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Viertes Kapitel

Nun schwoll die Festfreude hoch an. Alle hatten ihr Vergnügen daran, dem unerwarteten Wiedersehen beigewohnt zu haben. Zwota besonders strahlte über das ganze Gesicht; er klopfte Hartard immer von neuem befriedigt auf die Schulter. Sein Herz hing an der Fronhofener Familie, und den langen jungen Menschen da, den hatte er schon getauft und unterrichtet. Er freute sich Hartards ungezwungener Art. Ihm war ein bißchen bange gewesen, daß der Junge auf seinen Reisen etwas blasiert und modern werden könne und dann als fremder, hochmütiger, unzufriedener Gast im Kreise der angestammten Freunde sich pretensiös geben werde. Aber gottlob: das war dasselbe gute Lachen, das Hartard schon als Knabe gehabt, dieselbe Herzlichkeit von früher. Der kam unverfärbt zurück. Na ja, er hatte eben Fronhofener Art, speziell Albrechts Art.

Natalie Montefort sprühte vor Übermut. Sie hielt sich zwar von Hartard selbst fern, aber sie neckte sich mit allen Frauen und zeigte fieberhafte Lebhaftigkeit. »Sieh nur, wie sie sich entwickelt,« bemerkte Frau von Aulendorf eifersüchtig zu ihrem Manne, »sie gibt 'ne förmliche Vorstellung.« Auch die Aulendorf rechnete auf Hartard für ihre Lizzie oder ihre Meta.

Sogar Herr von Calatin ward in seinem Benehmen freier und heitrer. Um die Spannung, in welcher er sich befand, zu verstecken und sich selbst darüber hinwegzuhelfen, hatte er sich immerfort lebhaft unterhalten – mit einer erzwungenen Lebhaftigkeit freilich, die doch bemerkt worden war. Denn die Montefort sagte zu Herrn von Aulendorf: »Was Calatin wohl hat? Er spricht so nervös und so schrecklich viel.«

Nun aber war er plötzlich ganz vergnügt. Er zeigte Hartard ein Wohlwollen, das an Innigkeit grenzte. Immer war er sich neben dem gleichaltrigen Fronhofen wie ein älterer Herr erschienen. Der Albrecht Michael hatte sich eben unverschämt gut gehalten. Ihn selbst hatten die Jahre in Paris und Petersburg, wo er als Leutnant den Gesandtschaften zugeteilt gewesen, etwas Frische gekostet. Und nun mit einem Schlage erschien er, der Junggesell, als Jüngling beinah, neben dem Vater eines so großen Sohnes. Wenigstens kam es ihm so vor.

Die Rivalität zwischen Calatin und Albrecht gehörte zu ihrem Leben. Als Söhne befreundeter Gutsnachbarn, gleichaltrig, waren sie schon ins Kadettenhaus und später in dasselbe Regiment zusammen eingetreten. Als Knaben wie als Jünglinge richteten sie ihre Interessen, ihre Wünsche, ihre Leidenschaften stets auf denselben Gegenstand. Es schien nun einmal ihre Bestimmung, stets denselben Geschmack zu haben. Auch um Christine, die Tochter ihres Majors, bewarben sie sich gleichzeitig. Dann verbrachte Calatin viele Jahre im Ausland. Die andern Lebensbedingungen, in denen er stand, entwickelten ihn anders. Die Linien seines Wesens wurden komplizierter, die Albrechts blieben einfach. Aber dennoch schien es, als sei eines in ihnen unverändert das Gleiche geblieben: der Geschmack ihrer Seelen.

Albrecht sah recht gut die veränderte Laune Calatins, und er erriet ganz klar den Grund. Er lächelte darüber, und doch entstand etwas in ihm, wie eine leise Verstimmung.

Es war ein Uhr in der Nacht, als sie endlich heimfuhren.

Löbell, der Kutscher, sah die Herren mit etwas verglasten Augen an, ehe er auf den Bock stieg.

»Verschlafen oder betrunken?« fragte Albrecht scharf.

»O ne, Herr, nee, nee,« versicherte Löbell, obschon ihm der Cylinder schief auf dem Kopf saß und die Kokarde an der falschen Seite zeigte. Aber sein langer, hellbrauner Kutscherrock war ordentlich zugeknöpft, und die Fäuste steckten sogar in weißen Handschuhen.

»Für die Kutscher geht's immer ein bißchen zu freigebig her auf Hörstel,« sagte Albrecht, »da sieht man, daß ein Herr fehlt.«

»Wenn der Monteforter Kutscher nur nüchtern war, daß den beiden Damen nichts geschieht,« sprach Hartard besorgt.

»Ei, ei,« dachte Albrecht erfreut.

Er knöpfte das Leder fest, schlug sich den Kragen hoch und drückte sich behaglich in seinen Wagen, indes die Pferde anzogen.

Die Nachtluft war feucht, aber nicht sehr kühl. Sie that den heißen Köpfen wohl, denn infolge von Hartards Ankunft war noch mehr getrunken worden, viel mehr als sonst bei den Damen auf Hörstel.

»Das war ein glücklicher Abend und eine glückliche Heimkehr,« sprach Albrecht.

»Ja, Papa, das war es. Ich kann es dir gar nicht schildern, mit welcher Wärme mir das ans Herz griff. So all die guten, lieben Menschen, die man von klein an gekannt hat! Und was für'n reizender, fideler kleiner Balg die Natalie ist. Bei der Thränenweide von Mutter doppelt überraschend.«

»Na, du hast ihr aber auch gleich gut den Hof gemacht,« bemerkte Albrecht lachend.

»Soll ich nicht?« fragte der Sohn.

»Du sollst, was du willst. Denn du bist ein Mann jetzt,« sagte Albrecht herzlich.

Sie schwiegen ein Weilchen. Dies Wort hatte den Sohn sehr beglückt, er drückte dem Vater stumm die Hand.

»Zwota ist doch ganz derselbe, nicht wahr? Oder findest du ihn gealtert?« fragte Albrecht dann.

»Gealtert? Nein, gar nicht. Aber verändert. Alle fand ich euch verändert oder anders, als ihr in meiner Erinnerung waret.«

»Wie denn?«

Hartard war beinah verlegen, wie er es sagen sollte.

»Lache mich nicht aus, Papa. Aber als wenn ihr alle viel jünger seid als früher! Früher, da war ich, bei meinen Ferienbesuchen zwischen euch allen das einzige ganz junge Menschenkind. Und Zwota erschien mir wie ein Methusalem, weil er weiße Haare hatte, Tante Stechow ditto, und du und Ma und Alexandra auch schon als alte Leute, weil ihr meine Respektspersonen waret. Ich sehe mit Erstaunen, daß Zwota ein rüstiger Sechziger und Tante Stechow eine noch sehr wohl konservierte Dame ist.«

Er stockte. Es war, als wenn eine Befangenheit sich beider Männer bemächtigte.

»Wir sind wohl dieselben geblieben, mein Junge,« sagte Albrecht, »nur du hast andre Augen bekommen. Du wirst eben die Sachen jetzt mehr sehen, wie sie sind, nicht, wie sie scheinen.«

Beide dachten an den Brief, in welchem Hartard seinem Vater die Lasten des Lebens abzunehmen versprach. Aber beide dachten auch mit herzlichem Entschluß frohgemut:

»Das wird sich alles finden.«

»Was für ein prachtvolles Weib ist Alexandra!« sprach Hartard mit einem Mal.

Es war dem andern, als schlüge ihn jemand ins Gesicht. Tief verstimmt, mit unklarer Stimme sagte er:

»Sie ist immerhin dreizehn Jahr älter als du und wird gewiß nach wie vor mehr darauf halten, für dich Respektsperson zu bleiben, als von dir bewundert zu werden.«

Über den Ton wunderte sich Hartard so sehr, daß er im Augenblick keine Antwort fand. Nach seiner Meinung hatte seine unbefangen bewundernde Bemerkung eine so scharfe Zurückweisung nicht verdient.

Aber eigentlich verletzt fühlte er sich doch nicht.

»Wenn man so heimkommt, ist es, als wenn man ein Terrain betritt, das man früher unbebaut gekannt hat. Man muß erst vorsichtig herumtasten, ob man nicht wo auf keimende Saat und junge Schößlinge tritt,« dachte er, »und wenn irgendwo was in der Luft liegt, kann man die Leute schon reizen, wenn man bloß vom Wetter spricht.«

Albrecht seinerseits war sich seines schroffen Tones bewußt geworden. Was mußte sein Sohn davon denken? Er ärgerte sich über sich selbst.

»Verzeih,« sagte er, »Alexandra ist Mama und mir eine so teure, so verehrungswürdige Frau, daß ich eigentlich nur gewöhnt bin, in den höchsten Tönen von ihr reden zu hören. Und da schien mir in deinen Worten so etwas von einer niedrigeren Taxe zu liegen.«

»Du irrst, Papa. Ich schätze sie sehr hoch ein. Mas Briefe haben mich von je gelehrt, ihrer mit Dankbarkeit zu denken.«

Damit war die Sache erledigt. Jedes weitere Gespräch war auch unmöglich.

Der Wagen näherte sich der Mühle, wo der Weg nach Rethen umbog. Löbell schien nach seitwärts umsinken zu wollen. Aber er saß bloß so schief, und sein Kopf hing nach vorn.

»Kerl – schläfst du? Löbell –,« schrie Albrecht. Löbell machte einen Ruck.

»Ich werde selber fahren,« sagte Albrecht und knöpfte das Deckleder auf. »Halt, Löbell – Mensch halt, sag' ich, bist du taub?«

Aber gerade als Albrecht aufstehen wollte, das langsam hintrottende Gefährt zu verlassen, um die Pferde anzuhalten, gab es einen Ruck. Die Räder hatten die ausgefahrenen Spuren im Wege längst verlassen gehabt. Nun waren sie vom Rasenrain, auf dem sie stoßend hinrollten, herabgeglitten und in den trocknen kleinen Graben am Wegesrand geraten.

Mit ziemlicher Sanftheit fiel der Wagen um und warf seinen Lenker wie seine beiden Insassen aufs Feld.

Albrecht wußte nicht, ob er lachen oder schimpfen füllte. Hartard rieb sich lachend die Schultern.

Löbell rührte sich nicht. Er konnte unmöglich wirklich beschädigt sein, aber in seinem umnebelten Zustand mochte es ihm wohl das Klügste scheinen, den toten Mann zu spielen.

Die eine Wagenlaterne war zertrümmert. Albrecht ging, um die von der linken Seite zu holen, während Hartard sich mit den zitternden Pferden zu schaffen machte.

Nach genauester Beleuchtung des Liegenden schloß Albrecht, daß er betrunken sei. Einige kräftige Püffe bewirkten, daß Löbell sich aufrappelte.

»Sträng' die Pferde los,« befahl Albrecht und setzte die Laterne auf die Stoppeln des Feldes.

Er selbst warf Mantel und Frack ab. Und wie Löbell mit Hartards Hilfe eben die Pferde los hatte und ein paar Schritte auf den Weg führte, stemmte Albrecht sich mit seiner ganzen Kraft hinten gegen den Wagen, mit seinen Armen unter denselben greifend.

Ein Ruck – ein unwillkürlicher stöhnender Laut höchster körperlicher Anstrengung – und der Wagen stand wieder auf dem Wege.

»Papa!« rief Hartard.

Albrecht schlug sich abwechselnd die Hände ab, sie waren sehr schmutzig geworden.

»Was denn?«

»Ich hätte mit anfassen sollen.«

»Ach – der Wagen ist nicht schwer,« sagte Albrecht leichthin und zog seine Röcke wieder an. »Nun will ich aber fahren.«

Löbell, ein schlotterndes Unglück in Person, kroch auf den Bock zurück, wo sein Herr schon Platz genommen hatte.

Nun fuhren sie rasch heim. Aber in der Nacht, ganz schwach durch die Wagenlaternen von der einen Seite erhellt, sah Hartard immer die beiden Gestalten oben vor sich auf dem Bock: den Flitzbogenrücken des angetrunkenen Löbell und die gerade Haltung seines Vaters.

Er war ganz starr über das körperliche Kraftstück, das er eben hatte vollführen sehen. Auf Rethen angekommen, bemerkte Hartard mit Erstaunen, daß sein Vater sehr laut die Thür auf und zu schloß, pfeifend das bereit gestellte Licht anzündete und durch die Halle nach seinem Zimmer ging, dabei aber immer durch Gebärden andeutete, daß Hartard leise sein solle. Er nahm den Sohn mit in sein Zimmer.

»Oben rauf, in deine rote Stube, kannst du nicht, Hartard. Mama würde dich hören,« sagte er und fing an, aus Schlafdecken und Kissen ein Lager auf der breiten Chaiselongue herzurichten. »Du mußt schon da schlafen.«

»Aber du selbst warst doch so laut?« fragte Hartard.

»Mama wacht viel des Nachts. Weißt du, da wird ihr alles lebendig. Die Dielen knacken, die Uhr tickt lauter, manchmal gehen Schritte, im Park flüstern Männer, und so weiter. Da ist es denn Verabredung: wenn ich mal spät heimkomme, mache ich viel Spektakel, daß kein Irrtum entstehe: ich sei's. Und dann pfeif' ich immer:

Gute Nacht, gute Nacht, liebste Anne Dorothee,
Gute Nacht, gute Nacht, schlaf wohl.

Dann weiß Ma, daß ich an sie denke, selbst wenn's ein bißchen scharf mit Trinken hergegangen ist. Na, und dann freut sie sich und legt ihr Gesicht auf die andre Seite und schläft besser.«

Hartard fiel seinem Vater um den Hals. Seine Augen waren naß.

Er konnte in der Nacht wenig schlafen. Das lag nicht allein an dem Mangel von Leinentüchern und Federkissen.

Er konnte gar nicht aufhören, an seinen Vater zu denken. Bald sah er ihn wieder auf der Thürschwelle stehen, hoch und schlank, im Frack, wie ein eleganter Lebemann anzuschauen. Bald sah er ihn, unsicher von den Strahlen einer Laterne beleuchtet, die auf dem Felde stand, mit Riesenkraft den gestürzten Wagen emporhebend. Dann war's ihm immer, als pfiff jemand das alte Lied:

»Gute Nacht, gute Nacht, liebste Anne Dorothee,
Gute Nacht, gute Nacht, schlaf wohl.
Stille, stille, kein Geräusch gemacht,
Bei der Nacht – bei der Nacht.«

Er erinnerte sich plötzlich, daß sein Vater ihm das auch vorgesummt, wenn er als kleiner Junge abends nicht schlafen wollte. Und mit einer Deutlichkeit, die mehr von der Phantasie als der bewußten Erinnerung gezeichnet war, sah er auch wieder das Gesicht, das sein Vater dann gemacht. Es war ebenso väterlich, freundlich und fürsorglich gewesen, wie das von heute abend, als er der schlummerlosen Kranken das verabredete Signal pfiff.

Ihm kam es vor, als habe er seinen Vater noch niemals, in seinem ganzen Leben nicht, so lieb gehabt, wie in diesen Stunden. Er hätte ihn wecken mögen, um ihm zu sagen, daß er ihn anbete.

Und dabei war doch ein seltsames Bangen in seiner Seele, wie das Vorgefühl von allerlei Drückendem, Schwerem.

Aber Albrecht schlief fest. Man hörte seine ruhigen Atemzüge durch die stille Nacht.

Plötzlich fiel Hartard etwas Andres ein. Er lächelte vor sich hin und suchte sich behaglicher in seine gestickten und gehäkelten Kissen hineinzuwühlen.

»Ja, Natalie Montfort – in die könnte man sich schon verlieben – – das gäbe mal ein reizendes Frauchen – – und dann Flieders – –«

Darüber schlief er ein.

So laut Albrecht nach Hause gekommen war, so leise erhob er sich am Morgen. Als Hartard erwachte, sah er das Bett leer. Noch ehe er sich recht zum Aufstehen entschlossen hatte, that sich die Thür auf, und sein Vater, in Reitstiefeln und Lederjoppe kam herein.

»Guten Morgen, mein Junge.«

»Du warst schon fort, Papa?« fragte Hartard.

»Im Finkenbusch wird Heidekraut gerodet. Ich bin hinausgewesen um die Parzellen abstecken zu lassen. Und eben war ich bei Ma. Es ist nämlich bereits achte durch.«

Hartard sprang auf.

»Ich bin wirklich sonst kein Langschläfer,« sagte er.

»Nun – heut war's dein Recht. Du wirst da keine schöne Nacht gehabt haben.«

»Und Ma?«

»Mama hat keine blasse Ahnung. Eben war ich bei ihr. Ich muß immer an ihrem Bett sitzen, wenn sie ihren Morgenthee einnimmt. Sie war schon ziemlich aufgeregt und meinte, sie wisse nicht, wie sie die Stunden bis Nachmittag ertragen solle. So, wie du angezogen bist, sag' ich's ihr.«

Hartard kleidete sich so schnell als möglich an. Dann trat er mit seinem Vater in die Halle.

»Ich ruf' dich. Ich muß es ihr langsam beibringen. Das Warten hätte ihr geschadet. Aber Schreck muß auch vermieden werden.«

Hartard setzte sich auf die Truhenbank und wartete.

Eigentlich war doch das ein Krankenwärterleben, das sein Vater führte. In seinem Hause konnte er nichts lassen, nichts thun ohne den Begleitgedanken, wie es der Leidenden schade oder nutze. Bei aller Liebe – das mußte doch schwer sein.

»Gottlob, jetzt hat er mich,« dachte Hartard und nahm sich vor, daß sein Zusammenleben mit dem Vater ein frisches, freudiges sein solle.

Die Thür des Krankenzimmers öffnete sich. Er machte schon die Bewegung aufzuspringen. Aber es war nicht sein Vater, es war nur die Krankenpflegerin. Er blieb sitzen und sah sie herankommen. Sie schritt durch die Halle gerade auf die Thür zu, schien also ins Freie zu wollen.

Sie schritt gerade in einem breiten Lichtstreifen einher, denn der Morgensonnenschein fiel leuchtend und warm durch die Fenster auf den Estrich.

Und mit einemmal sprang Hartard doch auf. Sein Herz klopfte, wie das jemandes, der einen heftigen Schreck empfand.

Kleopha sah, daß da ein Mann stand. Sie schloß halb ihre kurzsichtigen Augen, um ihn zu erkennen. So kam sie heran.

»Ach ...,« sagte sie dann und errötete. Das war natürlich der Sohn des Hauses, er sah seinem Vater so sehr ähnlich; das war Hartard Michael von Fronhofen, von dem die kranke Frau ihr so peinlich viel erzählt hatte – peinlich, ja, denn es war immer wie eine Warnung in all den Erzählungen gewesen, daß sie sich nur um Gottes willen nicht in den Erben von Rethen verlieben solle, der eine standesgemäße und reiche Frau heiraten müsse. Sie hatte der gütigen Frau, die all dergleichen mit der wichtigen Naivetät eines Kindes vorbrachte, diese versteckten Warnungen gar nicht übel genommen. Aber alle Unbefangenheit Hartard gegenüber hatten sie ihr von vornherein schon geraubt.

Als Hartard diese halb geschlossenen Augen sich in plötzlichem Erkennen weit öffnen sah, ward ihm wunderlich zu Mute. Die großen und doch verschleierten Augen schienen ihm so ausdrucksvoll, wie er noch keine gesehen. Die Schönheit des Mädchens machte ihn beinahe verlegen von Erstaunen.

»Mamas Pflegerin?« fragte er und verbeugte sich.

»Ja,« sagte sie leise. »Ich müßte wohl meinen Namen sagen,« dachte sie, konnte aber doch nur schweigen.

Hartard sah sie unverwandt an. »Es geht Mama erträglich?« fragte er und dachte gar nicht an seine Mutter.

»Es geht ihr sogar sehr gut,« antwortete Kleopha. Dann, nach einer sekundenlangen Pause, sagte sie:

»Ich sollte hinausgehen und bunte Blätter und ein paar Blumen holen.«

Es klang wie eine Entschuldigung. Es war im Ton einer Dienerin gesprochen.

Hartard bekam plötzlich eine unbändige Sehnsucht, den Blumen- und Gemüsegarten wiederzusehen, der sich jenseits der Straße breit und lang vor dem Seeufer und seinem Schilfgestade hinzog.

Aber Kleopha ging schnell, mit einer flüchtigen Kopfneigung hinaus, und er konnte kaum dazu kommen, ihr das Hausthor zu öffnen und zu schließen.

Und da rief auch schon sein Vater: »Hartard – Junge – Ma erwartet dich.«

Christine hatte ihren Sohn wieder. Er kniete an ihrem Bett, und sie hielt sein Gesicht zwischen ihren beiden Händen. Albrecht hatte sie allein gelassen.

Sie sollten sich aussprechen. Auch über ihn, falls sie etwa dazu ein Bedürfnis hatten.

Es dauerte lange, ehe Christine sich soweit faßte, daß sie geordnet sprechen konnte. Dann mußte Hartard auf ihrem Bettrand sitzen.

Sie hatte ihm hunderttausend Dinge zu erzählen. So viel, er würde es gar nicht glauben. Dazu gehörten Monate. Er denke wohl, sie erlebe gar nichts, weil sie immer still auf ihrem Bette liege. Aber das sei ein Irrtum. Sie höre und wisse und erfahre alles.

Hartard war freudig überrascht, seine Mutter in einer solchen geistigen Beweglichkeit zu finden.

»Und ich kann dir auch viel, viel erzählen, Ma,« versprach er zärtlich. »Ich habe mir jeden Tag knappe, tagebuchartige Notizen gemacht, um dir meine ganze Reise nach und nach, Tag für Tag beschreiben zu können, damit du sie sozusagen im Geiste mitgenießest.«

»Ach ja, das ist nett, das wird mich sehr interessieren,« sprach sie in gleichgültigem Ton und fragte dann lebhaft: »Wie war es denn gestern Abend bei Lexe? Wer alles dagewesen ist, hat Papa schon erzählt. Sah die arme, gute Aulendorf wieder so aus, als habe sie sich drei Tage nicht gewaschen und vier Tage nicht gekämmt? Und dabei ist sie eigentlich sehr ordentlich. Und wie findest du Natalie Montefort?«

»Sowohl die Baronin Montefort, als auch Natalie haben mir einen sehr guten Eindruck gemacht.«

»Ja, Papa sagte schon, du habest ihr bereits geradezu die Cour geschnitten.«

Hartard runzelte die Stirn.

»Hab' ich das? Nun, das war die Stimmung des Abends und jedenfalls etwas übereilt,« sagte er, ärgerlich über sich selbst.

»Nein, gar nicht übereilt. Halte dich nur dazu,« sprach Christine eifrig. »Natalie ist die gegebene Partie für dich.«

»Das findet sich ja alles, Ma'chen.«

»Und sage mir doch: was hatte Alexandra an?«

»Wenn ich mich recht besinne, ein helles lila Kleid, es war so eine Farbe wie blasse Waldveilchen.«

»Und die Stechow?«

»Ach, Ma, das weiß ich nun wirklich nicht.«

»Und wie war Calatin?«

»Sehr nett. Ich konnte viel mit ihm von Paris sprechen. Denke dir den Zufall, Mama, er hat auch in der Rue Royale gewohnt. Ich habe dir das Bild der Straße mit der Madeleinekirche mitgebracht. Ich habe überall Photographien für dich gekauft,« erzählte er.

»Also Calatin war nett? Ich meine eigentlich nicht, wie er mit dir, sondern wie er mit Lexe war? Denke dir, die Leute sagen, er bewerbe sich um sie.«

»Da ich das nicht wußte, habe ich keine entsprechenden Beobachtungen machen können.«

»Schade. Und Zwota? War er lustig? Will er bald kommen? Er ist seit acht Tagen nicht hier gewesen.«

Hartard begriff es: den Gedankengang seiner Mutter auf seine Reisen und Erlebnisse zu richten, war unmöglich. Sie lebte und webte in dem kleinen Kreise, der sie umgab. Ihr Horizont war licht und sonnig, aber er war ganz eng. Er hörte sogar schließlich, daß Sebald die Hörstelschen Damen tyrannisiere, er erfuhr, daß die Köchin Lina den Kutscher des Herrn von Calatin heiraten wolle – –

Und er konnte nicht ungeduldig werden. Die Stimme seiner armen Mutter sprach mit kindlich wichtigen, glücklichen Tönen.

Er hörte und hörte und machte ein Gesicht voll lebhafter Anteilnahme, und dabei brannte ein Gedanke in seinem Herzen: Bewunderung für seinen Vater.

Endlich brach dies Gefühl mächtig durch.

»Du erzählst mir so viel, Ma'chen. Ich werde ordentlich gleich wieder heimisch und vertraut auf Rethen. Das ist schön. Aber von Papa sagst du nichts.«

Da ging ein Leuchten über das Gesicht der Frau.

»Was soll ich davon sagen,« sprach sie leise, »ich habe es dir doch immer geschrieben. Du mußt es nur sehen.«

Sie umklammerte mit ihren schmalen, langen Fingern die Hand des Sohnes.

»Nie, Hartard, nie, nie kannst du ihm den Dank abtragen für alles, was er mir thut.«

In ihr Gesicht stieg eine leise Röte, ihre Augen brannten.

Sie zog den Sohn zu sich herab, und er hörte, sein Gesicht ganz nahe dem ihren, ihre raunenden Worte.

»Du bist nun ein Mann, Hartard – du verstehst besser – vielleicht ganz. Es war nicht leicht für ihn. So jung und eine gelähmte Frau. In den ersten Jahren hatten wir noch die Hoffnung. Da waren wir glücklicher und auch unglücklicher. Ich glaube, Papa litt fürchterlich. Er hatte mich doch so lieb und wollte mir doch treu bleiben. Er kämpfte. Ich kämpfte auch. Es war schwer, mich darein zu finden. Aber allmählich fanden wir uns darein. Als so langsam die Gewißheit kam, daß es nie anders werde ... Da ward es sozusagen still in uns. Oft freilich, auch noch jetzt, wünsch' ich mir den Tod, damit Papa frei werde. Aber der Doktor sagt, ich kann achtzig Jahr dabei werden.«

Thränen liefen über ihr Gesicht. Auch die Aufregung über das Wiedersehen mußte sich noch irgendwie Luft machen. Christine weinte heftig.

Hartard war außer sich. Er schämte sich, einen Moment innerlicher Ungeduld gehabt zu haben, als seine Mutter ihn von dem Kleinkram der Nachbarn und Dienstboten unterhielt.

Mit nassen Augen beschwor er seine Mutter, nicht mehr zu weinen, und streichelte ihr das Haar und sagte, daß ihr Tod sie alle untröstlich elend machen würde.

Sie weinte fort. Aber mit einemmal, in jähem Übergang, unbeeinflußt von den Trostworten, trocknete sie ihre Thränen und lächelte.

»Ach, das sag' ich nur mal so. Das kommt mir manchmal. Ich will ja noch gar nicht sterben. Ich bin sehr glücklich so. Wie viele haben es schlechter. Und Papa hat mich auch unendlich lieb. Was er thut, kann nicht das Mitleid allein. Das fühle ich wohl. Das ist Liebe. Wenn auch vielleicht ... Ach ja, es ist doch auch Liebe, das sagt Zwota auch immer. Das hat alles so sein sollen. Wer weiß warum! Zwota, der weiß ganz genau mit uns Bescheid. Ja, mit dem hab' ich mich damals in der schweren Zeit immer ausgesprochen. Ich glaube, Papa auch.«

»Nun siehst du wohl, daß du für Papa und für mich leben mußt. Und für alle lieben Freunde. Du hättest nur hören sollen, wie sie gestern von dir sprachen: Zwota und Alexandra und die Montefort.«

Sie lächelte behaglich und spielte schmeichelnd mit ihres Sohnes Fingern.

»Ach ja – ich habe es gut. Und eine so schöne, aufmerksame Pflegerin hab' ich. Du mußt dich nur nicht in sie verlieben, Hartard.«

»Aber Mama, wie sollte ich?« sprach Hartard und bekam zugleich Herzklopfen. Er beschloß sofort, nicht zu erzählen, daß man sich schon begegnet war.

»Sie heißt Kleopha Reineck,« erzählte Christine, immer wichtig mit ihren eignen Angelegenheiten beschäftigt, »und sie arbeitet sozusagen auf eigne Rechnung und Gefahr. Nicht um Gottes willen, wie die grauen Schwestern, wo man nachher doch immer geniert war durch die Erwägung, was man dann als freiwillige Gabe der Oberin schicken solle. Auch nicht als Mitglied eines Ordens. Nein, sie hat bloß gelernt im Rotenkreuzhospital und ist nun bei mir gegen festen Gehalt. Sie ist sehr arm, mußt du wissen, und ernährt noch einen kleinen Bruder. Ist das nicht sehr rührend?« fragte sie, trotz ihrer Warnung doch bestrebt, ihre Pflegerin für Hartard interessant zu machen und sie vor ihm ins beste Licht zu setzen.

»Gewiß ist es rührend, aber sie wird auch in dir eine so liebenswürdige Kranke haben, wie's keine zweite gibt.«

»Still,« sagte Christine, »sie kommt!«

»Hast du aber feine Ohren!«

»Ja,« sprach sie stolz, »ich höre am Schritt, wer durch die Halle geht.«

Die Thür öffnete sich, und Kleopha, mit einem großen, bunten Strauß in der Hand, erschien. Die leuchtenden Farben der Blätter und Blumen belebten die ernste Tracht des Mädchens.

»Kommen Sie, Schwester Kleopha, hier ist mein Sohn.«

Hartard stand auf. Er that, was er mußte: er reichte dem Mädchen die Hand.

Er sah es, Kleopha war verlegen. Sie neigte das Haupt und senkte die Lider, als sie ihm die Hand gab. Und zugleich hielt ihre Linke den strahlenden Strauß weit ab.

Ihre Erscheinung war in diesem Augenblick so von dem Zauber jungfräulicher Anmut umgeben, daß Hartard weder ihre Hand loslassen, noch das Auge von ihr wenden mochte.

»Ich danke Ihnen für alles, was Sie meiner Mutter thun,« sagte er warm.

»Ich thue nur meine Pflicht,« murmelte sie. –

Hartard mußte seiner Mutter den ganzen Vormittag widmen. Er fand das selbstverständlich, es entsprach auch seinem eigensten Bedürfnis. Aber dennoch regte sich in seinem Herzen die verzeihliche und natürliche Sehnsucht, einmal durch den Park und Garten zu laufen, um alle Stätten seiner Knabenspiele wiederzusehen.

Die Septembersonne schien so golden. Die graue Diana badete ihren langen Leib förmlich in der strahlenden Wärme. Und zur offenen Thür herein kam beinahe üppig Duft und Luft des herrlichen Morgens.

Seinen Vater sah Hartard erst zu Mittag wieder. Es war ein heißer Morgen gewesen. Eifrig erzählte Albrecht davon: das Heidekraut, das im Finkenbusch ausgerodet ward, kam den Häuslern von Rethen als Streu für ihre Kuh oder Ziege zugute, die gerechte Einteilung war anzuordnen und teilweise zu bewachen gewesen; auf der nördlichen Koppel, gegen Dolac zu, wurde gepflügt; Lehmler war dagewesen und hatte die sechs Mastschweine abgeholt und gehandelt, daß es zum Rasendwerden war; in der großen Scheune arbeitete die Dreschmaschine, sie war neu, es würde Hartard sicher interessieren, sie nachher zu besehen.

Während Vater und Sohn so sprachen, saß Kleopha schweigend.

Es war ihr peinlich, daß sich das Essen durch die Unterhaltung der Herren so viel länger hinzog, als sonst.

Albrecht zwar versuchte zuweilen, als erinnere er sich einer Höflichkeitspflicht, das Wort an sie mitzurichten. Hartard aber sprach gar nicht mit ihr.

Allein seine Blicke ruhten fast unausgesetzt auf ihrem Gesicht. Sie fühlte es. Es machte sie ängstlich und unglücklich. Sie hätte vom Tisch fortlaufen und weinen mögen.

Und einmal war ihr, als müsse sie ihn bitten, sie nicht so viel anzusehen, durch einen Blick nur zu bitten.

Sie sah zu ihm hinüber, und in dem Bemühen, nur recht klar und scharf seinen Gesichtsausdruck zu erkennen, ward ihr Blick viel eindringlicher und beredter, als sie ahnte.

Wieder ergriff ihn der Ausdruck dieser verschleierten Augen.

»Das ist ja ein bezauberndes Geschöpf,« dachte er und hatte dabei das angenehme Gefühl, daß er sich keinenfalls auf Rethen langweilen werde.

Kleopha ergriff die erste schickliche Gelegenheit, aufzustehen und fortzugehen.

»Nun, liebes Kind – kein Obst heute?« fragte Albrecht gutmütig.

»Ich danke sehr – nein,« sagte sie leise und öffnete schon die Thür.

»Ein taktvolles Mädchen,« lobte Albrecht, »sie denkt gewiß, sie stört heute.«

Hartard fand es bei sich etwas merkwürdig, daß sein Vater alle Tage im traulichen tête-à-tête mit solcher Schönheit gespeist hatte, ohne offenbar sonderlich viel acht auf diese Schönheit zu geben.

»Nun,« schloß Hartard seine Gedankenreihe, »ich hätte das nicht können. Ich hätte mich rasend verliebt. Aber schließlich bin ich auch ein junger Mensch, und Papa ist ...«

Hier stockten seine Gedanken. Nein, »ein alter Herr« war sein Papa keineswegs!

»Aber ein verheirateter Mann ...« Nein, der Gedanke traf auch nicht zu. So eine rechte Ehe war das doch nicht, die seinen Vater und seine Mutter verband. Sein Vater hatte an der armen Kranken doch kein rechtes Weib. Er trug sie nur mit namenloser Geduld und Aufopferung auf Händen ... sie war wie eine schwere, schwere Kugel, die an seiner Existenz hing. Und er – er gab sich mit wahrer Athletenkraft die Miene, nichts von diesem Schwergewicht zu spüren.

»Warum bist du denn mit einem Mal so nachdenklich?« fragte Albrecht.

»Ich – gar nicht,« sagte Hartard, sich aus beklemmenden und verwirrenden Gedanken aufraffend.

»Merkwürdig,« scherzte Albrecht, »drei Dinge geben die Menschen selten zu: daß sie gut geschlafen haben, daß sie eifersüchtig sind und daß sie nachdenklich waren. – Aber komm hinaus. Wir wollen unsre Cigarre draußen rauchen. Du wirst von der Güte meiner Sorte überrascht sein. Mein einziger kleiner Luxus – das muß ich so nach Tisch haben.«

Sie gingen draußen auf und ab und gingen in den Gemüsegarten. Die Sonne brannte dermaßen, daß die Nähe des Herbstanfanges wie eine Unmöglichkeit erschien.

Auf den langen, schmalen Beeten standen in sauberen Reihen die dunklen, glänzenden krausblättrigen Selleriestauden; auf andern die fahllila dicken großen Kugeln des Rotkohls auf dem schalenartig sich öffnenden Gebreite ihrer Deckblätter; zwischen einer Wüstenei von verwelkenden, heillos ineinander verrankten Stengeln und Blättern, lagen flach die leuchtend gelben Leiber großer Gurken. Es roch gewürzig, und Hartard brach sich im Vorbeischreiten ein Zweiglein Bohnenkraut vom Kräuterbeete.

Das waren die Gerüche seiner Kindheit, die dieser Garten ausatmete, hier war einmal seine Welt gewesen. Da in jener fernen Ecke befand sich einst sein eignes Beet. Die Petersilie und die Erbsen, die er darauf zog, wurden ihm von der Mama für schwindelerregende Preise abgekauft. –

Das breite Schilfband zwischen See und Garten war mannshoch. Kaum daß man über den Spitzen hinweg einen Streifen schuppig blanker Stahlfläche des Wassers im Sonnenschein schmerzhaft blinkern sah. Drüben die Ferne stand im bläulichen Silberduft der Hitze. Ein schmales Wasserweglein war in das Schilf geschnitten, so schmal, daß ein langer, schmächtiger, schwarzer Nachen eben hindurch getrieben werden konnte. Ein kleiner Steg ermöglichte dem Gärtner, hier gleich das Wasser zu schöpfen. Die Schilfwand ließ das schmale Wasserband beständig im Schatten.

Hart und grau, von braunen Blütenbüscheln überragt, stand das Röhricht. Zuweilen ging ein Rascheln hindurch. Die aufstrebenden Zweige der dickköpfigen beiden Weiden, die am Ufer rechts und links, wie Säulen mit plumpem Kapitäl das Widerlager des Steges flankierten, bewegten sich zuweilen leise, dann schimmerte es wie graue Seide aus ihrem Gezweig.

Der stille, üppige Frieden der Stunde und der Landschaft hatte für Hartard einen Zauber ohnegleichen.

Er breitete die Arme aus, als könne er an seine Brust nehmen, was seine Augen umfaßten.

»O, einzige Heimat!« rief er aus. Er hatte sich vorgenommen gehabt, gleich am ersten Tag seinen Vater zu bitten, ihn in die Wirtschaft einzuführen, ihn den Leuten als eine Art von Mitregenten vorzustellen. Aber irgend ein dunkles, wie von fern an sein Herz pochendes Gefühl von Bangen, von Scheu, hatte ihn davon abgehalten, seinen Vorsatz auszuführen.

Nun, in der sonnenglühenden Ruhe dieses Augenblicks, glaubte er zu begreifen, daß er wohl das instinktive Bedürfnis gehabt habe und noch ein Weilchen haben werde, sich in der Heimat vorerst als ein bloß Genießender, Schauender umzuthun. Und auf einmal fand er die Freiheit, es auszusprechen.

»Denk dir, Papa,« sagte er, »zuletzt auf meiner Reise konnte ich mich vor Thatendrang kaum lassen. Ich dachte beinah so: aus der Eisenbahn gleich aufs Feld, gleich in die volle Arbeit 'rein. Aber nun ist mir so, als sollte ich mir's gönnen, ein paar Tage noch zu bummeln – Weg und Steg in der Heimat zu grüßen – mein Gott, ich möchte jedem Baum sagen: Ich bin wieder da – ich bin wieder da –«

Er brach ab. Er war sehr bewegt.

Albrecht klopfte seinem Sohn herzlich auf die Schulter.

Er sah, das waren gute und starke Gefühle, die ihn bewegten. Wie sollte er es nicht achten, daß der Sohn ihm wiederkam, die reine echte Heimatliebe voll gesunder Kraft im Herzen!

»Zunächst, mein lieber Junge,« sagte Albrecht voll Herzlichkeit, »liegen dir auch noch allerlei Pflichten ob, die sich aber ganz gut mit den Wiedersehensfeiertagen verbinden lassen.«

»Pflichten?«

»Ja. Die: deine Mutter und deinen Vater kennen zu lernen,« sprach Albrecht ernst.

Hartard stand still und sah den Vater an.

Albrecht, in dem vollkommen innern Gleichgewicht seines Wesens, sah dem Sohn gerade in die Augen.

»Du warst zwölf Jahr, Hartard,« begann er, »als du fortkamst, aufs Gymnasium. Unser guter Zwota traute seinen Lehrkünsten, mit denen er die Gouvernante ergänzte, nicht weiter. Von da an bist du nur als Ferienbesuch nach Haus gekommen – als Schüler, als Student, als Freiwilliger, als Volontär – immer nur ein Gast, der Festzeit für das Haus mitbringt. Vielleicht ist dir darum Rethen das Ideal von Aufenthalt geworden. Aber glaubst du, daß du dabei deine Eltern wirklich kennen gelernt hast?«

Hartard wechselte die Farbe – sein Vater sah es deutlich, daß er blaß wurde.

»Es kann wohl sein,« sprach Hartard und sah an seinem Vater vorbei, »daß ich ... daß ... man beurteilt von ferne ja manches anders.«

»Komm,« bat Albrecht und ging auf das dürftige Bänkchen zu, das Hartard sich einst selbst neben seiner »Gärtnerei« gezimmert.

Die Bank krachte ein wenig, aber sie gab doch beiden Männern Platz, wenn auch Albrecht seine Füße etwas seitwärts und gespreizt auf den Erdboden stellte, wobei sich ihm Bohnengeranke an die Stiefel schmiegte.

»Sieh, mein Junge,« hob er gleich an, »das ganze Leben hier ist auf Mama gestellt, insofern nämlich, als sich alles um sie dreht. Ich muß dich bitten, deine nächste Aufmerksamkeit darauf zu richten, daß du Ma richtig zu nehmen lernst. Vergiß nie, daß sie dreiundzwanzig Jahr alt war, als das Schicksal sie so vom wirklichen Leben schied. Man kann gewissermaßen sagen: nun ist sie dreiundzwanzig geblieben. Sie war ja sehr kindlich als Mädchen und junge Frau. Das war ihr Zauber damals – ihre Unerfahrenheit, ihre Naivetät. Da sie nun von da an keine Pflichten mehr hatte, keine Arbeit, keine Sorge – so ist sie auf eine Art stehen geblieben. Auf eine andre aber ist sie viel feiner und tiefer ausgebildet, als andre Frauen. So etwas von Geduld und Zufriedenheit ist beispiellos. Freilich, man versucht, was man kann ... aber was ist alle diese Aufmerksamkeit gegen den Reichtum des wirklichen Lebens? Was wollte ich doch in der Hauptsache sagen? ... Ja, richtig. Für Mama dürfen keine Unannehmlichkeiten existieren. Die Ernten sind immer gut, die Ställe immer gesund, wir haben niemals Sorgen. Du verstehst. Und man muß alles sehen und wissen und bemerken und wiedererzählen können, was sich so an Kleinigkeiten ereignet. Das unterhält Ma. Nie darfst du versuchen, Mas Interesse auf Dinge zu lenken, die ihr fern liegen. Erstmal könnte ihr das den Unterschied zwischen ihrem Leben und dem Leben andrer klarer ins Gedächtnis rufen. Zweitens kann sie unruhig werden und sich Gedanken machen, wenn sie spürt, daß sie nicht zu folgen vermag, daß Wissen, Urteil, Auffassung mal nicht reichen.«

»Papa,« rief Hartard überwältigt, »Papa – o, Ma hat recht. Nie kann ich dir danken, was du ihr bist und thust.«

Albrecht wehrte den Sohn ruhig ab. Aber seine Wangen überflog es wie Blässe der Erregung, als er weitersprach:

»Du mußt mir heute gleich was geloben! Was sage ich: geloben? Schwören! Wir Fronhofen sind kein langlebiges Geschlecht. Wunderbar eigentlich – denn wir sind gesunde Leute, das läßt sich durch Generationen nachweisen. Aber das ist wie mit den Eichen, die der Blitz aufzehrt. Es ist immer viel Malheur dabei gewesen: mein Vater stürzte vom Pferd. Mein Großvater fiel im Duell. Zwei früher mal im Kriege. Hie und da allerdings starb einer in hohen Jahren. Ich weiß nicht, was mir für'n Los beschieden ist. Ich will auch nicht so vom Tod reden. Das wäre ja wohl 'n bißchen sentimental für einen Mann von eben achtundvierzig. Aber Ma, weißt du, Ma kann siebzig und achtzig werden bei ihrem Leiden und mich lange überleben. Und da sollst du es mir zuschwören, daß sie es immer so hat, wie jetzt! Du von dir aus glaubst heilig und fest: das sei selbstverständlich. Ja, mein Sohn – es ist wohl selbstverständlich. Aber – das Schwere daran, das liegt so in der Zeit! Immer, immer, immer dasselbe.«

Die ungeheure Wucht seines schweren Geschicks lag in diesen Worten.

»Immer, immer, immer dasselbe.« Es war Hartard, als höre er nun doch die Ketten klirren und sähe die schleppende Kugel daran.

Er war so erschüttert, daß er seine Hand vor die Augen legte, um seine Thränen zurückzudrängen.

»Ich schwöre dir ...« begann er mit unklarer Stimme.

Albrecht erhob abwehrend die Hand.

»Dir hilft die Liebe,« fuhr er fort, »dir, für dich, nehm' ich keinen Schwur ab. Du wirst aber einmal heiraten, eines Tages wirst du Herr auf Rethen sein, und eine Frau, deine Frau, wird neben dir als Herrin hier stehen. Wir kennen sie beide noch nicht. Es kann die kleine Montefort sein, es kann auch eine X, Z sein, von deren Dasein wir zur Stunde keine Ahnung haben. Für dieses dein Weib, für deine Kinder, für die ganze Zukunft und alles, was noch in dein Leben treten kann, schwöre mir, stets wie ein Mann die Ruhe deiner Mutter zu wahren und obenan zu stellen über alles Glück und alle Leidenschaft. Wie ich es gethan habe – in aller Not meines Lebens.«

Er stand vor seinem Sohn hoch aufgerichtet, und aus seinen dunklen Augen blitzte ein furchtbarer Ernst.

Hartard sprang auf. Überwältigt fiel er seinem Vater um den Hals.

»Mein Manneswort!« rief er.

So hielten sie sich einige Augenblicke mit eiserner Umarmung umschlossen.

Albrecht fand zuerst den leichteren Ton wieder.

»Nun komm zur Mama,« sagte er, »sie ist gewohnt, daß ich um drei Uhr meine Tasse Kaffee bei ihr trinke.«

Er nahm den Arm seines Sohnes. Zusammen schritten sie zurück.

»Wir beiden,« sprach er zuversichtlich, »wir brauchen nicht viele Worte miteinander über uns zu wechseln. Für uns heißt es, sich in der Praxis zusammen einleben. Wie das mit der Arbeit werden soll, ist mir zur Stunde noch unklar. Aber das wird sich ja alles historisch entwickeln. Im ganzen darf ich ja wohl von deinem Vater sagen, ohne arrogant zu werden, daß er ein Mensch ist, mit dem sich leben läßt,« schloß er lachend.

Hartard nahm zärtlich den Arm, der in dem seinen ruhte.

Vor dem Schloß fanden sich eine kleine Gruppe. Da stand Löbell, die Hände in den Hosentaschen, die Stallmütze schief auf dem Kopf und sprach, in einer schon von weitem zu erkennenden hochmütigen Haltung, mit einem Mann, der ein Pferd am Halfter hielt. Der Mann und das Pferd paßten nicht zusammen – das Tier sah aristokratisch, der Mann plebejisch aus.

»Das ist ja Rappsilber,« sagte Albrecht, »was hat denn der? Natürlich schon wieder ein Pferd, um mich damit in Versuchung zu führen.«

Rappsilber hatte ein Pferd zu verkaufen, und bei der Rückkehr des jungen, gnädigen Herrn hatte Rappsilber gedacht, daß am Ende der Herr Baron für den jungen Herrn Baron würde Reflektant sein auf das Tier, welches alles in allem ein auserlesenes Tier sei und nur für den Herrn Baron, und weil er es sei, für achtzehnhundert Mark zu haben.

Albrecht ließ den Mann reden, dem ein Wortschwall aus der großen Mundöffnung quoll, die nur noch ein paar kaffeebohnengleiche Zähne aufwies. Und Augen machte Rappsilber zu seinen Reden: schwimmende, verzückte Augen, die mit einem Blick gen Himmel noch sagen zu wollen schienen, wozu die Sprache zu schwach war.

Das Pferd erregte Albrechts Entzücken. »Es ist ein Mecklenburger,« sagte Rappsilber, von seinem allgemeinen Enthusiasmus darüber, wie der Herr Baron sich auf dem Fuchs ausnehmen würden, zu präcisen Angaben kommend, »aus englischer Mischung. Sehen der Herr Baron nur den geraden, schönen Kopf, die gerade Kruppe, die prachtvollen Schenkel, die feinen Fessel. Und 'ne Grazie hat der Wotan in der Bewegung! Davon sag' ich keinen Ton. Das ist einfach phänomenal.«

Herr Rappsilber rannte ein paarmal mit dem Pferd vor den Herren auf und ab.

Hartard sah in den Augen seines Vaters die Lust funkeln. Es war ersichtlich: das Pferd gefiel ihm sehr, er wünschte es zu besitzen. Er prüfte es mit der Genauigkeit eines intimen Kenners.

»Papa,« sagte Hartard, »ich an deiner Stelle nähme das Pferd. Herr Rappsilber läßt dreihundert Mark ab.«

Während Herr Rappsilber beschwor, daß davon niemals die Rede sein könne, schüttelte Albrecht den Kopf.

»Das geht nicht, mein alter Junge,« sagte er, »achtzehnhundert, oder selbst fünfzehnhundert. So was muß ich mir versagen, das ist Luxus.«

Hartard bestand darauf und meinte, er wolle des Vaters bisheriges Reitpferd nehmen.

»Nein, nein. Wir haben meinen ›Herzogs‹ und dann ist da die ›Juno‹, sie geht à deux mains. Nein, nein.«

Er wandte sich ab. Man merkte, es wurde ihm schwer.

Hartard hatte einen Einfall, der ihn vor Freuden erröten ließ. Sein Geld fiel ihm ein, daß er auf der Reise erspart. Wenn er dafür den Fuchs erstand ... Der Vater würde sozusagen pflichtgemäß schelten und sich doch sehr, sehr freuen.

Während Albrecht, Rappsilber kurz mit der Hand zuwinkend, davonging, flüsterte Hartard mit dem Händler.

Am Bette der kranken Frau saßen sie dann zusammen und tranken ihren Kaffee in einer Stimmung, als wenn es Sekt gewesen wäre.

Der tiefe Ernst ihres vorigen Gespräches klang noch in ihnen nach und erhob ihnen das Gemüt.

Dazu war Albrecht freudig und zufrieden, weil er einen lebhaften Wunsch überwunden und zum unendlichstenmal der Versuchung widerstanden hatte, sich ein kostbares Reitpferd zu gönnen. Hartard war freudig und zufrieden, weil er nachher mit Rappsilber handelseins zu werden hoffte und im voraus schon das Vergnügen seines Vaters genoß.

Christine lag da wie von Glück verklärt. Sie konnte gar nicht begreifen, daß man sich wegen des Zusammenlebens von Vater und Sohn gebangt habe. Da saßen sie ja beide, ein Bild der innigsten Harmonie. Und warum sollte es nicht immer so bleiben, wie es am ersten Tage war?

»Wir sind eine besondere Familie,« scherzte sie, mit ihrer leisen, fast klanglosen Stimme, die immer daran gemahnte, daß sie aus schwächstem Körper kam, »mein Mann ist mir Vater, Mutter, Bruder, Pfleger – alles, wie man es nennen will. Und du sitzt da, nicht wie deines Vaters Sohn, nein, wie sein Bruder. Ihr könntet euch überall den Spaß machen, euch für Brüder auszugeben.«

Und Albrecht und Hartard sollten vor den Spiegel treten, um sich zu überzeugen – aber da war kein Spiegel, und Christine ließ sie versprechen, nachher in Albrechts Zimmer diese Musterung ihrer selbst abzuhalten.

Als die beiden Männer abends in das Speisezimmer traten, fehlte Kleopha noch.

Sie blieben stehen und warteten. Albrecht sagte, daß er darauf halte, der Pflegerin seiner Frau immer wie einer Dame zu begegnen, was Hartard ein angenehmes Gefühl erweckte.

Er benutzte den Augenblick, zu sagen: »Was mir noch einfällt, Papa: ich schrieb dir von Geld, das ich auf der Reise erspart habe. Nun komme ich doch mit leeren Taschen, denn ich hatte noch im letzten Moment eine große Ausgabe, die du hoffentlich billigen wirst, wenn ich ...«

Albrecht lehnte mit einer Handbewegung die beabsichtigte Rechenschaftsablegung ab.

»Jeder junge Mann muß mal seine kleine Periode haben, wo er das Vergnügen des sorglosen Geldausgebens durchkostet. Das ist auch eine Art Rausch, die mal durchgemacht sein will.«

Kleopha kam herein.

»Sie sehen ja so blaß aus, mein Kind, fehlt Ihnen etwas?« fragte Albrecht, indem er sich setzte.

»Ich danke sehr. Ich fühle mich vollkommen wohl,« antwortete sie und wurde rot.

»Na nu!« rief Albrecht.

Unter seiner Serviette stand ein hölzernes Pferdchen aus einer alten Spielschachtel Hartards. Das Pferdchen trug einen Zettel um den Hals, der größer war, als es selbst. Darauf stand von Hartards Hand:

»Ich heiße Wotan und bin Albrecht Michael von Fronhofens Leibroß. Ich stamme aus Hartards Reisesparbüchse.«

»Aber das ist ja – du Junge! Du böser, guter, einziger Junge! Sehen Sie mal, Schwester Kleopha, was er gemacht hat.«

Hartard lachte glücklich.

»Rappsilber hat ihn richtig für fünfzehnhundert gelassen.«

Auch Albrecht lachte. Er umarmte seinen Jungen. Er freute sich wie ein Kind.

Aber die schönste Belohnung schien es Hartard doch zu sein, daß Kleopha ihn mit einem unbeschreiblichen Blick angesehen hatte.

Obschon er nun diese Nacht nicht wieder auf einer Chaiselongue zwischen gehäkelten Decken und gestickten Kissen zu ruhen brauchte, sondern in sein eignes Zimmer eingezogen war, in seinem eignen Bette lag, konnte er dennoch nicht schlafen.

Er sah immer die schönen, verschleierten. Augen vor sich.

Und daß er sie sah, beunruhigte ihn ernsthaft.

»Mama hätte mich nicht davor warnen sollen, mich in dies Mädchen zu verlieben. Nun ist mir gerade, als müsse ich's erst recht,« dachte er.

Aber er nahm sich bestimmt vor, sich in dieser Beziehung fest in der Hand zu behalten.


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