Franz Adam Beyerlein
Jena oder Sedan?
Franz Adam Beyerlein

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XIII.

(»Das Ganze – halt!«)

Oberleutnant Güntz war kurz vor Weihnachten zum Hauptmann und Batteriechef befördert worden und hatte das Kommando der fünften Batterie übernommen.

Das Barbarafest des vergangenen Winters hatte Hauptmann Mohrs Schicksal besiegelt.

Im Grunde war eine Weichselkirsche daran schuld. Eine eingemachte Weichselkirsche, die die Kasinoordonnanz beim Servieren aus der übervollen Kompottschüssel hinter Mohrs Stuhl hatte auf das Parkett fallen lassen.

Mohr trat darauf, glitt aus und brach den linken Arm.

Den Armbruch hätte der Vetter Geheimrat im Kultusministerium allenfalls noch parieren können, aber es kam noch ein doppelter Beinbruch dazu.

Hauptmann Mohr war gewöhnt, am 4. Dezember, dem Tage der Schutzheiligen aller Kanoniere und Stückknechte, kanonenvoll zu sein. Darin war er ein 534 ausgezeichneter Artillerist. Und als er mit dem Arm in der Binde von Oberstabsarzt Andreae in seine Wohnung geleitet worden war, hatte er bei weitem noch nicht sein volles Maß.

Während des schmerzhaften Einrichtens des Bruches war ihm etwas flau zu Mute geworden, und der Bursche brachte ihn deshalb schleunigst zu Bett. Liegend fühlte sich der Hauptmann schon bedeutend besser. Er begehrte sofort Wein, viel Wein, als Herzstärkung. Andreae jedoch verbot dem Kanonier streng dienstlich, seinem Herrn irgend welche alkoholische Getränke herbeizuschaffen.

Aber kaum hatte der Arzt den Rücken gewandt, so befahl Mohr ebenfalls dem Burschen dienstlich, Wein aus dem Keller zu holen.

Der brave Mensch weigerte sich und versuchte seinem Hauptmann gut zuzureden. Dafür bekam er die Stiefel an den Kopf geworfen und eine Unzahl Tage Arrest angedroht. Schließlich verfiel Mohr in eine wahre Raserei. Er zertrümmerte, was ihm in den Weg kam, und wollte den Burschen mit dem Säbel zum Gehorsam zwingen.

In seiner Angst erklärte sich der Kanonier bereit, den Wein zu holen; er flog die Treppen hinab und holte den Arzt vom Liebesmahle weg.

Inzwischen war aber schon das Unglück geschehen.

War nun Mohrs Durst unerträglich geworden oder hatte er die heimliche Absicht des Burschen geahnt, – das blieb unaufgeklärt. Andreae fand ihn bewußtlos auf der Stiege liegend, das Gesicht aufgeschürft, den linken Unterschenkel zweifach gebrochen, das eine Mal dicht am Kniegelenk. 535

Hauptmann Mohr erhielt den Abschied wegen überkommener Garnison- und Felddienstuntüchtigkeit. –

Neue Besen kehren gut.

Güntz machte sich mit frischem Mute an die schwere Aufgabe, in die vernachlässigte Truppe Ordnung und Disziplin hineinzubringen. Es gelang ihm leichter, als er selbst vermutet hatte. Schließlich war das auch nicht verwunderlich. Ein Batteriechef hatte für seinen Befehlsbereich, sofern nicht ganz außerordentliche Vergehen vorkamen, eine vollkommen ausreichende Strafbefugnis. Und Güntz zögerte nicht, rücksichtslos davon Gebrauch zu machen, wenn gütliche Mittel ihre Wirkung verfehlten.

Er bemerkte mit Genugtuung, daß die aufgewandte Mühe allmählich Früchte zeitigte. Bei den Rekruten saßen die liederlichen Gewohnheiten noch nicht fest, und was sich ihnen etwa davon bereits unter dem alten Kommandeur angehangen hatte, das wurde sehr energisch ausgetrieben. Die besseren Elemente des alten Jahrgangs fügten sich auch ohne Sperren und Spreizen in die neue straffe Zucht, und nur ein paar eingefleischte Faulpelze und unverbesserliche Taugenichtse wollten sich nicht aus dem alten Schlendrian herausfinden. Nun, die sollten auch noch klein beigeben!

Mit der Zeit konnte sich die fünfte Batterie neben der musterhaften vierten und sechsten sehen lassen. Major Schrader rieb sich vergnügt die Hände: drei so ausgezeichnete Batteriechefs auf einmal in der Abteilung, das war ein seltenes Glück, und natürlicherweise hatte er nicht den kleinsten Nutzen davon.

Bei der Frühjahrsbatteriebesichtigung erntete er vom Brigadekommandeur ein ellenlanges Lob. 536

Vergnügt faßte er nach dem Einrücken Güntz unter.

»Wissen Sie, lieber Hauptmann,« sagte er, »Ihr Vorgänger Mohr war ja entschieden brauchbarer als Sie, wenn es sich um eine Burgunderbowle handelte, und ich habe gern bei ihm mal ein Glas Wein getrunken, denn der olle Saufbruder hatte eine süperbe Zunge. Aber, na ja, wir sind doch schließlich nicht in erster Linie Weinhändler. Bei den Besichtigungen war er doch allemal so ein gelinder Stein des Anstoßes. Jetzt ist meine Abteilung von A bis Z first class. Dank Ihnen, lieber Güntz!«

Güntz war selbst ganz glücklich darüber, daß die Prüfung so glatt verlaufen war. Er war nicht vollkommen überzeugt davon gewesen, dafür hatte er seine Batterie noch nicht fest genug in der Hand.

»Nicht wahr, es ging ganz leidlich?« erwiderte er bescheiden.

»Tadellos! Tadellos!« versetzte der Major.

»Nun, es war auch Glück dabei, Herr Major. Als Batteriechef steckt man mitten drin und sieht manches, was schon schief gehen will. Da kommt dann gerade noch ein günstiger Zufall zwischen, und der Schaden ist glücklich vermieden.«

Der Major blieb vor dem Stabsgebäude stehen. Er schien noch etwas auf dem Herzen zu haben und kraute sich verlegen das Backenbärtchen.

»Gewiß, gewiß,« antwortete er. »Glück muß der Mensch haben, sonst hat er Pech Aber Ihr Verdienst bleibt bestehen, lieber Güntz.«

Dann fuhr er etwas stockend fort: »Und darum, wissen Sie, ist mir's um so peinlicher. Es liegt nämlich noch etwas vor. Diese Herren von oberhalb kennen ja ein uneingeschränktes Lob gar nicht.« 537

Güntz legte die Hand an den Helm und sprach gemessen: »Aber ich stehe selbstverständlich ganz zu Verfügung, Herr Major.«

»Nein, nein, lieber Güntz!« wehrte Schrader ab. »Der Oberst war so liebenswürdig, mir den heiklen Auftrag abzunehmen, und ich bin darüber sehr froh. Denn mir geht die Geschichte wahrhaftig contre coeur, und da werd' ich doch nicht! Nee, nee, lieber Güntz, gehen Sie man ruhig zum Oberst, und vorweg: nehmen Sie's nicht tragisch, was Sie da zu hören bekommen! Ich danke Ihnen, lieber Güntz. 'Morjen, 'morjen!«

Er wandte sich zum Stabsgebäude und nickte dem Hauptmann von der Treppe freundlich zu.

Güntz war einigermaßen gespannt auf die Eröffnung, die ihm da bevorstand. Er war sich bewußt, seine Pflicht erfüllt zu haben, so gut er's eben vermocht hatte. Aber du lieber Gott, die Vorgesetzten versteiften sich zuweilen auf ganz merkwürdige Dinge. Es konnte wohl sein, daß er irgend etwas versehen hatte. Darum brauchte es doch kein so umständliches, geheimnisvolles Gebaren! Man steckte die Rüge ein und versuchte es das nächste Mal besser zu machen.

Oberst von Falkenhein empfing ihn sehr herzlich.

»Lieber Freund,« sagte er, »ich gratuliere! Ein besseres Debut konnten Sie sich als jüngster Batteriechef gar nicht wünschen.«

»Danke gehorsamst, Herr Oberst,« versetzte Güntz.

Dann aber ging er gerade auf die geheimnisvolle Angelegenheit los. Diese Neugier war ja am Ende verzeihlich.

»Herr Oberst verzeihen,« fuhr er fort, »Herr Major Schrader deuteten mir da noch an –«

Falkenhein unterbrach ihn: »Ja, Sie haben Recht. 538 Das wird Ihnen am meisten am Herzen liegen. Wissen Sie, unser verehrter Brigadekommandeur, der General, hatte nämlich noch etwas in petto. Wie gesagt, – mit der heutigen Leistung Ihrer Batterie war er ohne Einschränkung höchst zufrieden, aber er meint, Sie schienen sich bezüglich der Disziplin in Ihrer Batterie noch nicht recht in Ihre neue Stellung gefunden zu haben.«

Das gerade hatte Güntz nicht erwartet. Er glaubte, besonders in dieser Hinsicht reine Wirtschaft gemacht zu haben.

Erstaunt bat er: »Wenn mir Herr Oberst gütigst erklären wollten, wieso?«

Falkenhein lächelte über seine verblüffte Miene und sprach achselzuckend: »Ja, so sagte der General. Aber, lieber Güntz, ich habe Ihnen das nur mitgeteilt, wie mir das befohlen worden ist, – jetzt wollen wir mal als Kameraden darüber reden. Ich verstehe, daß Sie die Augen erstaunt aufreißen, aber Sie werden gleich noch viel verblüffter dreinschauen. Der General führte nämlich zur Begründung seines Urteils an, daß Sie in Ihrer Batterie so viele Strafen verhangen hätten, – mehr als doppelt so viel wie in der vierten und sechsten zusammen.«

Am liebsten hätte Güntz die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Das war ihm doch außer dem Spaße!

»Herr Oberst wissen doch,« gab er zu bedenken, »in was für Verhältnisse ich hineingekommen bin!«

»Weiß ich, weiß ich!« antwortete Falkenhein. »Und ich hab' ihm das natürlich auch gesagt. Aber er hielt meine Schilderung für übertrieben. Im Vertrauen: er gehörte auch mit zu der Clique, der der selige Mohr sein zähes Dasein verdankte. Und er hielt 539 seinen Schluß für untrüglich, – daß nämlich viele Bestrafungen in einer Truppe auf eine mangelhafte Disziplin schließen lassen. Eine gewisse Gleichmäßigkeit in den Strafregistern der Batterien sei unbedingt anzustreben, meinte er, – wenn nicht ungünstige Rückschlüsse auf die Fähigkeiten der einzelnen Chefs gezogen werden sollten.«

Da geriet der brave Güntz in eine ehrliche Wut. Wenn ihm etwas allzu Widersinniges aufstieß, war es ihm ganz einerlei, vor wem er stand. Es mußte vom Herzen herunter, was er zu sagen hatte, und wenn es vor dem Oberst war.

»Herr Oberst verzeihen,« begann er, »aber der Herr General hat wohl dabei außer acht gelassen, daß zu gleichen Resultaten auch gleiche Voraussetzungen gehören. Ich meine ganz gehorsamst, daß doch allein schon das Mannschaftsmaterial der normalen Batterien verschieden ist, und daß selbst in derselben Batterie etwa ein neuer Rekrutenjahrgang eine ganz kolossale Verschiedenheit der Strafregister bewirken kann. Geschweige denn, wenn die Verhältnisse so liegen wie in meinem Falle. Wenn mein Strafregister nicht größer wäre, als das von der vierten und sechsten Batterie, dann gestattete das einen ungünstigen Rückschluß auf mich. Und ich hoffe doch ganz gehorsamst nicht, daß es dem Herrn General lieber ist, schablonenmäßig gleiche Strafregister zu erhalten, als die Disziplin einer Batterie in die Brüche gehen zu lassen.«

Luftschnappend setzte er hinzu: »Herr Oberst verzeihen!«

Falkenhein war sehr ernst geworden.

»Ich nehme Ihnen nichts krumm, lieber Güntz,« versetzte er. »Ich kann mir nicht helfen, Sie haben in allem und jedem recht. Und genau das, was Sie 540 da anführten, habe ich dem General auch vorgehalten, sehr deutlich sogar. Er wurde zuletzt verdammt kühl.«

Der Oberst hielt inne und lächelte ein wenig vor sich hin. Er dachte an diese Unterredung. Der General war beinahe vor Wut geplatzt, und einem anderen hätte er diesen Widerspruch nicht ungestraft hingehen lassen. Aber Falkenhein war ein erklärter Liebling der alternden Majestät, tagelang war er des Königs Jagdgast und saß viel fester im Sattel als er, der General, selber. Da durfte man nicht allzu rauh zufassen.

»Trotzdem,« fuhr der Oberst heiterer fort, »erklärte er es für wünschenswert, daß allmählich eine etwas größere Gleichmäßigkeit erzielt würde.«

Güntz antwortete fest: »Herr Oberst verzeihen, – den Gefallen kann ich aber dem Herrn General vorderhand nicht tun. Das könnte ich mit meiner Auffassung vom Beruf des Offiziers nicht in Einklang bringen.«

»Schön,« erwiderte Falkenhein, »das haben Sie mir als Kameraden und Freund geantwortet. Als Ihr Kommandeur habe ich ja die feste Zuversicht zu Ihnen, daß Sie alles tun werden, was dem königlichen Dienste nützlich und heilsam ist, und daß Sie in diesem Sinne auch dem Wunsche des Herrn Generals nachkommen werden.«

Güntz verneigte sich und antwortete: »Zu Befehl, Herr Oberst.« –

Im Batteriedienstzimmer fragte er: »Wachtmeister, haben Sie den »Zampa« heute schon bewegen lassen?«

»Noch nicht, Herr Hauptmann.«

»Dann lassen Sie ihn mal satteln, ich will mir selbst noch ein bißchen Bewegung machen.«

Der Wachtmeister dachte bei sich: was der Chef 541 nur heute hat? Es war doch alles so gut gegangen. Selbst diese Himmelhunde Mortag und Ellner hatten sich zusammengenommen.

Der Hauptmann war diesmal so eilig wie sonst nie. Er gab die Unterschriften, die ihm abverlangt wurden, und sagte nach einer kurzen Überlegung zu allem, was der Wachtmeister vorschlug, Ja und Amen.

Als ihm draußen der »Zampa« vorgeführt wurde, mußte er sich gleichwohl erst darauf besinnen, daß er ja noch ein Stück hatte reiten wollen. Er saß auf und zog die Zügel langsam durch die Hand. Der Braune trat ungeduldig hin und her, und Güntz ließ ihn einen schlanken Trab anschlagen.

Er ritt talaufwärts die Chaussee entlang. Links am Abhange lag zwischen dem frischgrünen Buschwerk der Revolverschießstand, auf dem vor wenigen Monaten sein Duell mit Leutnant Landsberg stattgefunden hatte. Er dachte weniger an diesen Schlußakt der Episode, als an die Nacht vorher, in der er die Gründe für sein Entlassungsgesuch niedergeschrieben hatte.

Heute war er um ein neues Argument reicher.

Der »Zampa«, der allmählich in ein sehr gemächliches Schrittempo gefallen war, bekam ein paar Sporen zu fühlen und mußte auf einem weichgrundigen Wiesenwege einen flotten Galopp hergeben.

Zum Donnerwetter auch! War nicht diese Schablonisierungssucht zum Dreinschlagen? Mußte denn dieser verdammte, alles in dasselbe Maß zwängende Drill, dieses Parademarschprinzip, alles anstecken? Mußte denn überall alles glatt und vorschriftsmäßig laufen, damit man oben nur ja die Überzeugung von der Vortrefflichkeit des ganzen Systems behielt? 542

Also selbst die Strafregister sollten sorgfältig ausgerichtet sein! Keines durfte den Kopf hervorstrecken! Das war wirklich erheiternd. Lehrer durften schlechte Schüler haben, aber es hatte den Anschein, als ob ein Batteriechef beileibe keine schlechten Soldaten in seiner Truppe haben dürfte. Und dabei sollten die militärischen Erziehungsmaßregeln nicht einmal über ein bestimmtes Durchschnittsmaß hinaus in Anspruch genommen werden!

Er befand sich ja glücklicherweise gerade in einer sehr günstigen Lage. Er hatte einen Regimentskommandeur, der für ihn eintrat und auch eine Meinungsverschiedenheit mit dem Vorgesetzten nicht scheute, weil er zufällig bei Majestät gut angeschrieben war. Da lief die Sache noch gut und ohne Schaden ab. – Wie aber, wenn ein Kommandeur sich selbst in seiner Stellung wackelig fühlte? Würde er den moralischen Mut finden, dem einflußreichen Vorgesetzten auch nur in der Form eines bescheidenen Bedenkens zu widersprechen? Würde er nicht vielmehr um seiner Karriere willen »Zu Befehl, Herr General« sagen?

Dann wurde der Druck nach unten geübt, und unter hundert Hauptleuten gab es sicher nur wenige, die, im Widerstreit zwischen ihrem besseren Wissen und der Besorgnis um ihre künftige Laufbahn, ihrer Überzeugung treu blieben. Meist bekamen wohl die Strafregister die »anzustrebende« Gleichmäßigkeit, und der Batteriechef mochte zusehen, wie er mit den üblen Elementen seiner Mannschaft auskam, die aller Disziplin Hohn sprachen und die er doch nicht gebührend bestrafen konnte, die die guten Leute verdarben und draußen als Reservisten Mißachtung gegen das Heer verbreiteten. Denn das Strafregister der Batterie überschritt sonst den erforderlichen 543 Durchschnitt, und »das gestattete ungünstige Rückschlüsse auf die Disziplin der Batterie und auf die Fähigkeiten des Chefs.« Dabei wiesen zuweilen die Überweisungspapiere der Rekruten anmutige Verzeichnisse von Vorstrafen auf, die schließlich auch nicht gerade günstige Rückschlüsse auf die Persönlichkeit der werten Inhaber gestatteten.

Aber wenn nur der Parademarsch der Strafregister klappte! Dann war das Vaterland gerettet.

Und nochmals bekam der unschuldige »Zampa« ein paar Sporen. Aber der Braune ging nicht vorwärts. Er schnaubte und stieg unwillig ein wenig hoch. Er für sein Teil hütete sich, in den Sumpf zu springen.

Der Reiter klopfte ihm lobend den Hals. Der kluge Gaul hatte für den Herrn aufgepaßt. Das Gras der Wiese war dicht vor seinen Vorderfüßen dunkelgrün gefärbt und wuchs in breiten, schilfigen Halmen. Eine kurze Strecke weiter schimmerte auch schon das Wasser durch die Rasennarbe.

Güntz ritt langsam den Wiesenpfad zurück. Er sah sich um. Ohne daß er es gemerkt hatte, war er in ein kleines Seitental geraten. Unten schimmerten im Sonnenglanze die hellen Mauern der Kaserne, ein frischer Wind schaukelte die jungen blühenden Triebe eines Ahorns leise hin und her, und ringsum sproßte alles, von frischer Kraft durchtränkt. Vorsichtig lenkte er das Pferd um einen Fleck Himmelschlüssel herum, die die ganze Breite des Pfades mit einem Bande von gelben Blütendolden sperrten.

Er warf die dunkle Sorge hinter sich. Hatte er nicht stets die Möglichkeit, seine Tätigkeit einzustellen, sobald ihn ihre Unfruchtbarkeit erwiesen dünkte? Die heutige Erfahrung fiel als ein neues Gewicht in die 544 Wagschale seiner Zweifel. Das war gewiß: man mußte sich damit abfinden. Aber deshalb den Mut verlieren? – Nein.

Es war, als ob die kraftvolle Zuversicht dieser hellen Frühlingslandschaft sich in ihn ergösse.

Vieles Alte und vieles seit Jahrzehnten Hochgehaltene mochte in Trümmer gehen, darum verlor diese Erde, die hier ringsum ihre Keime zum Licht emportrieb und Samen schwellen ließ, ihre Kraft nicht. Sie war die immerwährende, nie versiegende Quelle, aus der sich neue Generationen neue Kraft tranken, sie war die ewige Verjüngerin.

Güntz hatte dem Braunen die Zügel auf den Hals gelegt und schaute mit hellen, freien Blicken vorwärts.

Aber als die Hufe des »Zampa« wieder auf dem festen Boden der Chaussee klapperten, war er bereits wieder in die Wirklichkeit zurückgekehrt. Mit Schwärmereien gab er sich nicht zu lange ab. Es waren andere, positivere Dinge zu erwägen.

Er hatte sich neuerdings vorgesetzt, mit allen Kräften die Lösung eines Problems zu versuchen, das ihm schon während seines Berliner Kommandos durch den Kopf gegangen war.

Es war für ihn außer Zweifel, daß die französische Feldartillerie mit ihrer Rohrrücklaufkonstruktion vor allen anderen Armeen einen erheblichen Vorsprung gewonnen hatte, – einen Vorsprung, der nur durch geringe Bedenken gegen die Feldbrauchbarkeit der Erfindung beeinträchtigt wurde. Die französische Lafette hatte sich bisher nur in den kurzen Friedensübungen bewährt. Ob sie den fortdauernden erhöhten Anforderungen eines Feldzugs gewachsen war, das schien nicht ganz sicher zu sein. Er war nun eifrig an der Arbeit, die komplizierte Konstruktion der 545 Rohrrücklauflafette so zu vereinfachen und zu verstärken, daß sie unter allen Umständen und auch bei der denkbar stärksten Inanspruchnahme verwendbar blieb. Daneben hatten die Stahlschilde, die zum Schutze der Bedienungsmannschaften an den französischen Feldgeschützen angebracht waren, seine Aufmerksamkeit erregt. Die deutschen Militärs waren in der Mehrzahl gegen eine Einführung dieses Deckungsmittels, ihm schienen die Schilde sehr nachahmenswert. In der Schlacht der Zukunft mußte man ganz mathematisch mit Verlustprozenten rechnen, und es war auf jeden Fall ein erheblicher Vorteil, wenn kraft der Schilde ein gutes Teil Treffer zu subtrahieren war. Die Gegner der Maßnahme führten für ihre Ansicht an, die Leute würden sich dann nicht mehr hinter der Deckung vorwagen oder mindestens das Richten so schnell vornehmen, daß darunter die Genauigkeit notwendig leiden müßte. Nun, ebensogut konnte man behaupten, daß Infanterie nicht dazu zu bringen sein würde, einen Schützengraben zu verlassen. Der andere Einwand war dagegen überzeugender: die Geschütze wurden durch diese Stahlschilde im Verein mit der Rohrrücklaufkonstruktion zu schwer. Das beeinträchtigte ihre Beweglichkeit, und deshalb sann Güntz auf eine Erleichterung an einer anderen Stelle. Die Protze diente dazu, die Lafette fahrbar zu machen und nebenbei die Munition für die ersten Schüsse mitzuführen. Warum war sie dann durch eine so große Menge Geschosse belastet, die voraussichtlich nie zur Verwendung kamen? Er war darüber, das Modell einer Protze zu entwerfen, deren Munitionsmenge um ein Drittel vermindert war, so daß das Mehrgewicht der Rohrrücklaufkonstruktion und der Stahlschilde mehr als ausgeglichen war. 546

Noch in Berlin hatte er mit dem Vertreter einer großen rheinischen Waffenfabrik eingehend über seine Entwürfe gesprochen. Dieser Mann machte ihm den Vorschlag, den Abschied zu nehmen und für ein hohes Gehalt in die Dienste der Firma zu treten. Güntz war damals nicht auf solche umstürzende Änderungen eingegangen, aber der Vertreter hatte zum Schluß gemeint: »Wer weiß, vielleicht sehen wir uns doch einmal wieder.«

Sollte der Mann etwa recht behalten?

So oder so, – Güntz fühlte sich stark genug, sich seinen Weg durch das Leben zu bahnen. –

Am Gartentor nahm ihm der Bursche das Pferd ab.

Während der Kanonier die Bügel hochnahm, klopfte Güntz den braven Gaul leicht auf die Hinterbacken. Er hatte dem Burschen bereits zum Gehen gewinkt, da kam es krähend und zappelnd vom Hause her den Laubengang entlang, – sein Bube. Der kleine Mann tappte fest mit seinen derben Füßchen voran und schwang ein Stück Zucker in der winzigen Faust. Und hinterdrein schritt, ein helles Glück im Antlitz und mit sorglich ausgebreiteten Armen die Schritte des Kindes behütend, Frau Kläre.

Der »Zampa« nahm den Zucker vorsichtig von dem Händchen des Knaben weg und verlor ihn gleich darauf wieder zwischen der schweren Zäumung hindurch.

»Nun, ist es gut gegangen?« fragte Kläre.

Der Hauptmann antwortete: »Ja, recht gut.«

Er verschwieg indessen neben dem »ja« auch das »aber« nicht. Die ruhige Klarheit seiner Frau diente ihm gewissermaßen zur Prüfung seiner eigenen Empfindung. 547

Denn Kläre, das war eine Frau, die es eben nur einmal auf der Welt gab, eine Frau, die ganz eigens für ihn geschaffen war!

Sie war wirklich ganz einzig in ihrer Art.

Ein natürliches Taktgefühl ließ sie stets das Rechte treffen. Da gab es Offiziersfrauen, die Kauerhof zum Beispiel, die auch zu Hause von nichts anderem sprachen als von Besichtigungen und Beförderungen, von Eingaben und Berichten. Und wieder andere gab es, die kleine Keyl II, geborene Möller, zum anderen Beispiel, die dem Manne den Mund zuhielten, wenn er in seinen vier Pfählen einmal ein Wort von seinem Beruf verlauten ließ. »Männchen,« pflegte dieses zärtlichste aller Weibchen zu sagen, »ich vergehe so wie so bald vor Sehnsucht, wenn du in dem scheußlichen Dienst bist, dann sprich' mir wenigstens nicht noch davon, wenn ich dich endlich wiederhabe.«

Kläre hielt die richtige Mitte inne.

Wenn der Gatte etwa beim Mittagbrot den Schatten des Batteriehalunken Mortag an die gemütliche Tafel heranbeschwor, dann verscheuchte sie das griesgrämige Gespenst ganz unnachsichtig. Aber wenn er mit schweren Zweifeln an sie herantrat, dann ging sie tröstend und ausgleichend mit ihm zu Rate. Sie kannte seinen Plan, sich noch ein Jahr als Batteriechef zu prüfen, – zuweilen hatte sie Lust, ihm zu einer Abkürzung der Probezeit zuzureden.

Die kluge Frau sah voraus, daß er binnen Jahr und Tag den Soldatenrock ausgezogen haben würde.

* * *

Leutnant Reimers war nach wie vor der willkommene Gast des Güntzschen Hauses.

Er hatte eingesehen, daß er den Freunden mit seinen häufigen Besuchen wirklich nicht zur Last fiel, 548 und wenn Frau Kläre mit der Liebenswürdigkeit einer sorgsamen Gastgeberin auf seine kleinen Eigenheiten Rücksichten nahm, wehrte er sich nur noch matt: »Aber gnädige Frau verwöhnen mich wahrhaftig zu sehr. Was soll ich denn anfangen, wenn ich zum Beispiel nächstes Jahr auf Kriegsakademie kommen sollte?«

Und zu Güntz sagte er: »Wahrhaftig, du, wenn man dir und deiner Frau zusieht, dann fühlt man erst, was für ein halber Mensch der Junggeselle ist.«

Der dicke Hauptmann lachte behaglich.

»Kläre,« rief er seiner wiedereintretenden Gattin zu, »es scheint doch, als ob ich keinen Mißgriff begangen hätte, damals, als ich dich zur Gemahlin wählte.«

»Wieso, Dicker?« fragte die Frau.

»Reimers meinte soeben, angesichts unserer Ehe bekäme er Appetit zum Heiraten. Was sagst du bloß jetzt dazu?«

»Sehr vernünftig ist das, Herr Leutnant,« versetzte Kläre.

Reimers wurde ein wenig rot und antwortete: »Nun, dann werde ich nächstens mal auf die Brautschau gehen. Denn was Sie raten, gnädige Frau, das ist unbedingt gut.«

»Oller Schmeichler!« brummte Güntz. »Mach' mir die Frau nicht eitel!«

Aber als Reimers sich verabschiedet hatte, sagte er zu Kläre: »Ich glaube wirklich, es ist das Gescheiteste, Reimers heiratet. Er hat nun mal gar nicht das Zeug zum Kasino- oder Kneipenmenschen. Er soll nur man getrost ein bißchen unter den Töchtern des Landes Umschau halten.«

Frau Kläre deklamierte: »Warum in die Ferne schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah.« 549

Der Hauptmann fuhr in die Höhe: »Nanu?«

Lächelnd zeigte die Frau mit dem Daumen über die Schulter nach der Nachbarvilla.

»Marie Falkenhein?« fragte Güntz.

Frau Kläre nickte.

»Du!« drohte der Gatte. »Du willst dir doch nicht etwa einen Kuppelpelz verdienen?«

»Aber Dickerchen! Kennst du mir von der Seite?« protestierte die Verdächtigte. »Nein, nein, wo werd' ich denn! Aber im Ernst, ich meine, die beiden jungen Leutchen würden ganz gut zueinander passen. Na ja, – und daß eins vor dem andern einen Abscheu haben sollte, da liegt doch auch kein Grund vor. Von Mariechen weiß ich sogar positiv, daß sie Reimers sehr nett findet, und das genügt doch immerhin für den Anfang, falls dem guten Reimers die Augen aufgehen sollten.«

»Aber ganz von selbst! Ohne Nachhilfe, bitte ich mir aus!« schob der Hauptmann ein.

»Natürlich, Dicker, ganz von selbst.«

»– Aber Kläre, die Geschichte mit der Gropphusen? Schon faul, was?«

»Keine Spur! Das war weiter nichts als 'n flüchtiger Flirt, 'ne Poussade.«

Güntz wiegte bedenklich sein Haupt.

»Nee, weißt du, Kläre,« erwiderte er, »ich kenne doch meinen Reimers! Mit flüchtigem Flirt und Poussaden ist bei dem nichts los. Das ist gerade das Unglück von diesem lieben Kerl, daß er alles so verdammt ernst nimmt. Bei ihm ist das damals mit der Gropphusen ziemlich tief gegangen. Das darfst du mir dreist glauben.«

»Trotzdem hängt man sich doch nicht für die Ewigkeit an eine so aussichtslose Sache!« 550

Der Hauptmann war nicht recht überzeugt.

»Dem ist alles zuzutrauen!« sagte er. »Aber hoffentlich hast du recht. Übrigens wirklich! Die beiden passen zusammen.«

Behaglich im Zimmer auf und ab schreitend, sprach er weiter: »Und es klappt alles ganz gut. Reimers hat so ungefähr siebzigtausend Mark Vermögen, und der Oberst wird seinem Töchting wohl auch ein paar Silberlinge mitgeben können, ohne daß er sich einzuschränken braucht. Ich schätze so zwanzigtausend. Er ist ja kein Krösus, aber er wird dann dafür auch bald General. Eher wird sich mein guter Reimers mit seiner Leidenschaft für Bücher einrichten müssen. – Wirklich, wirklich! Die Sache klappt ganz reizend.«

Er blieb stehen und strich die Asche seiner Zigarre ab.

»Was lachst du, schlimmes Weib?« fragte er aufblickend.

»Was bist du komisch, Dicker!« antwortete Kläre. »Mir schiebst du stirnrunzelnd sofort die schlimmsten Absichten unter, und du machst Pläne über Pläne und rechnest dir gleich die Vermittelungsprozente aus!«

Aber Güntz parierte ihren Ausfall galant: »Meine liebe Kläre, das ist nur wieder ein Kompliment für dich. Nur glückliche Eheleute suchen wiederum Ehen zu stiften.« – –

Es geschah ohne Zutun der beiden Güntz, daß Reimers kurz darauf den dicken Freund fragte: »Du, Güntz, findest du nicht auch, daß Mariechen Falkenhein ein nettes Mädel ist?«

Güntz neigte sich angelegentlich im Stuhl hintenüber und antwortete: »Nettes Mädel, – wieso? Natürlich hat sie ein hübsches Gesichtel, ihre Augen sind besonders lieb, und sie ist auch gerade gewachsen. 551 Ein bissel zu schlank, finde ich. Für meinen Geschmack selbstredend.«

»Ach nein,« versetzte Reimers, »das meine ich weniger. Ganz sicher ist sie auch hübsch. Aber das ist doch schließlich mehr Nebensache. Ich meine mehr die ganze Art, wie sie sich gibt. Ich finde, es ist etwas so Sicheres, so Tröstliches, Beruhigendes in ihrem Wesen. Nicht?«

»Ja, weißt du, – so eingehende Beobachtungen habe ich nun noch nicht angestellt. Aber du magst schon recht haben. Ich glaube auch, sie wird mal eine ganz prächtige Frau abgeben. Gewandt und formsicher nach außen, und doch keine Spur von Oberflächlichkeit, starker Sinn für häusliches Behagen, ein einfacher, klarer, kluger Verstand. – Glücklich der Mann, der sie mal als Gattin heimführt!«

Reimers richtete sich unwillkürlich straffer auf und gab zu bedenken: »Was glaubst du denn?! Dazu ist sie doch noch viel zu jung.«

»Na, na«, widersprach Güntz, »im Herbst wird sie achtzehn, und einstweilen ist sie noch nicht verlobt. Und dann kommt der Brautstand des gebildeten Europäers – nicht unter einem halben Jahr. Na, dabei kommt so allmählich die Zwanzig heran, und mit zwanzig ist ein weibliches Wesen in unserer geographischen Breite sehr wohl heiratsfähig.«

Reimers schien zu überlegen. Er gab nur ein gedehntes »Hm« zur Antwort und verließ dann den Gegenstand.

Aber die Regimentsdamen hatten bald einen neuen Gesprächsstoff: Leutnant Reimers bewarb sich um Falkenheins Marie. Er hegte die ernsthaftesten Absichten, daran war kein Zweifel. Nun, Rivalen hatte er dabei nicht zu befürchten. Falkenhein war arm, das 552 wußte jeder Mensch. Er mochte kaum mehr das notdürftigste Kommißvermögen haben. Und die Tochter? O ja, sie war eine hübsche, zierliche Erscheinung, aber blendend schön war sie auch nicht, so daß sie etwa deshalb sonderliche Ansprüche hätte erheben können. Es handelte sich eben um nichts anderes als um eine echte und rechte Kommißehe.

Die Damen waren der Ansicht, Leutnant Reimers mit seiner stattlichen Persönlichkeit habe eine weit bessere Partie machen können. Schließlich lenkte Frau Regimentsadjutant Kauerhof die Aufmerksamkeit auf einen bisher ganz außer acht gelassenen Punkt. War es nicht eine ganz gute Spekulation von Seiten Reimers', die Tochter eines Mannes zu heiraten, dem eine so sichere Karriere bevorstand? Die Berechnung war nicht ganz so weit ausschauend angestellt wie diejenige des Hauptmanns Madelung, der kürzlich die Garnison durch seine Verlobung mit einem sehr ältlichen, sehr bigotten und sehr häßlichen Hoffräulein aus dem Hofhalt des Thronfolgers überrascht hatte, aber sie stand doch auf sehr soliden Füßen.

Von da an begriff man die Angelegenheit schon eher, und im Munde des Garnisonklatsches empfahlen sich Marie von Falkenhein und Leutnant Bernhard Reimers bald als Braut und Bräutigam.

Die beiden Güntz indessen, die den Ereignissen aus nächster Nähe zusahen, merkten fast noch gar nichts von einem Einandernäherkommen der beiden jungen Menschen. Reimers widmete sich bei den kommunistischen Abendmahlzeiten der beiden Villen dem kleinen Fräulein angelegentlicher als früher, das war das einzige. Sie führten sehr ernsthafte Gespräche miteinander und verstanden sich stets ausgezeichnet. Das junge Mädchen schien bereits dadurch sehr beglückt 553 zu sein und nahm jeden Beweis der zarten, zurückhaltenden Ritterlichkeit des Leutnants mit einem leisen Erröten entgegen, aber Reimers bemerkte das offenbar gar nicht.

»Weißt du, Dicker«, sagte Frau Kläre, »dein guter Reimers ist doch ein merkwürdiger Mensch. Der baumlange Kerl benimmt sich wie ein Page aus der Minnesängerzeit, »ein frommer Knecht war Fridolin –«. Ich kann mir nicht helfen, es kommt mir so vor, als sähe er in Mariechen viel eher eine recht liebe Schwester als die zukünftige Frau.«

Der Gatte nickte.

»Du bist immer meine kluge Kläre,« lobte er. »Und sieh mal, da schiltst du stets über mein Phlegma, aber nun sag', hab' ich nicht geradezu stürmisch um dich geworben im Vergleich zu Reimers?«

Und gedankenvoll setzte er hinzu: »Nein, nein, bis jetzt ist das bei weitem noch nicht das richtige. – Vielleicht wird's noch. Du kannst mir glauben, Kläre, es hat auch redlich lange gedauert, bis ich mit Reimers ins reine gekommen bin. Freundschaft und Liebe sind ja verwandte Begriffe. Und er ist so scheußlich gründlich, der gute Reimers!« –

Die geschwätzigen Zungen hatten natürlich nicht gezögert, Frau von Gropphusen die interessante Neuigkeit beizubringen. Man mußte ihr lassen: wenn ihr der Flirt vom vorigen Sommer wirklich noch im Sinne lag, dann verstand sie sich zu beherrschen. Man paßte scharf auf, aber es war ihr nichts anzumerken. Kein Zusammenzucken, keine Pause im Gespräch, keine Veränderung im Ausdruck des Gesichts oder der Stimme. – Schade! Da man in dem kleinen Neste ein Theater entbehren mußte, erlebte man so gerne ein paar wirkliche, kleine Dramen. 554

Hanna Gropphusen stellte auch die Besuche bei Frau Oberleutnant Güntz nicht ein. Sie kam nicht seltener und nicht häufiger. Sie schien überwunden zu haben.

Frau Kläres Geburtstag wurde in der Laube des Falkenheinschen Gartens bei der zweiten von den erlaubten Maibowlen gefeiert. Man hatte soeben zum soundsovielten Male auf die Gesundheit des Geburtstagskindes angestoßen und war im Begriff, sich wieder zu setzen, da schrillte draußen auf der Straße das Glockensignal eines Radfahrers. Das huschende Geräusch der flinken Räder kam näher, und gerade vor dem Garten hörte man ein Paar leichte Füße auf den Boden springen.

Eine helle Stimme, die wohl recht munter klingen sollte, die aber augenscheinlich ein wenig atemlos war, klang zur Laube herauf: »Hoch! Hoch! Und zum dritten Male hoch! Kann man da auch noch etwas zu trinken bekommen?«

Güntz eilte zur Brüstung.

»Gnädige Frau!« rief er erstaunt. »Aber gewiß! Es ist noch mächtig viel da.«

Er wandte sich zurück: »Herr Oberst gestatten? Frau von Gropphusen ist draußen.«

Falkenhein trat eilig neben ihn: »Aber ich bitte sehr gehorsamst, gnädige Frau, uns die Freude zu machen. Ich werde mir sofort gestatten, Ihnen das Rad abzunehmen.«

Er ging zum Tor und geleitete Frau von Gropphusen in die Laube. Güntz hatte ihr bereits einen Stuhl an den Tisch herangerückt und ein Glas Maiwein eingeschenkt.

»Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?« rief 555 Kläre munter, indem sie dem späten Gast herzlich die Hände entgegenstreckte.

Hanna Gropphusen grüßte die lustige Tafelrunde mit einem heiteren Lächeln und erwiderte: »Ich bitte um Verzeihung, aber das Licht und die Fröhlichkeit in Ihrer Laube, Herr Oberst, – das schimmerte beides gar zu einladend.«

Sie hob ihr Glas und trank Kläre Güntz zu: »Ihr Glück, liebe Frau Kläre, von ganzem Herzen!«

»Ich habe mich bei Frau von Stuckardt verspätet,« erzählte sie dann, »oder vielmehr, Frau von Stuckardt hat mich nicht fortgelassen.«

»Stuckardt erzählte mir,« unterbrach sie der Oberst, »seine Frau wäre leidend?«

»Jawohl. Sie hat ihren alten Gesichtsschmerz wieder, den ihr kein Arzt vertreiben kann, und eben deshalb, – ja, denken Sie, Frau Kläre und Herr Oberst, – eben deshalb durfte ich nicht fort. Ich hab' ihr die Hände auf die Wangen legen müssen. Tröstende Hände hätt' ich, sagte sie, Hände, die ihr wohltäten. Nun, dann kann man doch nicht gut weg, nicht wahr?«

Reimers sah zu ihr hinüber. Sie saß ein wenig im Schatten, in ihrem weißen Strohhut und ihrer hellen Hemdbluse aus dem Dunkel hervorschimmernd. Ein kleiner, funkelnder Brillant hielt den Schlips zusammen. Nur die Spitze ihres Fußes war in dem Lichtkegel der Lampe sichtbar, ein schöner, schmaler, feinbeschuhter Fuß, der hastig auf- und niederwippte.

Der Leutnant scheute sich ihren Blicken zu begegnen. Darum wandte er sich lebhaft zu Marie Falkenhein, seiner Nachbarin. Der Maiwein war ihm ein wenig zu Kopfe gestiegen. Er plauderte munter darauf los. Das junge Mädchen hörte ihm mit 556 geröteten Wangen und glückglänzenden Augen zu und antwortete mit lachenden Lippen.

Sie merkten es beide gar nicht, daß Frau von Gropphusen inzwischen ihr Glas ausgetrunken hatte und sich zum Gehen anschickte.

»Schönen Dank!« sagte sie. »Ich war nahe am Verschmachten. Der Maiwein hat mir wohlgetan. Aber es wird spät, ich muß heim.«

Falkenhein fragte: »Gewiß erwartet man Sie zu Hause, gnädige Frau?«

Hanna Gropphusen lachte ein wenig bitter.

»Mich?« versetzte sie. »Wer denn? Nein, nein. Mein Mann ist, glaube ich, gar nicht daheim. Aber ich bitte, Herr Oberst, bestrafen Sie ihn nur nicht deshalb.«

Das war eine etwas peinliche Wendung. Aber Frau von Gropphusen nahm darnach wieder so einfach und natürlich Abschied, daß niemand mehr daran dachte. Der Oberst begleitete sie bis zum Tor.

Die vier in der Laube waren an die Brüstungen getreten. Güntz hatte den Arm zärtlich um Frau Kläre gelegt, und Reimers stand neben Marie Falkenhein. Sie sahen zu, wie Hanna Gropphusen ihr Rad bestieg und langsam anfuhr. Im Sattel drehte sie sich um, winkte mit der Rechten und rief ein lachendes »Gut' Nacht!«

Eine Strecke weiter kehrte sie noch einmal das Antlitz zurück. Die Hand im weißen Handschuh winkte, aber man konnte die Gesichtszüge nicht erkennen.

Dann glitt das flüchtige Rad in das Dunkel hinein.

Frau von Gropphusen radelte ohne Eile nach Hause.

Am Tor wartete der Bursche. Er nahm ihr das Rad ab und schob es hinter ihr her. 557

»Befehlen gnädige Frau den Thee?« fragte er. »Es ist im Eßzimmer angerichtet.«

»Nein,« antwortete sie. »Ich habe schon gegessen. Decken Sie ruhig wieder ab!«

Wie sie war, im Sportkostüm, warf sie sich auf das Ruhebett in ihrem Zimmer. Sie zog die Decke zu sich empor und hüllte sich darein.

Das Mädchen klopfte leise: »Soll ich Licht anstecken, gnädige Frau?«

»Nein doch!«

Und Hanna Gropphusen lag bis tief in die Nacht hinein und starrte mit weit offenen Augen in die nächtliche Finsternis des Zimmers. –

Wenige Tage später kam Marie Falkenhein durch die Gartenpforte zu Kläre Güntz hinüber.

»Kläre,« sagte sie, »ich gehe zur Stadt, bei Frau von Stuckardt nachfragen, wie es geht. Willst du, daß ich beim Drogisten hineinfrage und ihm sage, er soll dir den Milchzucker für den Buben schicken?«

Frau Kläre musterte das junge Mädchen und drohte ihr lächelnd mit dem Finger.

»Mariechen! Kleinchen!« erwiderte sie. »Das hätte ich nie gedacht, daß dieses Kindchen so eine ausgefeimte Heuchlerin sein könnte!«

Marie wurde rot.

»Ja, ja!« sprach Kläre weiter. »Weil ich ein paar Mal die Eitelkeit als 'ne ziemliche Untugend proklamiert habe, hast du dich natürlich geniert, mir das neue Kleid und den neuen Hut zu zeigen. Aber übers Herz konntest du's auch nicht bringen, bei deiner alten Freundin vorbeizugehen. Nicht wahr, so war's?«

Das junge Mädchen nickte, purpurrot im Gesicht. 558

Kläre streichelte ihr liebkosend die Wange und fuhr fort: »Schäfchen du, dummes! Weißt du, wenn man so niedlich ist wie du, dann ist Eitelkeit schon entschuldbar. Sag' mir nur in aller Welt, wo hast du denn die Sachen her?«

»Ach, Kläre,« antwortete das kleine Fräulein, »von hier natürlich nicht. Frau von Gropphusen ist mit mir gefahren, neulich, und hat mir die Sachen aussuchen helfen. Ich sage dir, Kläre, die versteht's!«

Die junge Frau stellte die Freundin vor sich in Positur und betrachtete sie von Kopf bis zu Fuß. Es konnte in der Tat kein Kostüm geben, das glücklicher zu der zarten Erscheinung Mariens gestimmt hätte, als dieses Kleid von lichtgrauem, ganz leichtem Seidenstoff, das rings mit weißen Bändern besetzt war, und dieses gleichfarbige Hütchen, durch dessen Fasson die feinen Schönheiten des jungen Gesichts, die schmale Kopfform und vor allem das feine, gerade Näschen, leise betont wurden.

Kläre gab dem Mädchen einen derben Kuß und sagte: »Bildhübsch bist du, Kleines! Ganz reizend! Na, und was meinte der gestrenge Vater?«

Marie war ganz rot vor Stolz.

»Potztausend! hat er zuerst gesagt,« antwortete sie, »dann hab' ich auch von ihm 'nen Kuß gekriegt, und zuletzt ist er ganz ängstlich geworden und hat sich erkundigt, ob ich auch nicht Schulden gemacht hätte. Ich hab' ihm schwören müssen, daß der ganze Staat wirklich nicht mehr gekostet hat, als was er mir dazu gegeben hatte.«

»Ist denn das auch wahr, Kleinchen?«

»Ach Gott, vier Mark hab' ich draufgelegt von meinem Taschengeld.«

Kläre schüttelte lächelnd den Kopf: »Ei, ei. So 559 jung und schon so verderbt! Heuchelei und Meineid! Na, wenigstens hat es sich gelohnt.«

Frau von Gropphusen beschäftigte sich fortan angelegentlich damit, Marie von Falkenhein in Toilettenfragen zu beraten. Ihre schlanken Hände waren flinker und geschickter als die der gewandtesten Zofe, und selbst aus den schlichten Pensionskleidern des jungen Mädchens verstand sie nette, eigenartige Toilettenstücke herzurichten.

Alle diese Vorrichtungen nahm sie mit einer sanften, mütterlichen Zärtlichkeit vor, die sich zu ihrer eigenen Jugend ganz seltsam ausnahm. Das Schulmädchenmäßige an Mariechen Falkenhein verschwand allmählich, und ein zartes junges Weib kam zum Vorschein.

»Donnerwetter!« sagte Güntz zu Frau Kläre, »Mariechen macht sich aber jetzt heraus! Das ist ja eine verdammt niedliche Krabbe!«

Und Reimers betrachtete das junge Mädchen mit Augen, die nicht mehr so geschwisterlich gleichmütig dreinschauten wie ehedem. – – –

Kurz vor dem Abmarsch nach dem Truppenübungsplatze stürzte der Regimentsadjutant, Oberleutnant Kauerhof, mit dem Pferde. Er erlitt eine Sehnenzerrung im Kniegelenk, die ihn voraussichtlich auf sechs Wochen vom Dienst fernhalten mußte.

Zu seinem Stellvertreter wurde Leutnant Reimers ernannt. Er war der älteste Leutnant des Regiments, seine Beförderung zum Oberleutnant war jeden Tag zu erwarten.

Der junge Offizier war ganz außer sich vor Freude über diese Auszeichnung. Er übernahm sein Amt mit einem unbändigen, unermüdlichen Eifer. Er erriet fast die Absichten Falkenheins, und zuweilen 560 bedurfte es gar nicht bestimmter Angaben, in welchem Sinne dies oder jenes erledigt werden sollte. Der Oberst wußte, Reimers traf das Rechte. Die Anschauungen, die in dem Leutnant lebten, waren auch genau diejenigen des Obersts.

Falkenhein vermochte sich keinen aufmerksameren Adjutanten zu denken, keinen, der auch außerdienstlich, während des Marsches und auf dem Truppenübungsplatze, zarter und liebevoller für ihn hätte sorgen können. Er meinte in der Garnison bemerkt zu haben, daß sich der Leutnant mehr als sonst um seine Tochter zu schaffen machte. Der Gedanke, sein Kind einmal diesem ausgezeichneten jungen Manne anzuvertrauen, machte ihn glücklich. Reimers war ihm bereits ein lieber Sohn, – so hätte ein neues, innigeres Band die bestehende innere Gemeinschaft nur noch fester zusammengeschlossen.

Diese freundlichen Aussichten ließen ihn gesprächiger werden, als es sonst seine Gepflogenheit war. Es war bekannt, daß der Oberst nicht eben entzückt von den mancherlei Neuerungen war, die mit dem Regierungsantritt des jungen Kaisers ihren Einzug in die Armee gehalten hatten. Nun, da er wußte, daß er seinem interimistischen Adjutanten unbedingt vertrauen durfte, daß aus Reimers' Munde kein verdrehtes oder entstelltes Wort an irgend ein mißgünstiges Ohr gelangen würde, sprach er sich seine Sorgen und seinen Kummer frei vom Herzen herunter.

Über einzelne von diesen vertraulichen Mitteilungen geriet Reimers geradezu in Bestürzung. Er hatte geglaubt, in Falkenhein einen Offizier zu finden, der ihm die von Güntz erweckten Zweifel vollständig verscheuchen würde, und nun mußte er erleben, daß selbst dieser verehrte Mann von schweren Bedenken 561 gegen die Zweckmäßigkeit und Vollkommenheit der deutschen Armeeeinrichtungen erfüllt war.

Die wichtigsten seiner Unterhaltungen mit dem Oberst zeichnete er an den Abenden auf:

2. Juni:

Leutnant Landsbergs schöne Stute Mrs. Page, die er aber nicht selber reiten kann, hat vorgestern im Märkischen Jagdrennen den ersten Preis gewonnen. Landsberg machte darauf mit seiner Clique gestern eine Sektzeche von annähernd 200 Mark. Der Oberst wäscht ihm heute gewaltig den Kopf, und als er ihn jammervoll auf dem Gaul hängend findet, läßt er ihn vor uns her eine halbe Stunde Exerziertrab reiten.

Er kommt bei dieser Gelegenheit auf den Ersatz des deutschen Offizierkorps zu sprechen.

Das beste Offiziersmaterial entstammt seiner Ansicht nach immer noch dem sogenannten Armeeadel, d. h. den – nicht notwendig adeligen – Familien, deren Glieder seit Generationen deutsche, bezw. preußische, sächsische, hannoversche &c. Offiziere sind. (Beispiele: Der Oberst selbst, Wegstetten, auch meine Wenigkeit.) Diese Familien sind meist wenig begütert und heiraten oft untereinander. Die pflichtmäßige Hingabe an den Offiziersberuf mit Hintansetzung der eigenen Person ist ihnen in Fleisch und Blut übergegangen, etwas Selbstverständliches. Sie ist ihnen gleichsam angeboren und durch die einfache, strenge Erziehung im Ausblick auf den Beruf unerschütterlich eingeprägt. Darin liegt aber auch die Gefahr, daß durch diese geistige Inzucht der Gesichtskreis dieser Offiziere zu eng wird, daß sie der zeitgenössischen Weltanschauung hilflos und ohne Verständnis gegenüberstehen.

Darum ist es von hohem Wert, daß der Körper 562 des deutschen Offizierskorps durch das frische Blut des bürgerlichen Ersatzes verjüngt wird. Diese Elemente aus dem Bürgertum erweitern, in neuzeitlichen Anschauungen aufgewachsen und erzogen, den Gesichtskreis der Offizierskorps wohltuend. Sie bringen klare, vorurteilslose Köpfe und viel Sinn für die entwickelteren technischen Aufgaben des modernen Heeres mit (z. B. Güntz).

Das unbrauchbarste Material stellen diejenigen Offiziere dar, die auf Grund des väterlichen Geldes ihren Beruf als einen glänzenden, an äußeren Ehren reichen und darum höchst angenehmen Sport auffassen. Sie rekrutieren sich, je nach Verhältnis, aus wohlhabenden bürgerlichen Familien (Landsberg), und in den vornehmen Garderegimentern aus den Familien des Großgrundbesitz- und Großindustriellenmagnatentums. Besonders die letzteren halten Hofparkett und Rennplätze für ein wichtigeres Betätigungsfeld als Exerzierplatz und Kaserne. Sie sind teilweise ohne jeden Ehrgeiz, weil sie mit der Absicht eintreten, nur eine beschränkte Zahl von Dienstjahren der Armee anzugehören und darauf in ein bequemes Privatleben bezw. auf ihre Besitzungen sich zurückzuziehen. Sie setzen zwar löblicherweise eine Ehre darein, dem Monarchen länger als pflichtmäßig (z. B. als Reserveoffizier) zu dienen, aber sie leisten dem König damit einen schlechten Dienst. Sie sind weder, was das Aufgehen im Berufe angeht, rechte Offiziere, – denn das erfordert einen ganzen Mann, und es genügt nicht, daß man sich mit Grazie totschießen läßt, – noch auch später tüchtige Staatsbürger, da z. B. zur Verwaltung eines großen Grundbesitzes erhebliche Vorkenntnisse erforderlich sind, die man als Offizier jedenfalls nicht erwerben kann. 563

Hier gibt der Oberst plötzlich seinem Schweißfuchs die Sporen und galoppiert schweigend in eine Schneise hinein.

»Dabei werden diese Offiziersexistenzen aus Laune doch manchmal kommandierende Generale oder sowas!« sagt er dann. »Und das ist das Schlimme daran!« –

3. Juni.

Der Oberst knüpft an das gestrige Gespräch an. Wir unterhalten uns über Adel und Bürgertum in der Armee.

Er gibt ohne weiteres zu, daß vom Stabsoffizier ab eine Zurücksetzung des bürgerlichen Elements aus unsachlichen Gründen stattfindet, herrührend aus dem Abglanz alter persönlicher Beziehungen zwischen Monarch und Lehnsadel, in etwas gemildert durch Nobilitierungen, – deren Annahme von seiten eines Bürgerlichen er übrigens verurteilt. Der Fall Lentze ist tatsächlich eine Ausnahmserscheinung. Ich empfinde das als starke Ungerechtigkeit. Der Oberst denkt gleichgültiger darüber. »Wenn überhaupt bei der Beförderung die Befähigung des Betreffenden das Maßgebendste ist,« sagte er, »so untersteht das Urteil darüber doch wieder Menschen, die sich sehr irren können, auch für den Fall, daß sie ganz objektiv zu richten den ehrlichen Willen haben.« Im allgemeinen bricht sich das Genie von selbst Bahn, schon ein besonders hervorstechendes Talent ebensogut, z. B. Lentze. Kleinere Unterschiede sind ohne Bedeutung. Er schließt: »Wenn es nur selbst unter den Adeligen immer der wirklich tüchtigste am weitesten brächte!«

Ist denn das nicht aber ganz bestimmt der Fall?!

Wie er vorher aus der innerhalb des Armeeadels herrschenden Inzucht die Gefahr der 564 Einseitigkeit folgert, entspringt ihr seines Erachtens andrerseits auch ein Vorteil: eine Art Häufung spezifisch militärischer Eigenschaften, sowohl geistiger wie körperlicher Art. Er wird wohl recht haben. Mir fällt Ludwig von Ottensen ein, mein Kamerad vom Gymnasium bis Tertia und von Kriegsschule. Auf dem Gymnasium schrie er fast vor Dummheit, jetzt ist er, – nach meinem ehrlichen Dafürhalten –, ein sehr brauchbarer Kavallerieoffizier. Derselbe Ottensen hing beim Turnen beinahe hilflos am Reck, im Springen und Laufen war ihm keiner über. Die oberen Gliedmaßen waren gegenüber den unteren auffällig unausgebildet. Das macht: Ottensens Väter und Vorfahren waren bereits in fünf Generationen Reiteroffiziere. Er selbst ist jetzt der schneidigste Reiter des Armeekorps.

Eine andere Bevorzugung des adeligen Elements, – daß nämlich die adeligen Offiziere, ganz abgesehen von Garderegimentern und dergleichen, sich häufiger in guten, angenehmen Garnisonen finden, – hält der Oberst für geradezu widersprechend der sonst stets so gepriesenen idealen Gesinnung des deutschen Offiziers. Er meint sehr richtig: es ist ehrenvoller, in dem schmutzigsten polnischen oder lothringischen Nest die Grenzwacht zu halten, mit der Aussicht, der erste am Feinde zu sein, und eventuell mit dem Auftrag, zur Sicherung der rückwärtigen Mobilmachung und Aufmärsche bis zum letzten Mann standzuhalten, als die Schloßwache zu beziehen und auf jedem Hofball Quadrille zu tanzen. – –

6. Juni.

Der Kronprinz hat gestern und heute im Kasino mitgespeist. Er ist auf diese zwei Tage zur Besichtigung des Dragonerregiments hier, das zu seiner Brigade gehört. Ein liebenswürdiger, gutmütiger Herr, dem die 565 Wirtschaftspächterin nicht recht zu danke gekocht hat und der es liebt, etwas beim Weine sitzen zu bleiben. Falkenhein hatte seinen Platz ihm gegenüber.

Beim Ausreiten nach dem Diner erzählt er die kräftigsten Späße, die die Hoheit zum Besten gegeben hat. Dann ist die Unterhaltung auf strategische Fragen aus dem letzten Feldzuge übergegangen. Da wird der Oberst ernst. Diese gewissermaßen kameradschaftlichen Besuche der hohen Herren bei den Offizierkorps, sagt er, können auch bedenkliche Folgen zeitigen. Je weiter der Machtbereich der betreffenden Fürstlichkeit ist, desto bedenklichere. Die Herrschaften laufen Gefahr, einen Offizier, der eine geistige Null, aber ein angenehmer und gewandter Plauderer ist, für ein militärisches Genie zu halten. Die Dezernenten der Militärkabinets haben dann nicht immer den Mut, die vorgefaßte Meinung des Souveräns zu erschüttern. Resultat: Diner- oder Parkettgenerale, nach denen dann gleich die Unterrocksgenerale rangieren. Er erinnert dabei an die Frauenwirtschaft am Hofe des dritten Napoleon. – –

8. Juni.

Gestern sind die näheren Bestimmungen über die Herbstübungen eingetroffen. Der Oberst schlägt den Wert der Manöver für die Truppen nicht allzu hoch an. Sie sollen den höheren Offizieren Gelegenheit zur Entfaltung ihrer taktischen Talente geben. Er bedauert die seltene Anwendung kriegsstarker Verbände. Namentlich hält er die Übungen in kleinerem Verbande für allzu unkriegsgemäß. Er bezweifelt auch die damit bezweckte Erziehung der Unterführer zu selbständiger Entschlußfähigkeit, da der Unterführer im Ernstfalle fast nie als unabhängiger Detachementsführer, sondern im Rahmen größerer Massen, sich 566 einschiebend, stützend oder flankenverlängernd, seine Initiative wird betätigen müssen.

Aus Übungen in größten Verbänden erzählt er mit herber Ironie Einzelheiten, die eine Hinneigung zu glänzenden, aber dilettantischen Schaustellungen verraten. Er war vor zwei Jahren im Norden, um einem Vetter das Grabgeleit zu geben. Dabei hatte er Gelegenheit, dem Manöver zweier Armeekorps beizuwohnen.

Er erzählt ungefähr folgendermaßen: »Es war eine imponierende Feuerlinie, zwölf Batterien nebeneinander, von einem Oberst kommandiert, einem prachtvollen Kerl mit dem herabhängenden Schnauzbart eines Wallensteiners. Zwei Grenadierbataillone waren zur Deckung der äußeren Flanke auseinandergezogen und wälzten sich faul auf den Wiesenkoppeln. Die Batterien waren in langsamem Feuer gegen die feindliche Artillerie begriffen. Plötzlich kommen zwei Flankenaufklärer auf einmal heran, was die Gäule laufen können, und gleichzeitig sieht man schräg vorwärts der Flanke eine ungeheure Staubwolke sich erheben.

»Wachtberg,« ruft der alte Oberst dem Infanteriemajor zu, »paß auf! Jetzt werden wir vernichtet. Kavallerie rechts voraus!«

Er läßt eine reitende Batterie aus der Reserve in den Zwischenraum zwischen den Grenadierbataillonen einrücken, die beiden äußeren Flügelbatterien schwenken, und die Kanoniere haben schon die weißen RahmenUm im Manöver kenntlich zu machen, auf welchen Teil des Gegners sich das Feuer richtet, führen die Truppen farbige Rahmen mit, die gegebenenfalls gezeigt werden. Es bedeutet rot = Feuer auf Infanterie, weiß = auf Kavallerie, gelb = Artillerie. in der Hand, um sie aufzuheben, sobald 567 der erste Reiter sichtbar wird. Die Staubwolke kommt näher, und nun kommen sie heran, vier Regimenter, ein einziger, wundervoller Anblick, weit voran der Regisseur des Coups auf einem prachtvollen Schimmel.

»Schnellfeuer!« heißt's hüben. Die Grenadiere feuern vier Glieder tief, die drei Batterien geben ihren Schrapnellsegen darein. Bei Sedan kann es nicht anders gewesen sein, als die Kavalleriedivision Marguérite zu ihrem Todesritt angesetzt wurde. Aber die vier Reiterregimenter kommen heran, auf vier, drei, zwei, hundert Meter. Dann »H–a–lt!« Der Schiedsrichter galoppiert herzu, die weiße Binde kaum sichtbar unter Fangschnüren und Krimskrams, den Schnurrbart bis über den Helmrand gesträubt, das Einglas im Auge. Mein alter schnauzbärtiger Oberst sprengt ihm entgegen, die Hand am Helm, und nimmt ihm das Wort aus dem Mund: »Wir sind selbstverständlich zermalmt, Exzellenz?«

Dem andern entfällt das Monokel. »Aber natürlich!« macht er. »Für eine Stunde zur Retablierung außer Gefecht!«

»Zu Befehl, Exzellenz,« gibt der alte Wallensteiner zur Antwort. Er reißt seinen Braunen herum und erteilt den Befehl zum Aufprotzen nach rückwärts.

Er hält mit seinem Adjutanten dicht neben mir auf der Höhe, als sich seine dreizehn Batterien aus der unangreifbaren Stellung langsam zurückziehen. Es geht ein scharfer Wind, aber der tut's wohl nicht allein, daß dem prächtigen Manne zwei Tränen über die Wangen laufen.«

So erzählte der Oberst. – –

11. Juni.

Beim reußischen Infanterieregiment ist ein kleiner drolliger Oberleutnant Schreck Adjutant. Er ist mit in 568 China gewesen und hat dafür ein Ehrenkreuz bekommen. Man sieht ihn niemals ohne das gelbrote Ordensbändchen. Scherzend fragt ihn der Oberst: »Haben Sie auch an Ihrem Nachthemd ein solches Bändchen, Herr Oberleutnant Schreck?« Der kleine Kerl antwortet von seiner hochbeinigen, vorn und hinten struppierten braunen Stute herab indigniert: »Herr Oberst belieben zu scherzen!« Hinterdrein meint Falkenhein: »Du lieber Gott, anno 70 war ich schließlich auch mal so stolz auf mein erstes Kreuz.«

»Aber,« fährt er fort, »diese Ordenssintflut, die auf die Chinaexpedition niedergeprasselt ist, führt auch zur Selbsttäuschung. Sie bauscht ein kleines Ereignis übermäßig auf. Die leichten Erfolge werden zu großen Siegen gestempelt und erwecken übertriebene Vorstellungen von der eigenen Unfehlbarkeit. Es war genau so mit dem holländischen Feldzug von 1787, auf den die Kanonade von Valmy und Jena folgte.«

Jena, – das sagte schon Güntz einmal.

Übrigens will der Oberst nicht verkennen, daß die Leitung der Expedition die möglichen Erfolge erzielt hat. Abstoßend findet er dabei die hervortretende Neigung zur Ruhmredigkeit, die oft noch mit einer salbadernden Frömmigkeit verquickt ist.

»Allerdings ist das nur ein Zeichen der Zeit,« sagt er. »Aber eben diese Zeiten gefallen mir nicht. Diese ganze so zur Schau getragene Religiosität mit allen Auswüchsen, Gesundbeten, Mystizismus u. s. f., hat einen schlechten Geruch. Unter Bischoffswerder und Woellner war es in Berlin und Potsdam gerade so.«

Also abermals vor – Jena. – –

13. Juni.

Der Oberst fragt mich zum ersten Male nach 569 meinen südafrikanischen Kriegserinnerungen. Er kommt auf die Idee, weil zufällig ein Leutnant der südwestafrikanischen Schutztruppe auf dem Übungsplatz einen Besuch macht. Ich kann ihm nichts andres antworten, als daß ich einen namenlosen Abscheu gegen den Krieg aus Transvaal mitgebracht habe.

»Gegen den Krieg überhaupt?« fragt Falkenhein.

»Jawohl,« antworte ich zunächst. Aber dann kommt mir das Ungereimte dieser Antwort für einen Offizier zum Bewußtsein. Ich schränke meine Bejahung ein: ich bin in den unglücklichsten Teil des Boerenfeldzugs geraten, in die Panik nach Tronjes Gefangennahme, ich habe nur die Kehrseiten des Kriegshandwerks kennen gelernt, zerstörte Farmen, zerstampfte Felder, kein rechtes, frisches Gefecht, kaum leichte Plänkeleien, eine fortwährende Deroute.

Der Oberst hört meinem Redeschwall schweigend zu.

»Mein Gott,« sagt er schließlich, »der nachdenkende Mensch muß ja den Krieg, jeden Krieg, verabscheuen. Aber es gilt, nicht sentimental zu sein. Sentimentalität ist in diesem Falle gleichbedeutend mit Dummheit.«

Er spricht des Längeren über diesen Zwiespalt, die bekannten Dinge, und schließt: »Es gibt ja noch viele solche Rätsel auf der Welt, die einstweilen ungelöst bleiben werden und mit denen sich die Menschheit doch praktisch befassen muß. Selbst auf die Gefahr hin, gründlich irre zu gehen. Eine vernünftige Mitte darum! Nicht zu oberflächlich und nicht zu gründlich sein! Nicht zu viel grübeln!«

– Leider bin ich nicht der Mann solcher Kompromisse. – – 570

16. Juni.

Der Oberst frühstückt mit mir in der Kantine auf den Bänken mitten im Walde, Brot, Wurst, ein Glas prachtvolles Lagerbier. Nebenan sitzen Einjährige, ein paar Wachtmeister und Unteroffiziere bei ihnen. Sie sind gedrückt, weil es ihnen verboten ist, mit Unteroffizieren näher zu verkehren.

Der Oberst regt sich nicht sonderlich darüber auf. »Es ist, glaube ich, nicht immer zu vermeiden,« sagt er.

Dann spricht er weiter über die Institution der Einjährig-Freiwilligen. Seiner Ansicht nach ist sie ein zweischneidiges Schwert. Sie liefert tüchtige Reserveoffiziere, das ist ihr Vorteil. Ihre Nachteile sind folgende:

Sie demoralisiert bis zu einem gewissen Grade das Unteroffizierskorps. Bestechungen der Unteroffiziere sind zwar streng verboten. Aber das ist eine leere Form, ein Verbot, das täglich übertreten wird und dessen Übertretung wohl oder übel absichtlich übersehen wird. Der Unteroffizier wird dadurch an Ansprüche gewöhnt, die nicht mehr im Verhältnis zu seinem Einkommen stehen und die allmählich auch den Pflichtgetreuen zu Pflichtwidrigkeiten veranlassen können, von der sich unfehlbar einstellenden Unzufriedenheit mit dem Beruf ganz abgesehen. Ferner entzieht die Einrichtung des einjährig-freiwilligen Dienstes gerade diejenigen Elemente der Truppe, die vermöge ihrer höheren Einsicht und Bildung der beständigen sozialistischen Propaganda im Heere am wirksamsten entgegenzutreten und in gewissem Sinne aufklärend zu wirken vermöchten. Der Oberst hält alle Verbote und Verordnungen gegen das Eindringen des revolutionären Geistes in die Armee für mehr oder minder imaginär. Das einzige verläßliche Mittel 571 ist die Kontrolle durch zweifellose Elemente mitten unter der Mannschaft. Ein Wohnen der Einjährigen in der Kaserne mitten unter den übrigen Mannschaften stellt zwar hohe Anforderungen an den Patriotismus der jungen Leute, ermöglicht aber eine solche sichere Überwachung und läßt außerdem einen höchst nützlichen Blick in die Denkweise und die Empfindungswelt des gemeinen Soldaten tun. Aus demselben Grunde hält Falkenhein diese allerdings unbequeme Einrichtung auch für den Avantageur als zukünftigem Offizier für sehr wünschenswert. Die französische Heeresverwaltung, die neuerdings eine ähnliche Bestimmung erlassen hat, hat seiner Ansicht nach damit einen sehr glücklichen Griff getan. Die Beschwerlichkeit dieser Maßregel bewirkt von vornherein eine Aussonderung und Abschreckung der oberflächlichsten Elemente, sie erzieht gereiftere, männlichere Offiziere und zugleich Offiziere, die nicht mehr ganz so wildfremd der Anschauung ihrer Untergebenen gegenüberstehen. – –

* * *

Das Prüfungsschießen im Regiment verlief tadellos. Der kommandierende General sprach in seiner Kritik von einer zuversichtlichen Freude, mit der er jedesmal zur Besichtigung des Osterländischen Feldartillerie-Regiments sich begebe, von einer Freude, die noch nie enttäuscht worden wäre.

»Ich gratuliere beiden,« schloß er, »dem Regiment und Ihnen, Herr Oberst von Falkenhein. Dem Regiment, weil es einen so ausgezeichneten Kommandeur an seiner Spitze hat, und Ihnen, Herr Oberst, weil Sie Ihr Regiment zu einer so ausgezeichneten Truppe heranzubilden verstanden haben.«

Sonderlich klar oder geistreich war das nicht 572 gesagt, aber es klang sehr gut, und mehr von Lob konnte man füglich nicht verlangen.

Falkenhein war sehr froher Laune.

»Kommen Sie, Reimers,« sagte er nach dem Frühstück, als er den Kommandierenden zum Krümperwagen begleitet hatte, »wir wollen meine beiden Braunen noch ein bißchen bewegen. Sie haben heute gestanden.«

Die beiden Offiziere trabten in einem bequemen Tempo nach den Zielen hinaus. Es war bewegtes Leben draußen. Die Kugelsucher durchwühlten eine Feldschanze und das Zielbaukommando verklebte die Löcher in den Scheiben mit geteerten Leinstücken.

Der Oberst sah dem lebhaften Treiben eine Weile zu. Besonders arg zugerichtete Scheiben ließ er sich herantragen. Aber die Kugeln saßen zu fest in dem Holz, sie ließen sich nicht mit den Fingern herauspellen, so lose sie auch nur in die Oberfläche eingedrungen zu sein schienen, gar nicht zu reden von den scharfkantigen Sprengstücken.

Er kehrte sich mit einem Scherze ab und wandte den Gaul wieder nach rückwärts.

Zur Linken lag die meilenweite Ebene glatt ausgebreitet da. Die Sonne beschien sie mit einem Lichte, das durch einen leichten Wolkenschleier gedämpft war.

Falkenhein streifte die gleichförmige Landschaft mit einem Blicke und sprach: »Gottlob, in drei Tagen kehren wir dieser tellerartigen Gegend den Rücken. Ich will froh sein, wenn ich mein gutes Garnisonnest mit seinen Bergen und Talern erst wieder vor Augen habe.«

Der Leutnant nahm sich der geschmähten Landschaft an.

»Gerade in dieser Einförmigkeit,« sagte er, »liegt 573 ein Zug von Größe. Wie eine erhabene Resignation, wie ein freiwilliger Verzicht auf die großen und kleinen Abwechselungen einer mannigfaltigeren Gegend erscheint mir die Heide oder wie eine schöne Ruhe nach allen zerstreuenden Verschiedenheiten. Und wenn die Sonne hell und munter leuchtet, fehlt der Heide auch die Anmut nicht.«

Der Oberst blickte ihn gutmütig lächelnd von der Seite an.

»Na ja,« versetzte er, »Sie waren ja stets ein Stück von einem Träumer. Hier vollends sind Sie mir melancholisch geworden. Ich glaube, Ihnen könnte die Heide ordentlich gefährlich werden. – Ist das nun etwa schön?«

Gerade war die Sonne von einer dichten Wolke verdeckt, die Landschaft schien mit einem Male alle Farben verloren zu haben und streckte sich traurig und grau weithin bis an den Horizont.

Reimers zuckte die Achseln.

Aber der Oberst hatte keine Lust, Trübsal zu blasen.

»Hören Sie, lieber Reimers,« plauderte er, »das geht Sie ja auch an. Mittwoch, wenn wir eintreffen, ist ja Ihr Tag bei Güntz. Mariechen hat mir geschrieben: es gibt eine Überraschung am Abend, – nur Produkte eigener Gemüse und Hühnerzucht. Das Mädel macht einem bei all der Kasinokost das Maul wässerig. Späte, selbstgestochene Spargeln versprechen die Damen, und hinterdrein selbstgezüchtete Kücken, Frühkartoffeln, Salat, Kompott, Rhabarberspeise, dazu Erdbeerbowle, – alles eigenes Gewächs. Die Hühner haben sie durch das Los zum Schlachten bestimmt, und sie warten sehnlich auf die Burschen, weil sich keines der Küchenfrauenzimmer getraut, einem 574 Kücken den Kragen umzudrehen. Übrigens läßt das Mädel für Ihre Empfehlungen schön danken, und schöne Grüße soll ich Ihnen bestellen und herzlichen Dank dazu, daß Sie so prächtig für ihren alten Papa gesorgt hätten.«

Reimers dankte leise.

»Es ist merkwürdig,« fuhr Falkenhein behaglich fort, »wie einen so ein winziges Wesen wie mein Kerlchen daheim verändern kann. Sonst ist es mir erheblich gleichgültig gewesen, wo ich meine Bettstatt hatte, hier in der Stabsbaracke oder zu Hause. Zu Hause war ich ja doch nirgends mehr, seitdem die gute Frau tot ist. Jetzt auf einmal bringt's dieses Mädel fertig, daß ich mich wieder darauf freue, in meinen vier Pfählen zu sein.«

Der Leutnant fand das aber auch nicht im geringsten merkwürdig. Und als der Oberst munter von seinem Töchterchen weiter zu schwatzen begann, legte der vorher so wortkarge Reimers plötzlich eine wahre Redseligkeit an den Tag.

Falkenhein schaute ihn zuweilen von der Seite an. Der junge Mann war mit Leib und Seele bei der Sache. Er begeisterte sich fast, und seine Augen strahlten, als er allerhand kleine Erinnerungen an Marie Falkenheins Liebenswürdigkeit und Anmut erzählte.

Plötzlich hielt Reimers inne. Das Wort hatte ihm auf der Zunge gelegen, den Oberst sogleich um dieses Kleinod von einem Mädchen zu bitten. Das war im Grunde der vernünftigste Abschluß dieser Unterhaltung, und er glaubte zu wissen, daß er keine Abweisung erfahren würde. Aber nein, als simpler Leutnant wollte er doch nicht mit dieser Bitte vor Falkenhein hintreten, mindestens wollte er seine 575 Beförderung zum Oberleutnant abwarten. Und er schluckte die Werbung wieder hinunter.

Dem Oberst waren während des Heimritts allerlei Gedanken aufgestiegen. Nun, er für sein Teil war es zufrieden, wenn die beiden jungen Menschen sich liebgewonnen hatten. Die Tochter wußte er an Reimers' Seite wohlgeborgen, und wenn dem Paare auch kein reiches, glänzendes Los beschieden war, sein Auskommen hatte es doch, wenn man zu Reimers' Privatvermögen die paar tausend Mark seines Töchterchens hinzurechnete. Beide hatten ja auch keine verschwenderischen Passionen.

Es war eine freundliche, helle Zukunft, in die er blickte.

Zum größten Erstaunen seines Tischnachbars, eines grämlichen Infanterieobersts, der ängstlich gespannt auf eine Brigade lauerte, bestellte er sich an der Mittagstafel statt des gewohnten Tischmosels eine halbe Flasche Vix Bara. Das war die beste Sektmarke, die es auf der »Weinkarte des Truppenübungsplatzoffizierskasinos« gab.

»Gut abgeschnitten heute, Falkenhein?« fragte der Infanterist.

Der Oberst antwortete: »O ja, danke.«

Er hob höflich das Glas gegen seinen Nachbar und sagte: »Ihr Wohl und eine baldige Erfüllung Ihrer Wünsche, Hohenhöwen!«

Aber er dachte gar nicht an den Mann neben ihm, der sich so sehnlich die breiten roten Streifen an die Beinkleider wünschte, er sah über das Glas weg sein gutes Mariechen, mit glückstrahlendem Antlitz und frohen Augen, und trank auf das Glück seines einzigen Kindes. – 576

Der Zufall fügte es, daß tags darauf ein Diensttelegramm an das Osterländische Feldartillerie-Regiment eintraf, demzufolge Leutnant Reimers zum Oberleutnant befördert wurde.

Oberst von Falkenhein gratulierte seinem zeitweiligen Adjutanten als erster. Er war erstaunt, daß dieser so gesetzte Reimers über eine beinahe naturnotwendige Tatsache derart außer dem Häuschen war.

Und auch der neue Oberleutnant, der über äußerliche Dinge ganz gleichmütig zu urteilen vermeint hatte, erkannte sich selbst kaum wieder. Die Freude, mit der er jetzt auf den Achselstücken den Stern befestigte, war kaum geringer als jene, mit der er vor sieben Jahren die ersten Achselstücke überhaupt auf seinen Überrock geheftet hatte, der glücklichste Mensch der ganzen Welt.

Der Bursche bekam für seine Hilfeleistung bei der feierlichen Verrichtung einen harten Taler. Erschrocken starrte er erst seinen Oberleutnant und dann das Geldstück an. Es war ein gutmütiger Bauernbursche, das Gegenteil von dem gewandten Gähler, an dem übrigens Reimers eine moralische Eroberung gemacht hatte. Gähler war nämlich nicht als Groom zu dem eleganten Grafen Vocking zurückgekehrt, sondern bewährte sich als Diener in einem ursoliden Generalshaushalt.

Endlich brachte der Bursche einen Dank heraus: »Ich danke gehorsamst, Herr Oberleutnant.« Den neuen Titel sprach er mit gewichtiger Betonung, und sein rundes Gesicht glänzte vor Freude über diese schlau versteckte Gratulation.

Als Oberleutnant Reimers dem Oberst seine dienstliche Meldung erstattete, machte ihm Falkenhein einen unerwarteten Vorschlag. 577

»Sie wissen, lieber Reimers,« sagte er, »daß Kauerhof jetzt der älteste Oberleutnant im Regiment ist. Bevor er Batteriechef wird, muß er noch ein wenig in die Front zurück. Ich muß mich also nach einem neuen Adjutanten umsehen. Dabei habe ich an Sie gedacht, lieber Reimers. Sie haben mich bereits jetzt in der Vertretungszeit so tadellos unterstützt, daß ich mir gar keinen besseren Adjutanten wünschen kann. Wie aber denken nun Sie dazu?«

Reimers antwortete, vor Stolz und Freude errötend: »Wenn Herr Oberst mich der Auszeichnung für würdig halten, werde ich versuchen, mein Bestes zu tun.«

Der Oberst nickte und fuhr fort: »Nun, einstweilen danke ich Ihnen für den guten Willen. Wie steht es aber dann mit der Kriegsakademie?«

»In diesem Falle,« antwortete der Oberleutnant rasch, »verzichte ich natürlich gern auf die Kriegsakademie.«

»Das ist's eben, was Sie nicht sollen!« erwiderte Falkenhein. »Sie sollen die Kriegsakademie besuchen, das wünsche ich in Ihrem Interesse und im Interesse Ihrer Karriere, lieber Reimers. Aber vielleicht läßt sich die Sache einrenken, wenn Sie Ihr Examen etwas hinausschieben. Jetzt, nach der großen Vermehrung unserer Waffe, werden Sie getrost noch sechs Jahre bis zum Batteriechef warten müssen. Seien Sie die ersten zwei Jahre davon mein Adjutant, dann machen Sie Ihr Examen! Ich bin ja dann vielleicht auch nicht mehr beim Regiment, – so oder so. Einverstanden?«

Reimers schlug mit Freuden ein. Das war Glück über Glück an einem Tage. Alle Wünsche schienen ihm in Erfüllung zu gehen. Sollte er nicht am besten 578 gleich um Mariechens Hand anhalten? War das nicht der rechte Augenblick? Jetzt, da er eben einen so deutlichen Beweis der Wertschätzung und Zuneigung von Falkenhein erhalten hatte?

Ein rein formelles Bedenken hielt ihn am Ende davon ab, seine Absicht auszuführen. Es war wohl nicht korrekt, eine dienstliche Meldung und eine Brautwerbung zu verbinden. – –

Beim Mittagtisch hieß es an diesem Tage fortwährend: »Prosit, Reimers!« Oder die Ordonnanzen kamen an seinen Platz und flüsterten: »Herr Hauptmann X oder Herr Leutnant Y gestatten sich auf Herrn Oberleutnants Wohl zu trinken.« Und Reimers tat fröhlich über die Tafel weg Bescheid. Er hatte Güntz und den kleinen Dr. von Fröben zu einer Flasche Champagner eingeladen und wurde immer ausgelassener.

Als die Lichter zu den Cigarren auf die Tafel gestellt wurden, sagte Güntz zu ihm: »Junge, du hast einen Rausch, leg' dich ein bißchen schlafen!«

Aber Reimers war unternehmungslustig geworden.

»Was nicht noch?« versetzte er. »Ich reite meinen Gaul noch, ich bin über der Melderei heute noch gar nicht dazu gekommen.«

»Das ist auch gut,« erwiderte Güntz. »Tu das, mein Sohn! Das wird dich munter machen.«

Er sah lächelnd zu, wie sich der neugebackene Oberleutnant in den Sattel schwang. Der erste Versuch mißglückte, und auch die gelungene Bewegung fiel recht schwerfällig aus. Aber der Reiter saß sicher auf dem Gaule, und außerdem war die »Dorothea« als Adjutantenpferd scharf herangenommen worden; sie hatte keine sonderlichen Mucken mehr. Güntz winkte 579 dem Freunde lustig nach, wie er in den Waldweg hineintrabte.

In dem weichen Sande der Schneise sanken die Hufe des Pferdes tief ein. Die Stute fiel bald von selbst in einen faulen Schritt, und Reimers trieb sie nicht an. Der Gaul streckte den Kopf vor und zog ihm die Zügel durch die Hand. Der Reiter ließ sie lose hängen.

Jetzt merkte er erst, daß die kleinen Schlucke und Schlückchen beim Bescheidtrinken doch schließlich eine ganz gehörige Menge ergeben haben mußten. Wenn er sich Mühe gab, über irgend etwas genauer nachzudenken, entschlüpften ihm auf einmal heimtückischerweise die Gedanken. Er versuchte, sich die Unterhaltung mit dem Oberst vom Morgen klar ins Gedächtnis zurückzurufen, aber das war ihm unmöglich. Es blieb nur eine ganz allgemein gehobene Stimmung in ihm, ein etwas unklares Panorama von sehr lustigen und fröhlichen Bildern in seinen Gedanken. Er besann sich dunkel, das war ungefähr die Stimmung, in der auch er früher allerlei kleine Torheiten und lustige Streiche mitgemacht hatte. Warum auch nicht? War er nicht jung und frei?

Aber jetzt war diese Einsamkeit nach dem Lärm und Rauch des Kasinos wunderschön.

Ein prachtvoller Abend im Juni. Es mochte etwa sechs Uhr sein; er war zu träge, die Uhr hervorzuziehen. Sechs Uhr – das war schon richtig. Sonnabends aß man um vier Uhr, zwei Stunden hatte die Tafel ungefähr gedauert. Nun läuteten auch die Glocken in einem von den Dörfern über dem Walde den Sonntag ein. Die Sonne stand noch hoch, aber sie stach nicht mehr, so daß man ihre Hitze nicht lästig empfand. Die Luft war wie ein laues Bad. 580

Und der dichte Forst zu beiden Seiten des Weges war ganz stumm, kein Laut drang zwischen den schlanken Stämmen hervor. Das Schreiten des Pferdes im weißen Sande verursachte nur ein leicht reibendes und mahlendes Geräusch.

An einer Wegkreuzung blieb die Stute stehen. Sie streckte schnuppernd die Nase in einen schmäleren Pfad und bog dahin ein, von dem sandigen Wege ab auf eine beraste Querschneise.

Reimers ließ sie laufen. Es mochte ungefähr die Richtung nach dem nächstgelegenen Dorfe sein.

Der Wald zur Seite wurde lichter. Abgeholzte Strecken und ganz junge Bestände lösten die hohen Fichten ab. Dann breitete sich zur Linken eine mäßig große Waldwiese aus. Das Heu war bereits geerntet, und nur Überbleibsel mochten es sein, die in einer Ecke zu einem kleinen Schober zusammengerecht waren. Aber von diesem kleinen Bündel ging ein starker Duft aus, ein Duft von Wald, Gras und Sonne, den die Stute begehrlich in die Nüstern sog.

Mit einem Male verspürte Reimers ein ganz unsinniges Verlangen, sich ein wenig in dieses Waldwiesenheu hinzustrecken und darauf auszuruhen.

Ohne Besinnen saß er ab. Mit dem Stiefel schob er dem Gaule ein Teil Heu hin. Dann schlang er die Trensenzügel um den Stamm einer Kiefer, die einsam am Rande der Wiese stehen geblieben war, und warf sich auf den weichen Rasen. Er bettete den Kopf auf die Mütze und drückte sich tief in das knisternde, raschelnde Lager. Eine lange Rispe zog er aus dem Gewirr hervor, um daran zu kauen. Noch war der süße Grasgeschmack darin. Einzelne Halme senkten sich ihm über das Gesicht, und zwischendurch blinzelte er zufrieden und faul in den blauen Himmel. Ringsum 581 herrschte lautlose Stille. Nur wenn er den Kopf drehte und wandte, knisterten und knatterten die trockenen Gräser, daß es ihm in die Ohren klang, als ob Balken und Stämme geknickt würden.

Die Augen taten ihm am Ende weh. So lange hatte er in den strahlenden blauen Himmel geschaut. Er schloß die Lider. Das war nun Rot statt des Blau, und es lag sich mit geschlossenen Augen noch heimlicher und schöner als in dem blendenden Licht.

Er warf noch einen schläfrigen Blick auf die Stute. Sie stand ruhig und peitschte sich mit dem Schweif die Flanken. Immer von neuem suchte sie das Heu vom Boden auf, um es stets wieder aus dem gebißbeschwerten Maule zu verlieren. Er hatte noch die Idee, dem armen Vieh wenigstens die Kandare auszuschnallen, aber er war zu träge dazu.

Im Einschlummern schien es ihm, als ob etwas leicht und flüchtig an ihm vorbeistreifte. Er spürte einen Augenblick neben dem Duft des Heus einen anderen Geruch, ganz schwach nur und doch ganz deutlich.

Aber er behielt die Augen geschlossen. Es galt ihm einerlei, was da etwa um ihn vorging. –

Er erwachte von einem zarten Kitzeln und Prickeln. Es war, als ob ihm ein Halm behutsam über den Mund striche, hin und her. Er griff danach, und eine lange Rispe blieb ihm in der Hand.

Es war ihm ein wenig wirr vor den Augen, und er blickte gerade in die Sonne hinein, die schon ein beträchtliches Stück tiefer stand.

Träge schaute er sich um.

Gottlob, die Stute war noch da, den Kopf zu ihm herübergewandt, die Ohren aufmerksam gespitzt.

Aber dann, – dicht neben ihm?

Eine Frau hockte da, das zierliche Figürchen in 582 ein Kleid von leichter, heller Seide gehüllt, auf dem modisch frisierten, hellgelben Haar einen riesengroßen Strohhut, von dem grellrote Mohnblumen herabnickten. Sie kehrte ihm den Rücken zu und suchte den längsten Halm aus einem Grasbüschel zu raufen, das am Rande der Wiese wucherte.

Er rieb sich die Augen.

Zum Teufel! Träumte er denn immer noch?

Ein schwüler Hauch entströmte der raschelnden Seide ihres Gewandes, ein Hauch von Verderbtheit, wie aus dem verlockenden Treiben einer Großstadt herüberwehend, ein beklemmender, betäubender Hauch, der den reizenden Harzduft der Fichten mit einem Male vertrieben hatte.

Reimers schloß verwirrt die Lider. Seine Sinne waren noch in einem leichten Rausche befangen. Er vermochte sich nicht zu einem klaren Erwachen aufzuraffen.

Nun wandte sich die Frau zu ihm zurück. Ein reizendes, ein wenig lasterhaftes Gesichtchen neigte sich über ihn herab, und ein Paar durstige, feuchtschimmernde Lippen preßten sich auf seinen Mund.

Und Reimers war seit Jahren wieder einmal in der Stimmung, in der er wohl früher bei einer Torheit mitgetan hatte. – – –

* * *

Ein paar Wochen später hatte Oberleutnant Reimers eine Unterredung mit dem Oberstabsarzt Dr. Andreae.

»Was Sie da gesagt haben, Herr Oberstabsarzt,« schloß er, »bedeutet also so viel wie eine Art Todesurteil über das rein menschliche Glück eines Mannes? Eine Familie wird er nie gründen können?« 583

»Nein,« erwiderte Andreae. »Ein anständiger Kerl heiratet unter solchen Umständen nicht. Wenn er es tut, begeht er – wissentlich oder unwissentlich, es kommt beides vor, – ein Verbrechen. Nicht nur an der einen Frau, sondern mehr noch an seinen Kindern.«

»Ich danke Ihnen, Herr Oberstabsarzt.«

Reimers wollte sich verabschieden, da hielt ihn Andreae an der Tür fest.

»Ich bitte Sie, lieber Reimers,« sagte er, »nehmen Sie Ihren Fall nun auch nicht gar zu tragisch! Ich versichere Ihnen, es gibt mehr als einen, dem es ebenso geht wie Ihnen und der sich trotzdem noch ganz leidlich durchs Leben schlägt. Überhaupt ist ja gerade bei den jüngeren Herren der Prozentsatz an derartigen Kranken ganz kolossal hoch, wenn es auch gottlob meist nicht so bitter ernst steht wie leider in Ihrem Falle, – ich sage Ihnen, für uns Mediziner eigentlich ein ganz erschreckend hoher Prozentsatz! Aber im Grunde hängt ja das Leben nicht an der einen Beziehung zu dem anderen Geschlechte. Die Leute, die sich gewissermaßen von einem rein menschlichen Glück ausgeschlossen betrachten müssen, sind zuweilen besonders vortreffliche Offiziere. Im Frieden gehen sie eben ganz in ihrem Beruf auf, ohne Nebenrücksichten, etwa wie sich das die katholische Kirche bei ihren Priestern durch das Zölibat hat einrichten wollen, und im Ernstfalle, denke ich mir, müssen sie etwas vom Fatalismus des Islam haben, der allein die Türken schließlich vor Wien getragen hat. Also darum ist Polen noch lange nicht verloren, lieber Reimers. Wo ich hinhöre, vernehme ich ein Loblied auf Ihre Tüchtigkeit und auf Ihre hervorragende Begabung als Offizier. Seien Sie deshalb tapfer und werfen Sie das andere einfach 584 als Ballast hinter sich! Einen Leitstern haben Sie ja in Ihrem Berufe. Nicht wahr?«

Reimers nickte.

»Sie haben Recht, Herr Oberstabsarzt,« versetzte er, »ich danke Ihnen.«

Er sah müde und gebrochen aus, als er durch die Tür schritt.

In einer unbedachten Stunde hatte er sich sein Einzelglück zerstört. Das mußte er büßen, und er wußte, er würde es verwinden können.

Aber es war ihm, als ob sich nicht das allein für ihn entschieden hätte. Es war ihm, als ob sich ein grauer Schleier über alles, was in ihm lebte, gesenkt hätte, auch über das, was ihn über ein karges Menschenschicksal hinaus erhaben gedünkt hatte.

Geschah es darum, daß ihm der Stern, den ihm der Arzt gewiesen hatte, im Verbleichen begriffen schien?

Grübelnd ging er den Waldpfad nach der Stadt zu entlang.

Unten auf einer Wiese hinter der Kaserne gab ein alter Sergeant den Hilfstrompetern Unterricht..

Die Kerls bliesen einen greulich mißtönenden Unsinn zusammen. Da setzte der Sergeant seine Trompete an die Lippen, und es klang klar durch die Luft herauf

das Signal, das im Manöver jede Bewegung aufhören macht, – »das Ganze – halt!«

 
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