Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Kapitel


Die nächsten Wochen zerrannen Hartard unter der Hand wie eine Summe Geldes, das man in kleiner Münze ausgibt. Es ist zu Ende, und man weiß eigentlich nicht recht, was man dafür gehabt hat. Nur wenn man ein großes Resultat sieht, begreift man nachher, wo man mit der Zeit oder dem Gelde geblieben ist.

Zunächst machte Hartard seine Besuche in der Nachbarschaft, und dann kam die Jagd mit ihren vergnüglichen Anstrengungen und ihren Herrendiners auf allen befreundeten Gütern.

Jeder Besuch nahm fast den ganzen Tag fort; auf Hörstel, am Geburtstag der Frau von Stechow, hatten alle Freunde ihn eingeladen, bei ihnen gleich zu gutem Mahl und Trunk einzukehren.

Er wurde überall so aufgenommen, daß er sich etwas darauf hätte einbilden können. Aber er hatte das richtige Maß dafür und bestimmte sich den Wert all dieser Freundlichkeiten ziemlich richtig.

In jedem Kreis, in den ein neues Element tritt, entsteht eine Bewegung. Eine Art eifersüchtiges Bemühen um die Stellung zu diesem neu hinzugekommenen Menschen ist der erste Ausdruck solcher Bewegung. Alle Nachbarn und Freunde der Fronhofens hatten, jeder für sich, den Wunsch, daß Hartard gerade bei ihnen am intimsten und häufigsten verkehren möge.

Auch war der Kreis seit vielen Jahren so unverändert geblieben, daß selbst ein weniger stattlicher, weniger weltgewandter Dazukömmling eine freudige Aufnahme gefunden haben würde.

Außerdem war Hartard ein Mann in heiratsfähigem Alter, und es gab da drei junge Damen, für welche er momentan die einzige Aussicht schien. So beschäftigte sich die Phantasie von Müttern und Töchtern liebevoll mit ihm.

Man machte ihm den Hof, und er ließ es sich in bester Laune gefallen. Christine aber strahlte, und sie hatte auch einen bemerkbaren Nutzen davon. Die Freundschaft und Opferwilligkeit der Baronin Montefort für sie stieg erheblich. Jede Woche kam die Baronin mit Natalie einmal angefahren. Dies blieb nicht ohne Einfluß auf Christinens Meinung. Sie entschloß sich innerlich für Natalie Montefort als Schwiegertochter.

Sie arbeitete ganze Zukunftspläne aus, beschloß, daß die Trauung und Hochzeitsfeier hier im Schloß Rethen gefeiert werden solle, damit sie vom Bett aus möglichst viel daran teilnehmen könne, und weinte oft schon stille Freudenthränen im voraus über das Glück ihres einzigen Jungen.

Christine war nicht die einzige, welche die beiden schon verlobte. Eigentlich that es die ganze Gegend; nur Aulendorfs bestritten heftig die Möglichkeit und sagten, daß Natalie Montefort doch viel zu unbedeutend für einen Hartard von Fronhofen sei.

Es schien allen Leuten so, als mache Hartard dem Mädchen stark den Hof.

Und wirklich: mit ausdrücklichem Vorsatz beschäftigte Hartard sich immer viel mit Natalie, wenn sie sich trafen.

Er sah wohl, es war seiner Mutter Lieblingswunsch, und manchmal erschrak er geradezu darüber, wie weit ihre Phantasie sie vorwärts trug. Sein Verstand sagte ihm auch, daß eine vorteilhaftere Wendung seines Lebens gar nicht möglich sei. Das Mädchen war gut erzogen, hatte ein warmes Herz und ein offenes Wesen. Ihre Herkunft entsprach den Anforderungen, die Hartard als Majoratserbe von Rethen, dem Familienstatut gemäß, machen mußte. Sie brachte ihm Flieders zu, und die larmoyante Schwiegermutter brauchte ihn auch nicht zu genieren. Frau von Montefort hatte ihm einmal anvertraut, wenn ihre Tochter heirate, wolle sie nach Rom ziehen. Man hatte sie in Verdacht, katholisch werden zu wollen, was alle als ein Symptom der Verrücktheit auffaßten, nur Zwota nicht, welcher sagte, er halte es darin mit dem alten Fritz.

So lag alles günstig, und obenein war Natalie in ihn verliebt.

Jeden Tag stand er mit dem Gedanken auf, daß er sich im Laufe des Winters mit Natalie verloben wolle.

Und jeden Abend sagte er sich: Ich liebe sie nicht.

Er wartete förmlich darauf, sich in Natalie zu verlieben.

Er hatte sie von Herzen gern, sie war ihm in ihrer Erscheinung und ihrer Frische ästhetisch sogar hervorragend angenehm. Sie besaß keine einzige Eigenschaft, die ihn abgestoßen hätte. Schon daß er zwischen ihr und den Aulendorfschen Töchtern keinen Augenblick schwankte, nahm er für eine Disposition, sie zu lieben. Meta Aulendorf war ja geradezu eine Schönheit, mit ihren regelmäßigen Zügen, ihren großen Augen und dem braunen Haar. Aber sie hatte sehr oft Zahnweh und roch, wie ihre Mutter, manchmal nach Medikamenten, und wenn ihre Miene ernst, ihr Augenaufschlag schwermütig war, schob Hartard dies nie auf eine tiefgründige Seelenstimmung – in der Meta sich thatsächlich oft befand –, sondern er dachte immer: sie habe wieder Zahnweh. Und Lizzie Aulendorf hatte unter der stolz gebogenen Nase einen Mund, an dem die Oberlippe zu kurz und zu eng war, was ihr ein für allemal einen gezierten Ausdruck gab. Hartard konnte die Frauengesichter nicht leiden, die nicht veränderlich waren, wie der Himmel. Er wollte Leben, Charakter, ja sogar Unarten von einem Gesicht ablesen und alles darüber hinspielen sehen, was gerade die Seele bewegte.

So ein Gesicht, immer neu im Ausdruck, bald von schwerem Ernst verschattet, bald von herzlichem Mitleid verklärt, einmal von ratloser Befangenheit weich und zart, ein andermal von auftrotzendem Stolz herb und strafend, so ein Gesicht hatte Kleopha.

Und immer wirkte es noch anziehend durch das geheimnisvoll Rätselhafte, was darüber lag.

Hartard verspottete sich und dies »Rätselhafte« und suchte sich alles in Banalität aufzulösen.

»Die ganze Geschichte ist,« dachte er, »daß diese kurzsichtigen Augen, die sich manchmal halb schließen und dann so groß und dunkel öffnen, wobei es auch dann noch über ihnen liegt wie ein Schleier, ihr etwas Hingebendes, versteckt Temperamentvolles andichten, was vermutlich gar nicht in ihr steckt. Ein zufälliger, äußerlicher Vorgang – weiter nichts. Ich will ihr doch raten, einen Kneifer zu tragen. Damit dürften diese Augen entzaubert sein. – Und das Rätselhafte? Mein Gott, man ist so gewohnt, junge Mädchen plauderhaft zu sehen. Hier ist mal eine, die schweigt. Da sieht es gleich wunder wie interessant aus. Und worüber sollte sie auch wohl sprechen? Von sich? Von ihrer Sippe? Sie kann uns nicht weiter interessieren, sie pflegt Mama und wird dafür bezahlt. Und ihre Sippe geht uns erst recht nichts an. Übrigens muß sie aus einer sehr guten Familie sein. Manieren und Ausdrucksweise deuten auf beste Erziehung. Vielleicht war der Vater Arzt oder Pastor – das kann sie immerhin auf diesen Beruf gelenkt haben.«

Längst war ihm aufgefallen, daß sie nur sehr selten Briefe bekam. Jeden Dienstag morgen erhielt sie einen, der den Poststempel Plön trug und von einer Kinderhandschrift adressiert war. Das hatte er zufällig entdeckt, als er ein paarmal dem Postboten die Sachen abnahm. Und dann, nach dieser Entdeckung paßte er geradezu auf. Er wollte doch einmal sehen, ob sie nicht Briefe von Herrenhand bekam. Es hätte ihn gefreut, die Vermutung hegen zu dürfen, daß sie draußen irgendwo eine Liebschaft oder eine Verlobung habe. Aber es kamen keine solchen Briefe.

Eines Tages, es war Mitte Oktober, hatte der Postbote einen eingeschriebenen Brief an Fräulein Kleopha Reineck. Es war ein Geldbrief und brachte hundert Mark. Hartard, der gerade aus dem Zimmer seiner Mutter kam, faßte den Briefträger in der Halle ab, sah den Brief und sah auch als Absender blaugestempelt das Wort »Reineck«. Es war gerade so ein ovaler Stempel, wie er auf Rethen bei Geflügel, Obst- und Buttersendungen nach auswärts benutzt wurde.

Hartard ging zurück und rief in das Zimmer hinein:

»Fräulein, hier ist ein Geldbrief für Sie.«

Er sagte nie »Schwester Kleopha«. – »Das ist mir zu heilig, Mama, und sie ist ja doch gar keine Nonne,« erklärte er lachend, als Christine sich darüber wunderte. Es war ihr ein wenig zu prosaisch, das schöne Mädchen in der klösterlichen Tracht »Fräulein« angeredet zu hören.

Auf seinen Ruf kam Kleopha heraus. In der Halle war es an diesem Morgen sehr düster, denn es regnete draußen dicksträhnig.

»Ist sie so leichenblaß oder ist es bloß das schummerige Licht?« dachte Hartard.

Aber nein, sie war so bleich, und sie zitterte am ganzen Leibe. Er sah es genau, als sie am Tisch, in der Fensternähe, ihren Namen als Quittung auf die rötliche Karte setzte.

Auf der Stelle bildete er sich ein, daß mit diesem Gelde etwas für sie Beschämendes zusammenhänge, etwas, das sie zu verstecken habe.

Sein Herz klopfte in schweren Schlägen, seine Blicke bewachten sie. Keine ihrer Mienen sollte ihm entgehen, keine ...

Und er sah, daß sie ihr Haupt hoch aufrichtete, daß ihre Nasenflügel bebten und daß um ihren Mund eine unsägliche Verachtung zuckte. Sie sah aus wie der beleidigte Stolz selbst.

Seine Augen blieben unverwandt auf sie gerichtet. Er dachte gar nicht daran, daß er ihr zudringlich erscheinen könne.

Kleopha aber, die seit dem Gespräch mit Albrecht begriffen hatte, daß der Wunsch, sich und ihre Angelegenheiten zu verstecken, thöricht war und ihr schade, fühlte sich seitdem gedrängt, offen zu sein, soweit es ging. Vielleicht trieb sie auch das unwiderstehliche Bedürfnis der Empörung aufzuschreien.

Als der Briefträger die zehn blanken Goldstücke auf den Tisch gezählt hatte, wo er schon die Zeitungen und Briefe vorher niedergelegt, sah Kleopha mit immer demselben Ausdruck der Verachtung auf das Geld nieder. Und kaum schloß der Mann die Thür von draußen, sagte sie bitter:

»Heut ist mein Geburtstag, und dies ist das Geschenk und zugleich einzige Lebenszeichen reicher Verwandten für das ganze Jahr!«

Hartard war bestürzt, schmerzlich und freudig zugleich erregt.

Also sie hatte nichts Beschämendes zu verstecken. Und er hatte sie in seinem eifersüchtigen Herzen schon beleidigt gehabt! Und wie mußte dies Geschenk sie gekränkt haben, wenn sie in ihrer Erregung verriet, daß ihr Geburtstag war!

Diese hundert Mark beleidigten auch ihn. Sie waren ein Almosen. Kleopha brauchte keines. Sie war stark genug, aus eigner Kraft für sich zu sorgen.

»Warum weisen Sie dies Geld nicht zurück!« rief er aus.

Sie neigte das Haupt. Ihre Empörung hatte, im Augenblick, da sie ausbrach, schon dem Schreck über ihre Offenheit Platz gemacht.

»Ich darf die Verwandten nicht kränken – meines kleinen Bruders wegen – sie geben etwas zu seiner Erziehung her und wollen ihm auch später die nötigen ...«

Sie stockte.

»Wo ist dieser kleine Bruder? In Plön, nicht wahr? Was macht er da? Ist er bei einem Lehrer in Pension? Wir wollen ihn einmal kommen lassen, Ihnen zur Freude! Jetzt gleich – Ihnen als nachträgliches Geburtstagsgeschenk.«

Er sprach so ungestüm, so feurig, daß ihr vor Schreck die Kniee bebten.

Alle Reden seiner Mutter fielen ihr ein. Todesangst ergriff sie.

Hartard durfte ihr nicht so viel Teilnahme zeigen – das konnte falsch ausgelegt werden – es war dann um ihre Stellung geschehen.

Und sein heißer Ton that ihr doch so wohl. Es wehte sie an wie lauter Freude und Glück, als Hartard nun ihre Hand nahm und sie stark drückte.

»Meine wärmsten Wünsche! Und nicht wahr, Sie nehmen es als kleine Aufmerksamkeit an, als Dank für all Ihre treue Pflege, daß wir den kleinen Burschen kommen lassen? Ich habe Knaben riesig gern. Ich werde ihn reiten lehren.«

»Es geht nicht,« murmelte Kleopha, »es geht wirklich nicht – er hat auch gerade keine Ferien – o, wie gut von Ihnen.«

Und sie brach in Thränen aus.

Nicht wie sein Vater war Hartard gegen Thränen etwas abgehärtet.

Dieser Ausbruch erschütterte ihn tief und machte ihn ratlos und unglücklich zugleich.

»Das Mädchen leidet unter dem Kampf ums Leben,« dachte er, »es ist unsre Pflicht, ihr beizustehen, immer und immer wieder zu versuchen, sie zutraulicher zu machen, mehr an uns heranzuziehen. Jetzt ist es mir klar: sie ist aus Stolz so schweigsam.«

Er hätte die Halle in einen prangenden Festsaal, das scheußliche Wetter draußen in lachenden Frühlingssonnenschein umwandeln mögen, nur um die Weinende aufzuheitern.

»Liebes Fräulein,« flehte er und nahm ihr die Hände vom Gesicht, »weinen Sie nicht. Ich kann es nicht ertragen, wenn jemand weint.«

Er war in diesem Augenblick wie ein liebenswürdiger Knabe.

Kleopha sah ihn an – ein Lächeln breitete sich über ihr Gesicht – ein armes, zaghaftes Lächeln, welches ihm noch mehr das Herz zerriß, als ihre Thränen.

Ihm wurde die Stirn heiß und feucht.

»Mein Gott ...« murmelte er und dachte hilflos nach, wie diese Situation zu enden sei und daß sie um jeden Preis schnell enden müsse, sonst würde er sich noch hinreißen lassen, diesen so schmerzlich lächelnden Mund zu küssen.

Dora kam als Erlöserin. Mit ihrer zierlichen Gestalt und ihrer selbstbewußt wichtigen Art kam sie die Treppe herunter, sah das Paar ein bißchen erstaunt und sehr genau an und verschwand im Hintergrund der Halle, wo hinter der Treppe noch ein Schrankzimmer war.

»Ich will nach Mama sehen,« sagte Hartard hastig und ging davon.

In voller Erregung glühend, trat er bei seiner Mutter ein.

»Mama,« rief er, »dein Fräulein Reineck hat Geburtstag. Der Postbote brachte Geld für sie, und dabei kam es heraus. Du wirst ihr natürlich irgend eine Aufmerksamkeit erweisen wollen. Aber ich sag dir gleich: so zart als möglich. Denn die Ärmste muß sich von reichen Verwandten durch plump gegebenes Geld demütigen lassen.«

Das war nun etwas für Christine. Das gab dem abscheulichen Regentag doch ein bißchen Inhalt. Mit kindlichem Eifer machte sie eine Unmenge Vorschläge. Aber sie waren alle thöricht, sie sah es selbst ein.

Die wenigen kleinen Schmucksachen, welche sie aus ihrer Mädchenzeit besaß, hatten damals nur Reiz und Wert durch ihre modische Form gehabt. Jetzt waren sie so häßlich, daß man sie niemand schenken konnte. Den Schmuck, den Albrecht seiner Frau gegeben: Collier und Brosche zur Hochzeit, Armband und Haarnadel zu Hartards Taufe, war alt Fronhofener Familienbesitz und viel zu kostbar, abgesehen davon, daß man ihn gar nicht verschenken konnte.

Nach Trebbin reiten konnte Hartard bei dem Wetter doch auch nicht, und schließlich, was hätte er, der Mann, dort kaufen können? Frauen finden immer etwas.

Christine war schon drauf und dran, zu weinen. Da sagte Hartard:

»Ich habe noch allerlei Kleinigkeiten von der Reise, Ma. Allerlei bunten Tand aus Italien. Was meinst du, wenn ich davon was holte?«

Nun flackerte die Freude Christinens wieder auf.

Und Mutter und Sohn bauten nun einen kleinen Geburtstagstisch auf. Die Mutter halb aus Güte, halb um sich zu zerstreuen, und sie dachte gar nichts dabei, daß sie ihren Sohn treppauf treppab laufen ließ, daß er unterm Regenschirm draußen nach ein paar verkümmerten Rosenknospen suchen mußte, und daß er alles so willig that.

Als Kleopha mit dem Mittagessen für ihre Kranke hereinkam, fand sie ein phantastisch mit welken Blättern, Tannenzweigen und verspäteten Herbstblumen geschmücktes Tischchen, auf welchem eine kleine Majolikavase, ein Kupferschälchen und ein rotseidener, römischer Shawl lag.

Ihr Gesicht erglühte. Hartard sah es auch genau, daß ihre Finger zitterten. Aber in schicklicher Haltung sagte sie ihren Dank und küßte Christinen ergeben die Hand.

»Sie hat Takt, sie hat sehr viel Takt,« dachte Hartard.

Bei Tisch hörte der erstaunte Albrecht von der festlichen Bedeutung des Tages. Mit herzlichem Wohlwollen sprach er seine guten Wünsche aus. Hartard fand seine Haltung zu vornehm, zu sehr die Entfernung zwischen Fronhofen und Reineck betonend. Aber er blieb doch sehr froh erregt.

Als sie dann um drei Uhr bei der Kranken ihren Kaffee nahmen, fand Hartard die Stimmung seiner Mutter etwas verändert.

Irgend etwas schien sie sehr zu beschäftigen und zu beunruhigen. Und sie kam auch schnell damit heraus.

Wie ihre Gewohnheit war, strich sie mit platten Händen den Saum ihres Betttuches glatt und sprach mit ihrem kindlich schmollenden Ton:

»Ich glaube, es war unklug, für Schwester Kleopha einen solchen Tisch aufzubauen. Es war zu viel. Ich hätte ihr wohl nur versprechen sollen, ihr nachträglich etwas Nützliches kaufen zu lassen. Und Dora sagt, du hast so intim mit ihr in der Halle gesprochen – ach Gott, Hartard, setze ihr nur nichts in den Kopf, verliebe dich nur nicht in sie.«

Er wurde ganz blaß. Ein großer Zorn stieg in ihm auf. Es war seine Mutter zwar, seine arme kranke Mutter, die ihm das sagte. Aber er fand eine unzarte Einmischung in seine eigensten Angelegenheiten darin, ein Tasten an gefährlichsten Dingen.

Ein ungestümes Wort, vielleicht eine schroffe Zurückweisung brannte ihm auf den Lippen.

Da traf sein Blick mit dem Blick seines Vaters zusammen. Er las in dem dunklen Auge eine Mahnung ...

Sein Zorn verflog. Aber eine jämmerliche Stimmung blieb zurück.

Nachher verbrachte er den Abend in seinem Zimmer, unter dem Vorwand, Briefe an einige Reisebekannte schreiben zu wollen.

Aber er saß brütend vor seinem Schreibtisch. Im Hause war es still, kaum daß ab und zu unten einmal eine Thür ging und Schritte hallten.

Draußen strich noch immer der Regen nieder. Er erfüllte die Luft mit einem gleichmäßigen Raunen und Summen.

Die Lampe brannte still und weiß und warf ihr Licht auf unbeschriebene Briefbogen.

Hartard fühlte sich außer stande, zu schreiben. Ihm war, als habe er bisher noch in der Festfreude des Wiedersehens gelebt und als sei mit heute nachmittag der Alltag angebrochen. Er begriff wieder einmal und mehr als je, daß das Leben seines Vaters beinahe ein Märtyrerdasein war. Aber nein – so jung, so zufrieden, so klar, so kraftvoll kann doch jemand nicht aussehen, der sich als Opfer, nur als Opfer fühlt!? Hartard begriff es nicht. Er für seine Person fürchtete, in ähnlicher Lage so vieler Größe und Geduld nicht fähig zu sein.

Die Liebe freilich, so sagte man, könne alles. So war es denn vielleicht die Liebe, die unerloschene Liebe zu seinem Weibe, die seinem Vater die Kraft gab, alles zu tragen.

Dieser Gedanke rührte Hartard so sehr, daß er in seiner Seele seiner armen kleinen Mama seine Zornesaufwallung abbat.

Vielleicht war es auch sehr gut gewesen, daß sie so unbefangen mit ihren Kinderhänden auf eine Gefahr hingedeutet, die für ihn schon brennend geworden.

Er begriff es, daß alle seine Gedankenwege nur zu dem einen Ziel führten: Kleopha. Gar nicht mit bestimmten Wünschen oder Hoffnungen, sondern ganz unwillkürlich und unbewußt.

»Das soll nicht sein, das kann nicht sein,« dachte er.

Nur diese gänzliche Unthätigkeit war der Grund, daß seine Gedanken von dem Bilde eines schönen Mädchens, das doch nun einmal nicht für ihn bestimmt war, so angefüllt werden konnten. Er brauchte Arbeit, einen, seiner frischen Kräfte würdigen Lebensinhalt.

Es kam ihm vor, als langweile er sich maßlos.

Gleich jetzt wollte er hinuntergehen und seinen Vater bitten: laß uns teilen mit der Arbeit.

Aber er blieb wie gelähmt sitzen. Da war ja nichts zu teilen. Unten, in seinem Zimmer saß sein Vater über den Büchern oder erledigte einige geschäftliche Korrespondenzen. Das war keine Sache, die einer besorgen konnte, der in den Betrieb von Rethen nicht eingeweiht war.

Und wie in dieser Stunde, so war es morgen und alle Tage. Die Felder wurden gepflügt und bestellt, sein Vater hatte die Fruchtfolge bestimmt und hätte nur Mühe davon gehabt und keinerlei Nutzen, nun dem Sohn zu erklären: auf diese Koppel kommt Roggen, jene bleibt brach etc. Zu beaufsichtigen gab es auch gar nichts, denn Albrecht ritt jeden Morgen und jeden Nachmittag selbst auf die Felder. Auf Rethen zog man aus allem Nutzen, was Boden, Ställe und Garten nur produzierten. Im Grunde genommen war es eine Art Kleinhandel mit Wild, Obst, Gemüse, Butter, und alles ging an einen bestimmten Zwischenhändler per Bahn nach Berlin. Schweine wurden gemästet, aber nicht gezüchtet. Wenn man im Jahr zwanzig Stück verkaufte, war es viel. Ab und zu holte der Schlachter ein Kalb aus dem Stall.

Dies alles mußte von einem Willen geleitet, von einem Auge übersehen werden. Es gab auf Rethen weder Zuckerfabriken noch Branntweinbrennereien. Rethen war ein alter, vornehmer Feudalbesitz und wurde so bewirtschaftet – neben dem Getreidebau, der Hauptsache, ging nach altem Herkommen eine möglichst vollständige Ausnutzung der kleinen, natürlichen Einnahmequellen.

Hartard wurde, wie er sich so alles überlegte, sehr schwer ums Herz. Er sah wohl ein: Rethen ertrug nur einen Besitzer, nur einen Herrn.

Konnte er seinem Vater sagen: gib Platz für deinen Sohn?!

Ließ nur der Tod das Recht des einen Besitzers erlöschen und das des Nachfolgers erstehen? So oben hin, so landläufig – ja, und immer wieder ja.

Aber dann war jeder Sohn von vornherein zur Tragik bestimmt, wenn seine Anlagen und Neigungen ihn durchaus auf den Beruf des Vaters verwiesen.

Darin lag doch eine Ungerechtigkeit der Natur, des Schicksals.

Vielleicht lag auch ein Hinweis darin, daß Männer erst so spät heiraten sollten, daß ihr Sohn ihnen gerade zum Nachfolger herangereift ist, wenn sie eines solchen bedürfen.

Man soll nicht kraftvolle Hände schaffen, wenn man keine Streitaxt verfügbar hat, die man hineinlegen kann.

Eine tiefe Mißempfindung durchkältete Hartards Herz. Ihm war, als sei er durch jemand um ein Recht geschmälert.

Das Recht und das Bedürfnis seiner Persönlichkeit sollte ihm unerfüllt bleiben. Er hatte nur einen Lebenswunsch, und der war: die heimatliche Scholle zu bebauen.

Aber auf der stand mit festen Füßen ein stolzer Mann, der mit kraftvollen Händen säete und erntete.

Ja, sein Vater stand da und ihm im Wege – –

Hartard erschrak. Er war ganz blaß geworden. Er hatte deutlich, ganz deutlich so etwas empfunden, wie einen Vorwurf gegen seinen Vater, eine Regung von Zorn beinahe – –

Wie war das möglich? Bei ihm, der seinen Vater vergötterte!

»Der Egoismus in uns ist eine Bestie,« dachte Hartard. »Die springt sogar unsre Heiligtümer mit ihrem Raubtiersprung an.«

Nein, er wollte diese fruchtlosen Gedanken nicht weiter verfolgen. Er hetzte seine Phantasie förmlich auf freundliche Bilder.

Natürlich, jetzt im Herbst war die Arbeit so minimal, daß eine Teilung derselben lächerlich gewesen wäre. Aber zum Frühling wurde es anders, mußte es anders werden. Und vielleicht konnte er den Winter dazu benutzen, seinen Vater für irgend ein Unternehmen zu bestimmen. Man konnte eine bescheidene Hypothek auf Rethen nehmen und dann irgend eine fabrikmäßige Anlage machen: eine Brennerei, eine große Geflügelzucht, eine Dampfmühle – irgend etwas, was den Betrieb mannigfaltiger machte und ihm zur Aufgabe ward.

Und das andre, das müßte wie weggewischt sein ... er fühlte wohl, noch eine Begegnung wie die heutige mit Kleopha, und die Thorheit, ja das Verbrechen wäre geschehen. Denn er rechnete es als ein Verbrechen, ein armes Mädchen, das er nicht heiraten durfte, durch sein Wesen glauben zu machen, er liebe es.

Er dachte gar nicht daran, sie zu lieben. Er bewunderte bloß ihre Schönheit. Und dann hatte er ein bißchen Mitleid. Das war einfach alles.

Nachdem er sich das bewiesen, schien ihm, als sei ihm wieder besser zu Mute.

Er nahm sich auch nochmals und zum unendlichstenmal vor, nun mit vollen Segeln auf eine Verbindung mit Natalie loszusteuern.

Der nächste Tag schon gab ihm die Gelegenheit.

Die Baronin Königsegg hatte ihre Freunde zu einem festlichen Frühstück eingeladen. Es war nahezu derselbe Kreis, der damals den Geburtstag von Alexandras Mutter mitgefeiert hatte. Meta und Lizzie von Aulendorf fehlten diesmal nicht, auch war aus Berlin der Generalmajor von Stechow, ein Vetter der Frau von Stechow, mit seinem Sohn, einem Sekondeleutnant, zugegen.

Lizzie Aulendorf schwenkte gleich in das militärische Lager über.

Aber die leider wieder etwas nach Kreosot duftende Meta setzte Hartard mit ihrem seelenvollen Augenaufschlag von rechts zu, während Natalie Montefort von links her ihren strahlenden Übermut vor ihm funkeln ließ. Ihm war ganz wohl dabei. Dies Anschwärmen der jungen Damen machte ihm Vergnügen, beunruhigte ihn aber nicht weiter, weil er es für nicht mehr hielt, als sein eignes Benehmen bedeutete. Das waren kleine Vorpostengefechte. Ehe man zum ganz ernsten Kampf überging, mußte man sich innerlich doch klarer sein.

Er fand Natalie heute besonders reizend. Ihr dunkelblaues Tuchkleid stand ihr sehr gut. Er bemerkte auch, daß sie eine sehr hübsche kleine Hand hatte.

Die jungen Damen bejammerten, daß sie beinahe nie Gelegenheit zum Tanzen hätten. Man müßte schon gerade nach Berlin zum Besuch von Bekannten fahren.

»Heute ginge es beinahe. Wir drei Mädchen sind da. Und dann die Baronin Königsegg. Herren? Na ja, Herrn von Calatin kann man rechnen. Auch Ihren Papa und Sie und Herrn von Stechow. Es sind immer vier Paare. Und Zwota kann spielen,« sagte Natalie.

»Der Pastor?« fragte Leutnant von Stechow.

»Er kann eine Polka – er nennt es noch einen Schottisch – und einen Walzer. Zwei ganz altmodische, aber mit famosem Rhythmus.«

»Wir müssen leider um sechs Uhr am Zuge sein,« bemerkte Stechow.

»Nach Tisch, bis zum Thee,« meinte Lizzie Aulendorf, »das ginge.«

»Wir wollen lieber im Park was anfangen – Tennis oder dergleichen,« meinte Meta, die dann auf ein paar ungestörte Minuten mit Hartard rechnete. Sie wollte ihn etwas Wichtiges fragen.

»Es ist viel zu kalt und zu naß,« behauptete Natalie.

»Aber ich bitte dich, die Sonne scheint, und es ist beinahe auffallend warm,« sagte Meta mit gereiztem Ton.

»Es hat die ganze Nacht geregnet,« antwortete Natalie, mit förmlicher Macht die ganze Nacht betonend.

»Das haben Sie gehört? Haben Sie denn nicht geschlafen?« fragte Hartard.

Ganz leise sagte Natalie: »Ich freute mich so auf heute.«

Er hörte es, obgleich gerade Meta ihn fragte, was er vorzöge, den Park oder Tanz. Es rührte ihn.

Er sah Natalie in die Augen. »Gutes, liebes, kleines Ding,« dachte er.

»Ich fragte, ob Sie lieber tanzen würden, oder es vorzögen, wenn wir uns im Freien die Zeit vertreiben,« fragte Meta nochmals.

»Ich bin für Natur,« antwortete er scherzend. Daß er auf ihren Vorschlag einging, nahm Meta geradezu für ein bedeutungsvolles Zeichen. Sie sah Hartard mit ihrem tiefsten Blick an.

Gegen halb zwei Uhr hatte man abgegessen. Die jungen Mädchen stürmten hinaus und knöpften sich in ihre Jacken. Natalie drückte ein Filzbarett mit zwei dicken Pompons verziert auf ihren blonden Kopf. Die beiden Aulendorfs hatten schon ihre neuen Winterhüte und prangten mit wogenden Straußfedern.

Das Gefühl, einen neuen, prachtvollen und kleidsamen Winterhut zu haben, während Natalie noch mit ihrem vorigjährigen Toreadorbarett umherlief, gab Meta ein erhöhtes Bewußtsein ihrer Persönlichkeit. Zu ihrem Bedauern und zu ihrer Überraschung gesellte sich Herr von Calatin zu ihr und verließ sie nicht mehr.

»Mein Gott,« dachte sie, »Calatin wird sich doch nicht in mich verlieben? Man sagt doch immer, daß er die Königsegg so gern mag. Nun, vielleicht war das vorigen Winter, wie ich noch in der Pension steckte.«

Sie hätte zu gern heimlich an Hartard eine Frage von entscheidender Wichtigkeit gestellt. Sie wollte ihn fragen, ob er einmal von seiner Frau die Mitteilung ihres Tagebuchs aus der Jungen Mädchen-Zeit verlangen werde.

Was würde er denken, daß Calatin nicht von ihrer Seite wich? Er würde eifersüchtig werden. Vielleicht trieb es ihn rascher dazu, sich zu erklären.

Roderich von Calatin ertrug es einfach nicht, mit Alexandra zusammen zu sein. Er schwor sich jedesmal, er wolle absagen, verreisen, und kam doch immer wieder dahin, wo er sie sehen konnte. Vielleicht daß sie dennoch, dennoch eines Tages ihm ein Wort, einen Blick der Hoffnung gönnte.

Er untersuchte es selbst nicht, ob es Beharrlichkeit der Liebe oder des Trotzes war. Genug, er konnte nicht von seinem Plane lassen.

In einem Moment, da sie sich mit strahlendem Lächeln zu Albrecht wandte, dachte er respektlos:

»Ich werde mit den Gänsen gehen.«

Er konnte die Aulendorfs nicht leiden, Lizzie schon gar nicht, Meta schon etwas eher, weil er sie trotz ihrer Sentimentalität und ihrem Zahnweh für ein gutes Ding hielt. Natalie und Hartard wollte er nicht stören. Der Sohn Albrechts sollte sich nur rasch verloben, das gab dann lauter neue ehrwürdige Ämter für Albrecht.

So kam es, daß Hartard sich allein mit Natalie befand, als er sich einmal umsah, weil er keine Stimmen mehr hörte.

Ihn überkam sogleich ein beklemmendes Gefühl. Auch Natalie schien verlegen.

»Lizzie hat sich mit dem Leutnant seitwärts in die Büsche geschlagen,« scherzte sie etwas erzwungen. »Ich glaube, die beiden werden uns noch Gelegenheit zu allerlei Festen geben. Schon im Frühling, als er mal hier war, dachten wir, es käme zur Verlobung.«

Hartard schwieg.

»Es muß schön sein, sich zu verloben,« sagte sie plötzlich naiv.

»Aber auch sehr verantwortungsvoll!« antwortete er ernst.

Sie gingen weiter in den Park hinein.

Die Rasen und Büsche rings troffen von einer starken Feuchtigkeit. Auf den Baumpartien des Parkes spielten alle Farben. Buchen standen im roten, sich lichtenden Blätterschmuck, tief grün bewahrten noch die Erlen ihr volles Laub, dazwischen streckten schon kahle Akazien ihre nackten Reiser in die Luft. Auf dem grünen Rasen lagen in wildem Fleckenwirrwarr die weißen Zackenblätter von Silberpappeln, braune Lindenblätter, leuchtend gelbe, lederdicke und blanke Birnbaumblätter; alle fest aufeinander und aneinander und auf den Grund geklebt, von der schweren Nässe.

Die vorn am breiten Wege lang sich hinab erstreckenden Rabatten waren noch nicht zur Winterruhe vorbereitet. Die Reihe der hochstämmigen Rosen stand in üppigem Laub, grau perlte es von Tau- oder Regenresten auf allen Blättern, und den harten Knospen sah man an, daß ihnen keine Blüte mehr beschieden sein werde. Dazwischen, auf der fetten, schwarzen, von Buchsstreifen eingefaßten Erde, wucherten, nicht mehr gepflegt, allerlei Herbstblumen. Ihre Blätter der Erde zunächst waren verrottet, und auch die Astern und Cinnien selbst schienen angefault.

Über dem Landschaftsbild, das wie verwaschen von Thränen, wie durchrunzelt von Alter erschien, spannte sich ein leuchtend blauer Himmel. Die Sonne schien mit gelbem Messingglanz.

Hartard und Natalie gingen den ganzen Weg entlang, der den Park in zwei Hälften spaltete und sich durch eine muldenartige Bodensenkung hinab und hinauf zog. Am Ende des Weges und der Parkgrenze stand eine Art von primitiver Schutzhütte, von welcher man zurück auf das in anmutigem Stolz sich erhebende weiße Schlößchen sah und voraus auf die stille Landschaft.

Auf vier klotzigen, geschälten Baumstämmen, die wenig über Manneshöhe schon abgeschnitten waren, ruhte ein merkwürdig dickes, viergiebeliges Strohdach, altersgrau, von grünlichen Moosen stellenweise gefleckt. Ein Staket von naturalistisch zusammengenagelten Birkenstämmchen schloß als Grenze auch zugleich den Raum des Schutzhäuschens gegen das Feld ab, das hier erheblich tiefer lag.

Die beiden jungen Menschen standen, die Ellenbogen auf den obersten Querstamm des Zaunes gestützt und sahen in die Gegend hinaus.

»Warum er wohl keinen Ton sagt?« dachte Natalie.

»Sie erwartet vielleicht eine Liebeserklärung,« dachte Hartard und fühlte, daß ihm eine solche nicht von den Lippen wolle. Noch nicht! Denn er fühlte sich Natalie heute so merkwürdig nahe. Sie war ihm noch niemals so sympathisch gewesen wie heute, ja, wie eben jetzt, da sie so träumerisch wartend neben ihm stand und in den sonnigen Herbst hineinsah.

Ein umgepflügtes Feld breitete sich mit seinen Furchen und zusammengeballten, schweren Erdklumpen nah vor ihnen aus. In den tiefen Rinnen, die der Pflug gezogen, stand, blanken Stahlflecken gleich, hier und da ein wenig Wasser. Spatzen hüpften mit ihren kurzen, federnden Sprüngen hin und her. Die fahlen Farbentöne eines riesengroßen Stoppelfeldes schlossen sich an das fette Braun des frisch umgebrochenen Ackers. Rechts war diese Grenzlinie einmal unterbrochen. Dort standen, um einen teichartigen Wassertümpel, einige Birken. Ihre weißen Stämme und ihre dünnen Zweige waren bis in die feinsten Linien erkennbar, denn dünn verstreut saßen nur noch gelbe Blättchen daran. Sie bewegten sich leise. Die Sonne überstrahlte sie, und wie Goldgeflimmer zitterten sie vor dem Hintergrund des blauen Himmels. Links am Horizont stand die Wellenlinie, die der Kiefernwald bedeckte. Die Luft war so klar, daß man die Striche der roten Stämme vor dem blaudunklen Grund der Waldestiefe erkannte.

Natalie seufzte.

Hartard fühlte, daß er diesen Seufzer ignorieren müsse. Es beunruhigte und bewegte ihn, das liebe Mädchen seufzen zu hören. Er schämte sich beinahe, ihr nicht das schon sagen zu können, was sie erwartete.

»Sie sind sehr schweigsam,« sagte er endlich. Sofort wandte sie sich ihm lebhaft zu.

»Haben Sie erwartet, daß ich Sie unterhalten soll? Gewöhnlich ist es umgekehrt,« sprach sie und sah ihn mit strahlenden Augen an.

»Gewöhnlich – ja! Aber wir Männer sind solche Egoisten. Wenn wir nachdenklich oder träge sind, dann erwarten wir, daß zarter Frauensinn errät, daß wir der Anregung bedürfen.«

Es war nicht glücklich gesagt, er hatte sich eigentlich nur entschuldigen und ihr zugleich etwas oberflächlich Verbindliches sagen wollen. Er sah sofort an ihrem Gesichtsausdruck, daß sie es tiefsinniger auffaßte.

»Wenn Sie träge sind, nichts weiter, dann will ich Sie nicht verziehen und Ihnen gar nichts vorschwatzen,« sagte sie lächelnd. Dann fügte sie innig hinzu: »Aber wenn Sie schwere Gedanken haben, irgend etwas, das Sie verstimmt – o, dann so gern. Ich denke es mir so wunderschön, einen Mann aufzuheitern, wenn er Sorgen hat.«

»Sie sind ein liebes, herzvolles Mädchen,« murmelte er und drückte ihr die Hand.

Sie schwiegen wieder.

»Es steckt ein prachtvoller Kern in ihr. Auch daß sie ihre Hoffnungen auf mich so wenig verstecken kann, ist ein Beweis ihres aufrichtigen Wesens,« dachte er. »Ich will nur täglich, ja täglich ein Zusammensein mit ihr herbeiführen. Wem ist es beschieden, in einer großen Leidenschaft Glück zu finden? Den wenigsten. Und zu einer ruhigen, dauernden, beglückenden Liebe kann man sich auch ein bißchen erziehen.«

»Darf ich mich für morgen bei Ihrer Mama zu Tisch anmelden?« fragte er aus diesem Gedanken heraus plötzlich.

Natalie wurde rot. Sie umfaßte mit der Rechten fest ein aus dem Zaun aufragendes Birkenstämmchen.

»Gewiß,« stammelte sie und hoffte glühend, daß er morgen um sie anhalten wollte.

»Sie können dann auch Mama gleich ihre Reise nach Rom ausreden,« fügte sie hinzu.

»Wieso? Ich denke, Ihre Mama will nach Rom, wenn Sie einmal heiraten?«

»Ja, dann für den größten Teil des Jahres. Aber seit ein paar Tagen hat sie den Plan gefaßt, mit mir zusammen den November und Dezember dort zu verleben,« erzählte sie und sah Hartard mit zitternder Erwartung an.

Er atmete auf. Mit einemmal schien es, als sei das eine Gnadenfrist. Wenn Natalie für acht Wochen verreiste, hatte er acht Wochen länger Zeit, sich für seinen Entschluß zu sammeln. Ihm schien es wie ein Zeichen, daß er noch warten dürfe.

»Aber das wäre ja ein Unrecht, es Ihrer Mama auszureden,« sprach er eifrig, »in Rom ist es sehr schön. Es wird eine große Freude für Sie sein, dorthin zu reisen.«

Natalie hatte es sich natürlich auch gewünscht, nach Rom zu kommen, aber auf der Hochzeitsreise – das konnte sie freilich nicht sagen, daran dachte sie auch gar nicht. Mit zitternder Stimme, während ihr Herz rasend klopfte, sagte sie:

»Aber ich bleibe dann doch acht Wochen fort.«

Er war verwirrt, er fühlte, daß er das bedauern müsse. Aber er schwieg.

»Thut Ihnen das denn gar nicht, gar nicht leid?« rief sie leidenschaftlich. »Vorhin, bei Tisch – da – da sahen Sie mich so an, daß ich dachte – daß ich glaubte –«

Sie brach in Thränen aus.

Und wieder waren es die Thränen, die ihn weich machten, denen gegenüber er sich roh, grausam, schuldig vorkam, denn diese Thränen flossen ja seinetwegen.

»Aber liebe Natalie,« sagte er zärtlicher, als er wollte und wußte, »gewiß thut es mir von Herzen leid, wenn Sie für so viele Wochen fortgehen. Sie sind doch die einzige in unserm ganzen Kreis, mit der ich wirklich gern zusammen bin.«

»Dann sagen Sie morgen Mama, daß ich hier bleiben müsse. Sie allein können es,« rief sie und nahm seine Hand.

»Aber wie dürft' ich das! Wie könnt' ich das!« murmelte er und drückte in seiner Hilflosigkeit ihre Hand sehr fest.

»O, das wissen Sie wohl, wie!« sprach sie zitternd.

Er erschrak peinlich. Er verstand nun mit vollkommener Deutlichkeit.

Er trat einen Schritt zurück.

»Mein Gott ... Natalie ...« stotterte er.

Sie sah ihn entsetzt an. Jede Haltung und Fassung wich von ihr.

Sie schrie beinahe auf.

»So war alles nicht wahr ... bloß ein Spiel ... bloß ein Irrtum ...«

Sie schluchzte. Es zerriß ihm das Herz. –

Er nahm das weinende Mädchen in seine Arme, damit sie sich an seiner Brust beruhige. Sanft streichelte er ihr das Stückchen Wange, das frei war, während das thränenüberströmte Gesichtchen an seine Brust gedrückt blieb.

»Ich bitte Sie um Gottes willen, liebe, gute, teure Natalie, weinen Sie nicht so. Spiel? Nein, von Spiel war keine Rede. Es ist auch kein Irrtum. Mein Herz ist Ihnen in treuester Freundschaft ergeben. Und so auch das Ihre mir. Nicht wahr, so ist es?« fragte er innig.

Er fühlte sich unsäglich gequält. Seine Stirn war feucht. Er wollte als ein ritterlicher Mann handeln. Aber er wollte auch nicht lügen.

Sie schüttelte heftig den Kopf, ohne ihr Gesichtchen zu erheben.

Sollte das heißen, daß ihre Empfindung keine Freundschaft war?

Mit fast väterlichem Ton, sich die Mienen tiefer Erfahrungen gebend, fuhr er fort, ihr zuzusprechen: »Wir sind beide noch so jung. Wir kennen uns noch so wenig. Ich habe Sie sehr gern, Natalie, und Sie mich auch – ich fühle es mit tiefer Dankbarkeit. So viel gute Gesinnung und Meinung muß ich mir aber erst verdienen. Wir können uns heute noch über die wahre Natur unsrer Gefühle täuschen. Vielleicht lernen Sie draußen in der großen Welt einen Mann kennen, der Ihrer würdiger ist als ich, und für den Sie eine große Leidenschaft fassen. Dann begreifen Sie erst, daß das, was Sie mir schenken, doch nur herzliche Kameradschaft ist.«

»Nein,« rief sie, seine Worte nur so deutend, als fürchte er sich, daß sie sich täusche, als wolle er ihrer Unerfahrenheit noch keine festen Gelübde abnehmen, »nein, es ist Liebe!«

Und sie schlang ihre Arme um seinen Hals.

Er wurde leichenblaß. Er fühlte es aus dem heißen Ruf heraus, aus dem Beben dieses jungen, sich an ihn klammernden Körpers: er war wirklich geliebt! Tief und leidenschaftlich!

Und in diesem selben Augenblick ging es wie ein seliger Schreck durch sein ganzes Wesen.

Er begriff, daß er Kleopha liebe.

Er sah sie förmlich vor sich. Sie stand da, hochaufgerichtet, hinter dem weinenden Mädchen, und schien zu sagen:

»Dieser Mann ist mein!«

Und er hätte es laut hinaus schreien mögen:

»Ich liebe dich! Bis in den Tod.«

»Natalie,« sagte er und versuchte sanft, ihre Arme von seinem Hals zu lösen, »liebe teure Natalie. Es gibt kein Mädchen auf der Welt, welches ich bitten würde, mein Weib zu werden, als Sie allein, wenn – wenn – mein Herz nicht schon – – einer andern ...«

Er wagte nicht weiter zu sprechen.

Mit einem Schrei war sie von ihm zurückgewichen und fiel in die Kniee, ihren Kopf gegen die Birkenstämme des Zaunes lehnend. Ihr Taschentuch mit beiden Händen gegen das Gesicht drückend, weinte sie herzbrechend.

Er redete ihr zu. Er streichelte ihr die Schultern. Vergebens. Sie schluchzte weiter. Das ging Minuten lang.

»Es könnte doch jemand kommen,« sagte er verzweifelt.

Da stand sie schwankend auf, seine hilfreiche Hand zurückstoßend.

»Ich schäme mich tot!« sagte sie erbittert.

»Nein,« rief er beschwörend, »das sollen Sie nicht. Das brauchen Sie nicht. Wir haben uns bei diesem lieben, schönen Gespräch, für das ich Ihnen dankbar bleibe mein Leben lang, von Anfang an nicht ganz verstanden, und so kam es, daß ich erfahren durfte, Sie gönnen mir ein wenig Liebe. Das war menschlich. Das war schön, liebe Natalie. Und da ich das herrliche, größte Geschenk nicht annehmen darf, so gönnen Sie mir ein kleineres, nicht minder wertvolles: Ihre dauernde Freundschaft! Wir wollen uns so ganz heimlich wie Bruder und Schwester fühlen. Ja, wollen wir das?«

Seinem innigen Ton konnte sie nicht ganz widerstehen. In all ihrem Kummer that er ihr doch etwas wohl.

Und dann brach auch das brennende Interesse an der »andern« durch den Schmerz und mußte zu Wort kommen.

»Sagen Sie mir nur das eine,« bat sie, etwas leiser weinend, »ist es Meta oder Lizzi?«

»Nein,« sagte er. »Beide sind mir geradezu fatal.«

Natalie machte einen Versuch, ihre Thränen zu trocknen. Aber bei der nächsten Frage brachen sie doch hervor.

»Also eine Fremde! Werden Sie sie bald – bald – heiraten?«

Hartard hatte eine glückliche Eingebung. Im Grunde wollte er nur für das erfahrene grenzenlose Vertrauen wieder Vertrauen zeigen. Wie sehr das Natalies weiblichem Herzen wohlthat, ahnte seine Unerfahrenheit gar nicht.

»Meine Liebe ist nicht glücklich,« sprach er traurig, »ich muß sie für immer schweigend in meiner Brust begraben. Da ich das Weib, welches ich liebe, niemals bitten kann, mein Weib zu werden, so darf ich ihre Seele nicht einmal durch ein Geständnis beunruhigen.«

Natalie trocknete ihre Thränen und sah ihn an.

»So sind wir beide sehr unglücklich!« sagte sie.

»Und müssen wir nicht eben darum in treuer Freundschaft zusammenhalten?«

»Ja, das wollen wir!« sprach sie laut mit heiligem Vorsatz.

Sie war nicht getröstet. Aber sie war etwas, das eigentlich wertvoller ist als das: sie war beschäftigt. Ihre Gedanken hatten eine Unsumme von Fragen und Vorstellungen zu bewältigen.

Wenn er dem Weibe nie sagen durfte, daß er es liebe, war es gewiß das Weib eines andern! Wie furchtbar! Beinahe sündhaft! Und doch, wie großartig schön.

Daß zwei sich lieben und verloben, das kam alle Tage vor. Das war geradezu banal.

Aber so neben dem Geliebten als Freundin her zu gehen und zu wissen, daß auch er unglücklich liebt – das war ein Schicksal, ein wirkliches und großes Schicksal.

Und wenn er dann eines Tages begriffe, daß er seiner Familie wegen nicht länger fruchtlos seinem Unglück nachträumen dürfe, sondern heiraten müsse, auch ohne Liebe, dann würde er gewiß kommen und fragen: ›willst du mein werden, Natalie? Du allein kennst die Geschichte meines Herzens, du allein hast die Gefühlsgröße, mit dem wenigen zufrieden zu sein, was dir meine Seele bietet, von dir allein weiß ich, daß deine Liebe stark genug ist, das Grab in meiner Vergangenheit zu ehren.‹ Natalie entschloß sich schon jetzt, dann opfervoll und treu zu handeln und sein Weib zu werden.

Sie hauchte gegen ihr Taschentuch und drückte es wieder und wieder an die Augen.

»Seh' ich noch schlimm aus?« fragte sie mit dem Schein eines Lächelns.

Er musterte sie und schlug dann mit der Hand die Erdspuren von ihrem Kleide, die sich beim Knieen daran geklebt.

»Doch, noch etwas verweint. Wir wollen lieber jeder für sich zurückgehen,« riet er.

»Ja, und ich werde sagen, ich habe Zahnweh. Wie Meta!«

»Ach, das glaubt Ihnen ja niemand,« sprach er.

Da mußte sie wirklich lächeln, denn ihre wunderschönen Zähne waren ihr Stolz.

»Sagen Sie nichts,« riet er. »Sie streiten sich ja wohl manchmal mit Meta? Na, da wird man eben denken, ihr Mädchen hättet euch gezankt.«

»Sehr gut! Ja. Und adieu also!«

Sie hielt ihm die Hand hin. Sie sahen sich an, gut und treu, und Hartard fühlte, daß ihm die Augen ein wenig naß wurden.

»Freunde auf immer!« sagte er.

»Auf Tod und Leben!« schwor sie.

Sie ging davon. Er sah ihr wehmütig nach. Denn er fühlte wohl, daß das Leben mit einemmal Inhalt und Fröhlichkeit gehabt, wenn er die Kleine zu seiner Braut hätte machen können.

Es war eine schwere Stunde gewesen. Am schwersten durch die Erkenntnis, daß er Kleopha liebe.

Wie sollte er es ertragen, nun neben ihr her weiter zu leben!

Seine Mutter bitten, sie zu entlassen, hätte geheißen, der Mutter die Wahrheit gestehen, ihr zugleich tausend Sorgengedanken aufbürden und – sein Geheimnis aller Welt, sogar den Dienstboten preisgeben. Denn er wußte längst, daß seine arme Mama nur noch laut denken konnte.

Also schweigen und ertragen!

Ein rechter Mann muß alles können. Von seinem Vater konnte er sie ja so gründlich lernen, die Kunst des Ertragens.

Er verließ den Platz, der ihm so bedeutungsvoll geworden, um zur Gesellschaft zurückzukehren. Fern auf dem breiten Hauptweg sah er noch Nataliens zierliche Gestalt. Und da er nicht so zweihundert Schritt hinter ihr hergehen wollte, schlug er den nächsten, die Rabatten durchschneidenden Seitenpfad ein, um, langsam den Park durchstreifend, unbemerkt sich dem Schloß zu nähern.

Der schöne Nachmittag mit seinem Sonnenschein und seiner kraftvollen reinen Luft war wie ein unerwartetes Freudengeschenk. Auch die älteren Herrschaften genossen es offenbar, denn einmal sah Hartard von fern Frau von Aulendorf am Arme des Generalmajors, denen die Baronin Montefort mit Frau von Stechow folgten. Die Damen waren im bloßen Kopf und hatten ihre Mäntel nur lose um die Schultern genommen. Der rotgelbe, schon so durchsichtige Park war freundlich durch die Spaziergänger belebt. Andre von den Gästen schienen den Kaffee in der Veranda genommen zu haben; als Hartard sich näherte, sah er einige Tassen auf dem breiten, platten Kopf der Holzbalustrade stehen.

Und dann sah er noch etwas ...

Das Dach der breit hinter Alexandras Arbeits- und Wohnzimmer sich hinziehenden Veranda war in der Mitte durch einen säulenartigen Holzträger noch einmal gestützt, der aus der Balustrade sich erhob und, wie sie, dick mit noch üppig grünen Clematis berankt war. So hatte die Veranda vom Park aus gesehen gleichsam zwei Abteilungen, die jede von einem grünen Rahmen umgeben war. In der einen Hälfte sah man niemand, nur die kleine Tassengalerie zeugte davon, daß sich hier noch eben mehrere Menschen befunden hatten.

Dann, als Hartard sich, von der Seite kommend, näherte, sah er in der zweiten Hälfte seinen Vater, Alexandra und den Pastor Zwota stehen.

Albrecht von Fronhofen lehnte an der grünumkleideten Holzfäule, und sein Sohn sah nur seine Schulter, das Wangenprofil und ein Stück seines dunklen Haares, sowie die Rechte, die sich seitwärts auf den Kopf der Balustrade stützte.

Vor ihm stand Alexandra, ihre Hand auf seine Rechte gelegt und das Angesicht zu ihm erhoben, mit einem Ausdruck – einem Ausdruck ...

Hartard wurden die Füße schwer. Brausend ging ihm das Blut zu Kopf und erfüllte sein Ohr mit wallenden Geräuschen, die es ihm unmöglich machten, zu hören, was Alexandra sprach.

Wie groß ihr Auge zu dem Manne aufgeschlagen war! Welche Liebe daraus flammte!

Ja, Liebe – – so konnte nur Liebe blicken.

Entsetzen rieselte ihm durch alle Nerven. In dem Schauer, der ihn durchrann, meinte er, ihn fröre.

Aber wie war das möglich ... da war ja Zwota! Der ehrliche, treue, herrliche Zwota! Er, dessen Güte und Reinheit allen ein leuchtendes Beispiel war, zu dem seit mehr als dreißig Jahren alles, was zehn Meilen in der Runde geboren und gestorben war, aufblickte und aufgeblickt hatte?

Und Zwota mußte doch die Worte und die Blicke bemerken. Er stand ja in seiner ganzen strahlenden Behäbigkeit dabei, harmlos die Kaffeetasse in der Hand – nicht wie jemand, der einem fürchterlichen Verbrechen beiwohnt.

Hartard glaubte, er müsse taumelnd zu Boden fallen, wenn er nur einen Schritt weiter gehe.

Wie angewurzelt blieb er stehen.

Da bemerkte ihn Alexandra. Sie sah sein bleiches Gesicht und seine brennenden Augen, die mit einem Ausdruck des Entsetzens auf sie blickten. Und sie errötete lebhaft.

Er sah es genau. Ihn täuschte der unbefangene Ton ihrer Stimme nicht. Er schwor darauf: sie war rot geworden wie eine ertappte Schuldige.

»Hartard,« rief sie, »ich glaube, Sie sind ohne Kaffee davon gelaufen. Und was haben Sie mit Natalie gemacht? Das Mädchen kam rot und verweint zurück und sitzt nun vorn mit Kopfweh.«

»Ich glaube, sie hat sich mit Meta Aulendorf verzankt,« sagte er, zu seinem eignen Erstaunen mit ganz ruhiger Stimme, und stieg die drei Stufen hinan, die seitwärts in die Veranda führten.

Zwota schüttelte lächelnd den Kopf.

»Wenn die beiden doch nur ein einziges Mal Frieden halten wollten,« sagte er.

Alexandra sah Hartard forschend an. Sie wußte, daß Meta mit Calatin zusammen spazieren ging und daß somit keine Gelegenheit gewesen war für Natalie und Meta, ihrem Hang, sich zu streiten, nachzugeben.

Hatte sich da etwas ereignet zwischen den beiden? Und war das der Grund von Hartards Erregung, die ihm deutlich genug auf seinem fahlen Gesicht geschrieben stand? Eine Sekunde lang hatte ein furchtbarer Schreck sie erfaßt gehabt und sie erzittern lassen. Sie fürchtete, Hartard habe ihr Gespräch gehört.

Und es war besser, er hörte nicht, er sähe nicht, er erführe nicht ...

Er war schließlich doch ein junger, unerfahrener Mensch und Christinens Sohn.

Mit-wissen konnte hier nur Mit-leiden heißen. Seine kleine Lüge beruhigte sie. Er hatte also eine Scene mit Natalie gehabt. Vielleicht eine Streiterei, wie sie zwischen verliebten Kindern vorkommt. Vielleicht hatte man sich heute auf ewig getrennt, um sich morgen zu verloben.

Sie seufzte erleichtert und lächelte Albrecht zu.

Der Sohn sah es. Ein plötzliches Haßgefühl gärte in ihm auf. Er wußte nicht, gegen wen, vielleicht gegen die ganze Welt.

Alexandra sollte nicht in seiner Gegenwart seinem Vater zulächeln.

Seiner selbst nicht mächtig, ging er ungestüm davon.

Verwundert sahen die drei ihn im Haus verschwinden.

»Was war denn das?« fragte Albrecht.

»Ich glaube, er hat sich mit Natalie gestritten,« sagte Alexandra. Aber in diesem Augenblick glaubte sie es doch wieder nicht. Sie fühlte sich beklemmt.

»I, das war die Jugend!« sprach Zwota schmunzelnd. »Habt ihr mal 'n jungen Menschen gesehen, der sich für sein Leid nicht an unschuldigen Dritten rächt und sei's auch bloß durch Unhöflichkeit? Er soll nur machen, der Junge, daß er mit der Verlobung ins reine kommt. Dann weiß er wieder, was er mit sich und was er mit der Welt anfangen soll. Jetzt ist er nicht Fisch noch Fleisch. Er hat nichts zu thun. Alles könnt ihr Fronhofens – bloß faullenzen könnt ihr nicht. Dafür haben Kopf und Gliedmaßen zu viel Beweglichkeit.«

»Leider Gottes!« gab Albrecht zu. »Aber ich kann ihm doch keine Arbeit aus dem Boden stampfen. Es ist ja Herbst. Was da noch zu befehlen und zu beaufsichtigen ist, mach' ich in ein paar Stunden ab. Wir Landwirte sind ja wie die Vögel: wir haben bloß außerm Nest was zu thun, solange es Tag ist. Mit der Sonne heraus und mit der Sonne herein. Und nun die kurzen Tage! Und abends das bißchen Korrespondenz.«

Alexandra litt, weil sie auf seiner Stirn die Falten schwerer Sorge sah.

»Zum Frühling,« sprach sie mit zuversichtlichem Ausdruck, »mußt du für den Betrieb von Rethen irgend eine Erweiterung oder Veränderung ausdenken, die Hartard angenehm beschäftigt und ihm Pflichten gibt.« –

Daß man sein verstörtes Gesicht, sein auffallendes Benehmen bemerkt haben könne, fiel Hartard gar nicht ein.

Er nahm seinen Hut und Mantel, ging im Stall vor, wo Sebald und Löbell zusammen an einer Wagendeichsel gelehnt, die agrarische Frage mit ihrer Kutscherweisheit lösten, und sagte dem erschrocken auffahrenden Löbell, daß er zu Fuß nach Rethen gehen wolle und der alte Herr nicht auf ihn warten solle.

Hartard ertappte sich manchmal darauf, daß er von seinem Vater »der alte Herr« sagte.

Er ärgerte sich immer, wenn er es gethan, und doch trieb ihn irgend ein unerklärliches Gefühl immer wieder dazu. Es war, als müsse er sich und den Leuten beweisen, daß er, der Junge, auch ein Herr sei, als müsse er sie darauf hinlenken, daß sein Vater denn doch kein Jüngling mehr sei.

Nun ging er mit stürmenden Schritten in den Oktobertag hinein. Die Sonne stand schon so am Horizont, daß Hartard wohl sah, sie werde ihm nur noch eine Stunde lang scheinen. Aber das war ihm recht, er sehnte die Dunkelheit herbei. Er wollte sich verstecken, vor dem Tag und der Welt.

Als er den Kiefernwald durchschritten hatte und den Waldsaum erreichte, blieb er stehen.

Der Himmel stand über dem Horizont in einer roten, blanken Glut; wie eine flammende Wand war das anzusehen, die wagrecht von einem Streifen schweren blaugrauen Gewölks abgeschnitten war. Darüber zogen sich andre glühende Streifen hin, deren oberster von Wolken vielfach überdeckt war. Vor dieser roten Glut standen, schwarzen, ausgeschnittenen Silhouetten gleich, ein paar Kiefern mit gabelnden Ästen und breitgequetschten Kronen.

Hartard starrte hinüber zu dem flammenden Abendhimmel, aber er sah nichts von der prunkvollen Beleuchtung.

Er sann und sann.

Immer wieder sah er das liebestrahlende Auge der schönen Frau. Aber er sah auch immer den treuen, wackeren Zwota daneben.

Das war nicht der Mann, sich zum Zeugen einer Schuld herzugeben. Darüber gab es keine Zweifel, selbst in Hartards fieberhaftem Hirn nicht!

Hatte ihn etwa eine Täuschung genarrt? War das Gespräch zwischen den dreien etwa ein unpersönliches gewesen, aber eines, das allgemeine, edle Stimmungen wachrief oder irgend einen begeisternden Gedanken?

Konnte nicht auch in einem solchen ein so beredtes Frauenangesicht, wie das Alexandras, erglühen in schöner Hingabe?

Hartard klammerte sich an diese Möglichkeit. Ganz gewiß, so war es. Er wollte morgen ganz harmlos seinen Vater fragen, worüber er denn mit Zwota und Alexandra gesprochen. Er war überzeugt, irgend ein menschenfreundliches oder schöngeistiges Thema nennen zu hören. Und zugleich fühlte er, daß er diese Frage doch nicht stellen werde. Seine Lippen hätten dabei gebebt, die Stimme gezittert.

Feuchte Dünste stiegen auf und halfen der sinkenden Dämmerung die Luft undurchdringlich machen. Hartard ging einher wie einer, der in Einsamkeit abgelöst ist von der Welt. Er sah nicht mehr zehn Schritt vor sich und zu den Seiten.

Plötzlich fiel ihm ein, was die Mama sagen würde, wenn er allein heimkäme. Sie würde zahllose Fragen an ihn richten. Ihrer Neugier, ihrer Teilnahme, ihrem Mutterauge würde gar nichts entgehen. Er hätte ihr etwas vorlügen müssen.

»Dazu habe ich kein Talent,« dachte er höhnisch.

Und erschrak zugleich, daß es ihm eisig durch die Adern fuhr.

Hatte denn sonst einer Talent dazu, im Hause der Fronhofen, die arme Kranke zu belügen? Und wer? Wer!?

Er suchte sich gewaltsam zu fassen und lenkte seine Gedanken, um irgend einen berechtigten Ärger zu haben, auf die Unfreiheit, in der er lebte.

Keinen Schritt konnte er machen, keine Miene tragen, ohne seiner ewig fragenden Mutter Rechenschaft abzulegen.

Da stieg mahnend vor seiner Erinnerung jene Stunde auf, wo er mit Manneswort gelobt hatte, seine Mutter auf Händen zu tragen, wie – ja, wie sein Vater sie trug.

Er gestand es sich. Er schämte sich. Er dachte, wie doch sein Vater seit endlosen Jahren heiter trug, was ihn alle Augenblicke in Ungeduld aufgären ließ.

Er beschloß am Wege auf seinen Vater zu warten, damit sie zusammen heimkämen.

Er mußte lange warten, wohl eine Stunde länger, als er sich ausgerechnet.

In einer gewissen stumpfen Ergebung ging er am Rande des Fahrwegs lange Strecken hin und zurück.

Nach den Aufregungen des Nachmittags war ihm, als sei er zerschlagen.

Endlich hörte er das Schnauben eines Pferdes, das dumpfe Rollen von Rädern. Und dann glimmte durch den Nebel ein Lichtschein, und zwei nickende Pferdeköpfe wurden sichtbar.

Der Umriß Löbells erschien, der dick und mit seinem Cylinderhut auf dem Bock saß.

»Nimm mich mit, Papa!« rief Hartard.

»Na nu,« sagte Albrecht und rückte gleich zur Seite.

»Verzeih, daß ich davonlief. Ich hatte eine kleine Aufregung gehabt, mit ... mit ...« sprach der Sohn leise.

»Pst – egal, mit wem und was!« meinte Albrecht wohlgemut. »Nur gut, daß ich dich da habe, und daß wir zugleich bei Ma ankommen. Hätt' ich das übrigens geahnt, so wäre ich eine Stunde früher weggefahren. So saß ich nun noch 'ne Stunde bei Alexandra.«

Hartard schwieg.

Er hatte geglaubt, ruhig zu sein oder wenigstens zu matt, um noch einmal aufzuwallen.

Und jetzt klopfte sein Herz wie rasend – nur bei dem Namen.

Und er dachte verzweifelt:

»Bist du doch ein Lügner? Du, den ich angebetet habe?«


 << zurück weiter >>