, »könntest du uns segnen!«

Sie drückten sich fest die Hände und sahen sich tief und lange an. So schlossen sie schweigend im Angesicht der Toten noch einmal ihren Bund.

Und sie gingen hinweg mit dem Gefühl, den Segen der Mutter empfangen zu haben.

Am andern Morgen, um neun Uhr, begann die Trauerfeier. Alle Gutsnachbarn kamen gefahren, die Männer und Frauen aus den Rethener Tagelöhnerhäusern schlichen sich frühzeitig schon in die Halle.

Dieses Kommen und Drängen und Wühlen von Menschen war beiden Männern furchtbar. Aber sie wußten, daß es ihre Pflicht war, mit ernstem Anstand Dankbarkeit für die Teilnahme zu zeigen.

Niemand sprach ein lautes Wort, aber wenn dreißig bis vierzig Menschen sich noch so vorsichtig bewegen, noch so gedämpft flüstern – die Unruhe ist unvermeidlich.

In der Halle wie in den beiden Zimmern rechts und links davon, in Albrechts Gemach wie im Speisezimmer, war es recht düster. Draußen strich der schwere Regen unaufhörlich nieder. Schon hatte das Tauwetter große schwarze Löcher in die Schneedecke gerissen und die verbleibenden weißen Fetzen mit Wasser und Erde überschwemmt. Der Himmel war grau wie Zinn, eintönig und gleichförmig. Das Rauschen des Regens hatte eine immer gleiche Tonstärke.

Im Speisezimmer stand ein Imbiß auf dem Tisch. Kleopha bediente die Damen mit Thee.

Alles fror und schauderte. Die Taukälte war empfindlicher als der lichte Frost der vorigen Tage. Frau von Aulendorf und die Baronin Montefort tranken mit bekümmerten Mienen den heißen Thee. Meta und Lizzie Aulendorf saßen an der Wand auf Stühlen, hilflos und in einer Mischung von Angst und Langeweile sehr befangen. Sie froren auch, aber sie hielten es für seelenvoller, den angebotenen Thee zu verschmähen. Dabei ärgerten sie sich über Natalie Montefort, die am Fenster saß und so ostentativ weinte, als sei sie eine allernächste Leidtragende.

Hartard, der blaß, sehr wortkarg, aber doch voll Haltung mit Frau von Stechow in der Nähe stand, fühlte sich durch diese aufdringlichen Thränen qualvoll berührt. Es lag geradezu ein Anspruch in der so offenkundigen Fassungslosigkeit Nataliens. Herr von Calatin, der seine Orden trug und ungemein stolz aussah, schien es für seine Aufgabe zu halten, ihr tröstend zuzusprechen. Aber dieser Trost sah so sehr nach einer förmlichen Kondolenz aus, daß Meta Aulendorf vor Zorn zitterte. Natalie spielte sich ja auf, als sei sie der Heimgegangenen Tochter gewesen! Das nannte man doch, sich Hartard an den Hals werfen! Und bei solcher Gelegenheit! Meta und Lizzie wechselten einen Blick. Sie verstanden sich. Es war unerhört.

Draußen an den Wänden der Halle drückten sich die Leute. Die Frauen hatten ihre schwarzen Kirchgangskleider an und weinten ausnahmslos still vor sich hin die Thränen, die sie für schicklich und unerläßlich bei solchen Gelegenheiten hielten. Die Männer standen verlegen da.

Schweigend und allein ging Alexandra langsam in der Halle auf und ab. Ihr Haupt war von einem Crêpehut mit vorn und hinten lang herabwallenden Schleiern ganz verhüllt. Man sah wohl die Blässe ihres Angesichtes, aber kaum den Ausdruck der Züge. –

In Albrechts Zimmer standen mehrere Herren und flüsterten zusammen; darunter der Oberstleutnant von Schill, Christinens Vetter, der von Stettin herbeigeeilt war, um als einziger männlicher Verwandter Christinens Familie zu vertreten. Albrecht selbst wartete am Fenster, ob Zwota nicht endlich vorfahren werde.

Draußen stand eine ganze Wagenburg, dazwischen der Hörsteler Leichenwagen. Der Regen schlug herab, wusch alle Verdecke und zierte sie mit blanken Glanzlichtern.

Albrecht meinte, es würde ihm doch wohlgethan haben, wenn ein blauer Himmel tröstlich hernieder gelacht hätte. Die äußerlichen Unbilden vertieften die Pein dieser Stunden. Sie nahmen ihnen auch etwas von ihrer gesammelten Feierlichkeit. Das Wetter war aufdringlich, es nötigte die Leidtragenden, es zu beachten, sich vor ihm zu schützen.

Zwota fuhr vor. Nicht in seinem alten, wackeligen Wagen, dessen Halbverdeck schon grau und brüchig war und auf den Zwota nur in äußersten Fällen verzichtete, weil er behauptete, sein Wagen kleide ihn. Albrecht hatte ihn holen lassen. Aber das mit vollem Trauerpomp aufgeschirrte Gespann sah schon ebenso kläglich und verregnet aus, wie die andern Fuhrwerke. Die Flöre von Löbells Hut hingen wie Strippen herab.

Albrecht eilte ihm entgegen. Auf der Schwelle umarmten sie sich.

Es war sehr merkwürdig: durch Zwota schien etwas Freundlichkeit und Behagen in die Situation zu kommen. Die ganze Scene hatte Zweck und Inhalt.

Seine rüstige Bauerngestalt bewegte sich im geistlichen Gewand ebenso rasch und sicher wie sonst. Sein frisches Gesicht sah niemals bekümmert darein. Auch nicht an Särgen und Gräbern. Ihm war immer mutvoll und immer liebevoll zu Sinn. Das strahlte sein Auge und sein Lächeln aus.

»Ich möchte wohl wissen, wo Zwota das her hat,« sagte Calatin zu Hartard, »aber wenn man ihn sieht, denkt man gleich mehr an die zukünftige gute, als an die gegenwärtige traurige Zeit.«

»Jawohl,« bemerkte Frau von Stechow, »das kommt, er ist kein Prediger für Heulen und Zähneklappern, sondern für Vergeben und Seligkeiten.«

Zwota stieg mit Albrecht und Hartard die Treppe empor. Alle Anwesenden folgten in einem zaghaften Gedräng. Als der letzte eintrat oben in den alten Festsaal, sah er Zwota schon mit gefalteten Händen am Sarge stehen.

Die Leidtragenden bildeten einen großen, dünnen Kreis. In dem Raum verloren sich vierzig Menschen.

Albrecht und sein Sohn standen Zwota gegenüber, am Fußende des Sarges. Und nahe bei ihnen, gesondert von den übrigen Anwesenden, standen Alexandra und Kleopha.

Das Mädchen hatte sich beinahe erschreckt, als in der Halle plötzlich Alexandra ihre Hand fest ergriff und flüsterte:

»Wir gehen zusammen.«

Alexandra wußte selbst nicht, warum sie das that. Vielleicht wollte sie der treuen Pflegerin der Heimgegangenen auf diese Weise eine Auszeichnung gewähren, vielleicht verlangte sie selbst instinktiv nach einer Gefährtin. Sie hatte das Gefühl, daß sie da oben nicht allein eintreten wolle. Und ihre Mutter hatte schon Frau von Aulendorf neben sich.

Im Saal war es traulich und feierlich zugleich, gegen die nasse Düsternis der Halle unten. Das fahle Tageslicht war abgesperrt, zahllose Kerzen brannten wie zu einem Fest. Auf und um den Sarg häuften sich Blumen und Grün. Zwischen den weißen, kostbaren Kränzen, die von den Spendern aus Berlin und Erfurt verschrieben waren und dem Tod ebenso gerecht wurden wie dem Rang der Toten, lagen lustige und komische Kränze von Tannengrün und Stroh- oder Papierblumen. Mit dankbaren Händen und gerührtem Herzen hatte Albrecht gerade diese sorgsam aufgebaut.

Und befriedigt sah Frau Löbell aus ihrer Ecke ihren rot und weißen Papierblumenkranz auf dem Sargdeckel; stärker flossen die Thränen der alten Dolma, als sie ihren Mooskranz mit gelben Strohblumen neben den prachtvollen Palmenzweigen sah, die Herr von Calatin gestern geschickt hatte.

Zwota wartete mit gefalteten Händen und gesenktem Blick, bis ihm schien, als höre er kein Fußschurren und kein Kleiderrauschen mehr.

Da hob er die Stirn und sah mit einem aufmerksamen Blick rundum. Alles war versammelt.

Er stellte sich noch ein bißchen zurecht, faltete die Hände fester und begann. Seine Stimme war das einzige an ihm, was gealtert schien. Sie klang immer ein wenig verschleiert, was ihr aber eine besondere, eindringliche Kraft gab. Es war immer, als sage diese Stimme allein schon:

»Gebt acht, es ist ein alter, ein erfahrener Mann, der aus innerstem Herzen zu euch spricht.«

»Lasset uns beten, meine lieben Kinder,« sprach er und fuhr fort, während die Frauen ihr Haupt neigten und die Männer ihre Hüte vor das Gesicht hielten:

»Herr, allmächtiger Gott und Vater, verleihe dieser unsrer lieben Mitchristin um deines lieben Sohnes Jesu Christi willen die ewige Freude und Ruhe; laß ihr leuchten dein ewiges Licht, erwecke sie am jüngsten Tage und gib ihr das ewige Leben!

O, getreuer Herr und Heiland, Jesu Christe, geleite und führe diese Seele, die du selber durch dein heiliges Blut erkauft hast, aus diesem Jammerthal in die Herrlichkeit Gottes und zur Schar aller heiligen Engel und aller vollendeten Gläubigen und Gerechten, um deines Namens willen! Amen!«

Hierauf seufzte er und rückte ein wenig auf seinem Platz zurück, wie jemand, der einen frischen Anlauf nimmt.

Auch durch den Kreis der Versammelten ging es wie ein Rauschen. Jeder bewegte sich und rüstete sich zum genauen Hören. Die Einleitung war erledigt, nun bekam man den wirklichen Zwota zu hören. Er begann, mit einer rednerischen Geste seine ersten Worte begleitend:

»Meine Kinder und Freunde, insbesondere Sie, meine beiden lieben zunächst Beraubten! Wenn jemals eine Gelegenheit gewesen ist, in einem Augenblick, wo unsre Herzen kummerschwer sind und wir zusammenkamen, um eine teure Heimgegangene zu beweinen – wenn, sage ich, jemals eine Gelegenheit gewesen ist, sich des Kapitels dreizehn des Korintherbriefes zu erinnern, so ist sie heute. Wir alle kennen das Leben der Verewigten. Und wer es so obenhin betrachtete, möchte meinen, es sei ein Märtyrerleben gewesen und in den Gram um ihren Tod könnte sich leicht die Bitterkeit über das ihr beschieden gewesene Schicksal mischen und man könnte sich versucht fühlen zu fragen: Lieber Vater, warum bürdetest du gerade ihr eine so schwere Last auf? Meine Lieben, wir sind alle immer rasch mit der Antwort bei der Hand, daß Gottes Wege eben unerforschlich seien und daß wir uns als gute Christen zu fügen haben. Laßt mich euch gestehen, meine Lieben, daß ich diese Unerforschlichkeit noch nicht gefunden habe. Immer offenbarte die Zeit oder offenbarte sich dem tiefer schauenden Blick noch Sinn, Folge und Zusammenhang aller Geschehnisse. Weil wir nicht den Mut haben, immer wahr gegen uns selbst zu sein und vollkommen maskenlos vor unsern Nächsten hinzutreten, nur darum reden wir von Unerforschlichkeiten.

»Unsre teure Verstorbene, gerade sie und ihr Leben war mir immer ein Beweis dafür.

»Jung und vom Glück verwöhnt, traf sie das Schicksal, gelähmt zu werden. Ich sagte schon: so obenhin sah das aus wie ein Unglück.

»Aber wer unsre Verklärte, wer ihr Haus, wer ihren Gatten gekannt hat, wird mit mir sagen müssen: es war die besondere Form eines besonderen Glückes. »Wir sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes, den wir vor Gott haben sollen. Wer in der Welt steht, steht auch in ihren Kämpfen und Sündfälligkeiten. Unsre teure Freundin aber stand nicht in der Welt. Ihr Herz blieb bewahrt vor allen Anfechtungen, rein war ihr Sinn, milde ihre Gedanken. Sie kannte das Böse nicht. Sie brauchte sich nicht einmal dagegen zu wehren, es war ihre eine unbekannte Wissenschaft. So lebte sie in holder Lauterkeit. Ihr Gemüt blieb das eines Kindes, eines gläubigen, guten!

»Wem von uns, meine Lieben, ist eine solche ungetrübte Friedfertigkeit des innern Lebens beschieden?

»Dies alles waren, könntet ihr mir sagen, meine lieben Kinder, gleichsam negative Vorteile, die ihr aus ihrem Leiden erwuchsen.

»Gut. Ich sage ja. Aber ich sage euch weiter, diese beglückte Frau sah und erlebte etwas, das wir andern nicht so erleben dürfen, das so zu erleben überhaupt nur wenigen Sterblichen beschieden ist.

»Sie sah die wahre Liebe.«

Hartard zuckte zusammen. Seine Nasenflügel bebten. Sein flammendes Auge richtete sich auf seinen Vater.

Der stand hoch und ernst da, sein blasses Gesicht trug den Ausdruck eines ehernen Ernstes.

»Ich meine nicht jene Liebe, die sich im Glücke, im Genuß, in der Leidenschaft flammend bethätigt, um ach, fast immer hinterher einer trüben Gleichgültigkeit zu weichen, nicht jene Liebe, die erst in Prunkgewändern Hochzeit macht und nachher im reizlosen Alltagskleid überdrüssig einherschlampt – ich meine die Liebe, von der uns der Korintherbrief erzählt. Die war es, die unsre teure Heimgegangene sah, in deren Glanz sie sich sonnte.«

Zwotas Hände waren beredt wie sein Mund. Bald mit gespreizten, bald mit zusammengekrümmten Fingern schien er plastisch gestalten zu wollen, was sein Geist an Bildern vor sich sah. Und als er mit starker Betonung aussprach » die war es«, da hob er feierlich und groß seine linke Hand hoch empor.

»Ich erfülle nur einen Willen der Verblichenen, wenn ich davon rede. ›Zwota‹ sagte sie mir manchmal, ›versprechen Sie es mir in die Hand, wenn ich dennoch einmal vor meinem Manne davongehen sollte, sprechen Sie an meinem Sarg über den Korintherbrief. Nach ihm hat mein Albrecht gelebt, nach ihm mich und unser Geschick getragen.‹ Seine Liebe war, wie Vers vier sagt, langmütig und freundlich, sie eiferte nicht, sie trieb nicht Mutwillen, sie blähte sich nicht. Und nach Vers fünf stellte sie sich nicht ungebärdig, sie suchte nicht das Ihre!«

Zwota atmete tief auf und schien eine Sekunde lang von einem besondern Gedanken abgeleitet.

Hartard atmete kaum.

Sie, die da standen, die Frau, die ihr Gesicht unter wallenden Schleiern verbarg, und der Mann, dem langsam eine feine Röte ins Gesicht stieg, sie hörten es an. Hörten es schamlos und mutig?

Er zitterte. Er fühlte das gierige Verlangen, der Frau den Schleier vom Gesicht zu reißen, seinem Vater die Frage entgegenzuschreien:

»War nicht alles Lüge, erbärmliche Lüge?«

Die milde Greisenstimme sprach weiter. Zwota unterbrach den Gedankengang seiner Rede doch nicht. Er zählte jeden Vers an seinem Daumen auf.

»Und mit Vers sieben vertrug sie alles, glaubte alles, hoffte alles, duldete alles. Auf ihr Grabmal aber wollen wir ihr Vers acht setzen: ›Die Liebe höret nimmer auf.‹ Ihr hat sie nicht aufgehört, und diese Frau, die Fernerstehende für eine Märtyrerin hielten, konnte noch am Tage ihres Todes sagen: ›Ich bin so glücklich gewesen.‹ Wenn der Mann, der dreiundzwanzig lange Jahre all seine schäumende Jugend- und Manneskraft zügelte, der auf jedes andre Glück, nach dem er vielleicht hätte greifen können, verzichtete, der sich zum unermüdlichen Krankenwärter machte, noch eines Zeugnisses bedurfte: die Verklärte hat es ihm gegeben. In ihren letzten Stunden, in einem Augenblick, als sie sich der Genesung näher als dem Tode glaubte, sprach sie es aus: ›Ich bin sehr glücklich gewesen.‹

»Der Sohn, der seiner Mutter beraubte, hat es mir, erschüttert vor Gram und auch von Dankbarkeit erzählt.«

»Damals!« schrie es in Hartard auf, »damals – als ich noch nicht wußte – – oder als ich vergessen hatte ...«

»Ich weiß auch, daß ich im Sinn der Verblichenen spreche,« fuhr Zwota in traulichem Ton fort, »wenn ich euch noch einmal sage, was ihr ja alle gesehen und gewürdigt habt. Die immer gleiche Atmosphäre des Friedens, welche der Gatte um das Lager seiner Frau zu verbreiten wußte, die wunderbare körperliche Pflege haben wahrscheinlich das Leben der Zarten so verlängert, haben es sonnig gemacht. Ob an ihn auch Kämpfe und Sorgen herantraten, wie sie ja keinem von uns erspart bleiben – sie erfuhr es nicht, sie merkte es nicht.«

Albrecht machte eine Bewegung. Es war ihm peinvoll, dies alles hören zu müssen. Als hätte Zwota seine Empfindungen erraten, fuhr er abschließend fort:

»Er wird dies ungern hören. Es wird ihm wie Lob vorkommen. Er wird sich sagen: ›O süßer Trost in meinem Herzen – ich habe meine Pflicht gethan.‹ Wohl ihm. Wohl uns, wenn wir alle in allen Lebenslagen das Gleiche von uns wissen oder wußten. Auch der Sohn darf mit reuelosem Herzen an diesem Sarge stehen. Seine Rückkehr und Gegenwart hat der Verklärten die letzten vier Monate ihres Lebens noch besonders verschönert. Sie hat es mir oft gesagt, er war ein treuer, ein zärtlicher, ein guter, ein ergebener Sohn.«

Hartard fühlte, daß ihm Thränen über die Wangen rannen. Als er sich erwähnen hörte, nur auf dies bloße Wort hin, ergriff ihn sein Schmerz mit ungeheurer Gewalt. Er weinte, weil man von ihm sprach. Und er schämte sich zugleich dieser Schwäche.

»Aber auch wer sonst hier trauernd an dieser Stätte steht, darf sich sagen: ›Wir haben als treue Freunde und Nachbarn das Unsrige mitgethan, der nun Heimgegangenen das Leben zu verschönern.‹ Arm und reich, Diener und Herren, wie ihr hier versammelt seid, meine lieben Kinder, ihr habt Treue bewiesen und Mitleid bethätigt.

»Und wenn wir dies nun alles so bedenken, können wir Gottes Wege wahrlich nicht mehr unerforschlich nennen. Die Krankheit ward Ursache, daß die Teure dahinleben konnte in sonnigem Frieden, in ungestörter Herzensreine; und weiter ward die Krankheit Ursache, daß sich in der Umgebung der Leidenden sittliche Kräfte auslösten, die sonst vielleicht niemals zur Übung gekommen wären. So hatte der Herr sie und die ihrigen nicht erdrückt, er hatte sie erhoben!

»Darum, meine Lieben, wollen wir nicht in haltloser Trauer an diesem Sarge stehen. Laßt die Schuldigen trauern und die Schwachen und die Pflichtsäumigen. Uns aber laßt gerade an diesem Sarg Wehmut zwar, aber auch Dankbarkeit empfinden. Der Herr hatte es wohlgemeint mit ihr im Leben, und wohl meint er es mit allen, die er zu sich ruft in sein himmlisches Reich. Wir sagen mit dem Psalmisten: ›Was er ordnet, das ist löblich und herrlich, und seine Gerechtigkeit bleibet ewiglich.‹ Amen.«

Ein Rauschen und Raunen ging durch die Versammlung, um sogleich wieder zu erstarren, denn Zwota sprach noch den Segen über den Sarg.

Albrecht hörte die Segensworte kaum. Mit unerhörter Erinnerungsgewalt, so deutlich, daß es einer Vision glich, trat die Stunde vor ihn hin, wo sein junges Weib ihm seinen Sohn geschenkt. Er sah sich vor ihrem Bette knieen und ihre Hände mit Thränen bedecken.

Und dieser Sohn stand neben ihm, Fleisch und Blut von ihrem Fleisch und Blut, sein Kind, sein einziger, geliebter Sohn, ein Teil von ihr, von ihm, von jenem fernen, jungen, kurzen Glück.

Albrecht umarmte seinen Sohn in heftiger Bewegung.

Aber steif und stumm stand Hartard, und seine Arme schlossen sich nicht um den Vater.

Die Träger kamen und hoben den Sarg auf.

Im Zuge ging es hinab. Hinter Zwota, der mit gefalteten Händen schritt, gingen Vater und Sohn. Die andern folgten.

Es war ein merkwürdiger und peinlicher Scenenwechsel. Aus der Feierlichkeit des mit Trauerpomp geschmückten Raumes kam man in die schnöde Häßlichkeit des Regentages.

Alle Weihe war verscheucht. Jede Familie hastete mit hoch genommenen Kleidern und langen Schritten an ihren Wagen. Abseits rüsteten die Arbeiter und ihre Frauen sich auf die lange Wanderung nach Hörstel. Die Männer krempten ihre Beinkleider um, die Frauen nahmen ihre Kleider bis zum Gürtel hoch.

Endlich schwankte der Leichenwagen fort. Im langsam hintrottenden Zuge folgten die Wagen, denen sich die Fußgänger unter ihren Regenschirmen anschlossen.

Unter dem niederströmenden Regen, über das graue, schlammige Land ging so langsam, traurig und überwaschen der schwarze Zug.

Albrecht fuhr mit Zwota, Hartard mit dem Oberstleutnant von Schill.

Der Vetter der Heimgegangenen hatte die beiden Fronhofens nur selten und flüchtig gesehen. Seelische Beziehungen hatte man gar keine. Von einer wirklichen Trauer konnte bei Herrn von Schill nicht die Rede sein. Erfüllung konventioneller Familienpflichten können bei heitern Anlässen schon langweilig sein; bei traurigen sind sie immer peinlich.

Aber Hartard war es recht, einen fremden Mann neben sich zu haben. Er konnte sich verstecken. Er konnte auf der Oberfläche bleiben. Sie sprachen allerlei auf die Verstorbene Bezügliches, und Herr von Schill konnte noch einige Scenen aus Christinens Kinderjahren erzählen.

Dann kam man auf dem Hörsteler Kirchhof an, und die Dorfmusik blies mit viel Lärm und falschen Tönen einen Choral vor der kleinen Grabkapelle der Fronhofens, die innen an der Kirchhofsmauer angebaut war. Zwota sprach ein Gebet. Der Sarg wurde hineingeschoben und in die ausgemauerte Gruft hinabgelassen.

Es war zu Ende.

Alle schüttelten Vater und Sohn die Hand.

Die Aulendorf, Monteforts, Calatin und einige andre Familien aus der Gegend, waren von Alexandra gebeten worden, bei ihr auszuruhen und zu speisen.

Herr von Schill hatte keine Zeit, wieder nach Rethen zurückzukehren. Er nahm gern die Einladung an, auf dem Hörsteler Schloß ein wenig zu rasten und sich von dort aus zum Bahnhof fahren zu lassen.

So konnten denn die beiden Fronhofens endlich die Wohlthat des Alleinseins genießen.

Für Hartard aber war es keine Wohlthat. Stumm saß er neben seinem Vater, ließ ihm seine Hand und ließ ihn reden.

»Laß uns fest und treu zu einander stehen, mein lieber Junge,« sagte Albrecht, »es war ihre innigste Freude, uns in Liebe und Vertrauen verbunden zu wissen. So soll es auch für immer bleiben.«

»Ich hoffe es,« sprach Hartard tonlos. Aber er wußte, daß es unmöglich sein würde.


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