Franz Adam Beyerlein
Jena oder Sedan?
Franz Adam Beyerlein

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VIII.

(»Wecken«.)

Walther Freiherr von Frielinghausen war am 1. Juli zum Gefreiten ernannt worden.

Damit hatte er die erste Staffel auf der Leiter der militärischen Ehren erklommen. Er fühlte keine rechte Befriedigung darüber. Seitdem er sich nur mehr selbst verantwortlich war, diente ihm einzig noch eine Art Anstandsgefühl Wegstetten gegenüber als Ansporn. Der Hauptmann hatte sich damals an ihn als an einen anständigen Menschen gewandt, – darin sollte er sich nicht getäuscht haben. 296

Im übrigen war es Frielinghausen herzlich gleichgültig, ob er die beiden Knöpfe am Kragen trug. Was nützte dieses Stückchen nach vorwärts auf der Bahn eines von vornherein verpfuschten Lebens?

Auf dem Truppenübungsplatz hatte er Gelegenheit gehabt, die Feuerwerker und Feuerwerksoffiziere, deren einer er künftig sein sollte, in ihrer Tätigkeit zu beobachten. Was er da gesehen hatte, war ihm durchaus nicht verlockend erschienen. Die Aufsicht über die Munition, die Sprengung von Blindgängern draußen an den Zielen, das Abnehmen der gesammelten Sprengstücke und außer der Zeit der Schießübungen irgend eine ähnliche untergeordnete Beschäftigung in den Pulver- und Geschoßfabriken, – das sollte sein Lebensberuf sein. Und ehe man dazu gelangte, galt es noch die Klippe eines schwierigen Examens zu umschiffen. Wahrhaftig ein Elend und eine Schinderei sondergleichen um ein nichts!

Daß er nach Wegstettens Bestimmung schon als Gefreiter Unteroffiziersdienste tun mußte, hatte dabei auch seine Schwierigkeiten. Als Kanonier war er immer der Meinung gewesen, alles besser zu wissen als diese ungebildeten Kerls, die Unteroffiziere, und er hatte sich zuweilen auf den Augenblick gefreut, in dem er würde kommandieren dürfen, dann wollte er schon seine Weisheit an den Mann bringen. Nun war das Befehlen plötzlich entschieden schwerer als das Gehorchen, und weniger Tadel gab es bei weitem nicht, eher mehr. Natürlich wurde man gewöhnlich vom Vorgesetzten beiseite genommen, wenn irgend etwas auszusetzen war, aber das machte die Sache nicht besser. Man wurde gescholten wie ein dummer Junge, und die Mannschaften merkten doch stets, daß es eine Rüge gesetzt hatte. 297

Über ein einziges hatte er sich bei seiner Ernennung frohen Erwartungen hingegeben: er sollte Reitunterricht erhalten. Aber auch diese eine Freude schlug in das Gegenteil um.

Heppner nahm ihn nach seiner Art scharf heran und erlaubte ihm keine Erleichterung. Frielinghausen mußte wie jeder Rekrut mit dem Reiten auf Decke beginnen. Nach langer Zeit begann dann das fast noch schwierigere Balancieren auf dem glatten Sattel ohne Bügel, und endlich gestattete ihm der Wachtmeister zuweilen, die Bügel herabzunehmen. Es gab Stunden, in denen er zwanzig und mehr Mal vom Gaule purzelte, und schließlich ging er nur mit Angst und Bangen zum Reitunterricht. Er war zu haltlos, als daß er diese Schwäche hätte besiegen und sich zusammenraffen können. Jedesmal, wenn das Pferd nach einem Sturze reiterlos sich davonmachte, freute er sich über die Minuten, die über dem Einfangen für die Reitstunde verloren gingen, und nie brachte er es fertig, die Hände auf die Hüften gestützt, durch den Sprunggarten zu gehen. Vor jedem Hindernis krallte er seine Finger in die Mähne.

Heppner wütete über diese Feigheit, aber er konnte schreien und toben, so viel er wollte, – stets wieder griffen die Hände Frielinghausens nach dem rettenden Halt.

Der Wachtmeister ließ am Ende den langen Menschen bei seiner Schlappheit. Er hatte den Eindruck, daß Wegstetten über den Gefreiten Gutes hören wollte, und Frielinghausen brauchte als Feuerwerker, wenn er Kartuschen nachwog und Zündschrauben prüfte, schließlich auch nicht gerade ein Reitkünstler zu sein.

Je weniger Frielinghausen auf dem Gaule leistete, 298 desto mehr rühmte er sich seiner Künste, sobald der Unterricht zu Ende gegangen war.

Er war zugleich mit seiner Ernennung zum Gefreiten von Stube IX weg nach der Unteroffiziersstube verlegt worden. Wegstetten hatte damit seinem Schützling eine kleine Vergünstigung zu gewähren vermeint, aber Frielinghausen fühlte sich in der neuen Umgebung nicht weniger unglücklich als in der Gemeinschaft der Rekruten.

Das mußte wahr sein: die Unteroffiziere betrachteten und behandelten ihn vom ersten Augenblick an als Kameraden. Keiner ließ ihn fühlen, daß er noch nicht die Tressen besaß. Der Gedankenkreis indessen, in dem sie sich bewegten, war kaum weiter als der der ehemaligen Stubengenossen. Um den Dienst, um Pferde und um Frauenzimmer drehten sich ihre Gespräche. Zumal schienen sie allesamt große Reiter vor dem Herrn zu sein. Wenn Heppner darüber gefragt worden wäre, hätte man meist das Gegenteil zu hören bekommen, aber das war das Münchhausengelüst aller Unteroffiziere der berittenen Truppengattungen: lieber wollte einer ein Dummkopf sein, als ein Pferd nicht reiten können.

Zu solchen Unterhaltungen gab wohl auch Frielinghausen sein Scherflein. Im übrigen war er sehr im Zweifel, was ihm lieber war: die verschlossene Ablehnung der gemeinen Soldaten aus Stube IX oder das gutgemeinte, grobvertrauliche Entgegenkommen der Unteroffiziere. Er neigte fast mehr zu Stube IX.

Das wurde anders, als die Unteroffiziersstube einen Zuwachs erhielt, einen Zwangsinsassen, – den Einjährig-Freiwilligen Trautvetter.

Hauptmann von Wegstetten hielt darauf, daß, wie seine ganze sechste Batterie, auch seine Einjährigen 299 vor den übrigen im Regiment sich auszeichneten. Wenn sie sich gut führten, konnte er reizend liebenswürdig sein, im anderen Falle hielt er um so weniger mit einer rücksichtslosen Strenge zurück, als es sich um junge Leute handelte, deren Bildung ein erhöhtes Maß von Anforderungen erlaubte.

Bei Trautvetter waren alle seine Bemühungen vergebens gewesen. Der Einjährige blieb ein Tunichtgut, ein Saufaus und Liederjahn, und ein dienstlich unbrauchbarer Dummkopf dazu. Im bürgerlichen Leben gab er sich für einen »Landwirt« aus. Und er hatte eine Unmasse Geld! Da er elternlos und mündig war, konnte er darüber nach Belieben verfügen.

Alle Erziehungsmittel, – Strafexerzieren, Rapporte, Urlaubsverweigerung, Arrest, – hatten bei ihm nicht angeschlagen. So war Wegstetten endlich zu dem Entschluß gekommen, ihn in der Kaserne wohnen zu lassen.

Der Einjährige, ein gedrungener Mensch mit einer außergewöhnlich breiten Brust, einem Stiernacken und einem großen, viereckigen Schädel, nahm die Strafe mit Gleichmut auf sich. Er räumte seine Habseligkeiten seelenruhig in den Schrank ein und blickte sich gleichgültig in der kahlen Stube um. Seine kleinen Augen schienen in einer immerwährenden Trunkenheit zu schwimmen, so daß ein herzlich gutmütiger Ausdruck, der ihnen trotz allem eigen war, fast nie zum Vorschein kam.

Es war ihm einerlei, wo er wohnen sollte. Zum Essen mußte er ja doch die Kaserne verlassen dürfen. Und gab es nicht auch in der Kantine Bier? Wenn man es sich ein Stück Geld kosten ließ, gab der Verwalter trotz des Verbots einen Kasten voll 300 Flaschenbier her. Die Unteroffiziere tranken natürlich mit, – dann hatte man sie schon halb und halb am Bändchen.

Er behielt recht: fast keiner widerstand den guten Zigarren, die er freigebig austeilte, und einer Einladung zum Bier. Selbst der Wachtmeister kam dann in die Unteroffiziersstube herauf. So etwas durfte man sich doch nicht entgehen lassen. Nur Vizewachtmeister Heimert blieb fern; er hatte noch für seine bevorstehende Hochzeit zu richten und zu schmücken. Und Sergeant Wiegandt promenierte lieber mit seinem Schätzchen Frieda die abendlich stille Landstraße talaufwärts, immer noch ein schüchterner Liebhaber, aber weit zuversichtlicher in seinen Zukunftshoffnungen, nachdem er einen Schutzmannsposten in einem Städtchen des flachen Landes zugesichert erhalten hatte. Ein Glücksfall ohnegleichen – ein Schutzmannsposten mit dreizehnhundert Mark Gehalt und hundertundzwanzig Mark Kleidergeld, die Dienstwohnung gar nicht zu rechnen, nach nur sechsjähriger Dienstzeit!

Ein besonders nahes Verhältnis bildete sich aber zwischen Frielinghausen und dem Einjährigen.

Trautvetter hatte ein paar Semester in Breslau landwirtschaftlichen »Studien« obgelegen. Er wäre gar zu gern Korpsstudent geworden, aber da er niemals ein Abiturientenexamen bestanden hatte, wurde er zu seinem größten Leidwesen von allen Korporationen zurückgewiesen. Da traf es sich gut, daß er in Frielinghausen einen Menschen entdeckte, der des Komments kundig war. Das führte die beiden zuerst zusammen, und dann sorgte die Gemeinsamkeit der verhältnismäßig höheren Bildung für den weiteren Zusammenhalt.

Frielinghausen hatte nun gute Tage. Der Einjährige zahlte für ihn und ließ ihn an seinen Gelagen 301 und Vergnügungen teilnehmen. Zuweilen, wenn er schlechter Laune war, behandelte er ihn allerdings wie einen Lakaien, aber im allgemeinen konnte er ein ganz verträglicher Kumpan sein.

Es gewann sogar den Anschein, als hätte Trautvetter für den entgleisten Freiherrn wirklich ein echtes Gefühl übrig, denn er untersagte ihm grob, jemals an dem Spiel sich zu beteiligen, das nun zu den Trinkbelustigungen als Würze hinzukam.

Der Einjährige hatte seinen Grund dazu. Mit einer geradezu rätselhaften Hartnäckigkeit blieb ihm das Glück treu. Seine kleinen, schwimmenden Augen schienen die Kartengeber zu hypnotisieren, und seine großen, breiten Hände schienen nur dazu da zu sein, zu gewinnen und Geld einzustreichen. Er machte sich nicht das geringste Gewissen daraus, dem Wachtmeister und dem Trompetersergeant Henke, die seine beständigen Partner waren, Geld abzunehmen, – warum spielten die Kerls mit? – aber Frielinghausen wollte er nichts abgewinnen.

Wenn den beiden Unteroffizieren das Geld ausgegangen war, borgte Trautvetter bereitwillig. Er ließ sich Schuldscheine dafür geben, die zuletzt auf sehr beträchtliche Summen lauteten.

Im allgemeinen rechnete er kaum damit, sein Geld je wiederzuerhalten. Dafür waren aber die papiernen Schuldscheine sehr wirksame Waffen, mit denen sich allerlei Vorteile erkämpfen ließen. Es dauerte nicht lange, so mußte der Wachtmeister ganz nach seiner Pfeife tanzen.

Der Einjährige war schlau genug, den Bogen nie zu überspannen. Wenn Heppner abgesetzt wurde, war ja auch seine eigene Herrlichkeit zu Ende. Aber innerhalb dessen, was man ohne Gefahr zu laufen 302 wagen durfte, bestand er fest darauf, daß ihm sein Willen getan wurde. Er stieg in den Nächten, in denen eine Revision nicht zu befürchten war, mitsamt dem Wachtmeister aus der Kaserne aus. Wenn der Posten gerade um die Ecke gebogen war, krochen sie aus dem Fenster und schlüpften in eine nahegelegene Wirtschaft, in der sich dann das Zechen und Spielen bis in den Morgen hinein erstreckte.

Heppner mußte sich zähneknirschend dem unbequemen Joche fügen. Er konnte gar nicht mehr anders. Bereits schuldete er Trautvetter fast tausend Mark. Woher sollte er diese Riesensumme jemals nehmen? Es blieb dabei, er hing vollkommen von der Gnade dieses Menschen ab.

Manchmal war er in Versuchung, den Einjährigen bei einem von den geheimen nächtlichen Ausflügen umzubringen. Es wäre ihm nicht auf einen Totschlag angekommen, um den lästigen Gläubiger los zu werden und seine Schuldscheine wieder zu bekommen, aber dieser Ausweg war ihm auch verschlossen. Zu viele wußten um sein Verhältnis zu Trautvetter. Es war lächerlich, an so etwas zu denken.

Und doch wurde ihm diese Abhängigkeit von Tag zu Tag drückender. Der Freiwillige gab in der letzten Zeit nur mehr widerwillig sein Geld her, daneben verursachte ihm der Kerl Scherereien über Scherereien.

Solange Trautvetter bei nüchternen Sinnen war, verlangte er wenigstens nichts Unmögliches in Erleichterungen und Vergünstigungen von ihm, aber wenn er getrunken hatte, war schlecht mit ihm auszukommen. Dann tobte er und verlangte unsinnige Dinge von Heppner, die für einen Wachtmeister ungefähr so unerreichbar waren wie der Mond am 303 Himmel. Er wollte plötzlich Unteroffizier werden oder ein paar Wochen Urlaub haben, Wünsche, deren Erfüllung ganz und gar ausgeschlossen war. Und wenn Heppner ihm das vorhielt, fuchtelte er ihm mit den Schuldscheinen vor der Nase herum und drohte, sie Wegstetten vorzulegen.

Der Wachtmeister fand keinen anderen Ausweg aus dieser Not, als daß er sich um so hartnäckiger auf das Glücksspiel versteifte. Daher allein konnte ihm Rettung kommen. Wenn er an einem solchen Abend die tausend Mark gewonnen haben würde, war er der ganzen abscheulichen Sache ledig, und er schwur sich, dann ganz gewiß keine Karte mehr anzurühren, und nebenbei – sobald er erst die Verschreibungen in Händen haben würde – dem Einjährigen auch einmal seinerseits zum Tanze aufzuspielen, – zu einem scharfen Tanze!

Natürlich brauchte er zum Spielen Geld. Er selbst hatte keines mehr, keiner borgte ihm, – so griff er am Ende die Batteriekasse an. Von Fall zu Fall ersetzte er dann den Schaden, aber mit jedem Male wurde der Fehlbetrag größer.

An einem Morgen im Anfang des August fragte Wegstetten: »Wachtmeister, haben die Einjährigen schon ihr Futtergeld bezahlt?«

»Zu Befehl, Herr Hauptmann.«

»So? Dann machen Sie Ihre Kasse mal nachher zur Revision fertig. Ich gehe nur eben hinüber aufs Regiment. Dann legen Sie mir die Bücher und das Geld vor.«

Heppner brachte sein »Zu Befehl« kaum heraus. In der Kasse fehlten über hundert Mark. Die Zeit drängte, Wegstetten konnte in einer halben Stunde wieder da sein. 304

Er lief zu Heimert. Heimert war ihm kein Freund, das wußte er, aber er war stets ein guter Kamerad gewesen. – Der Vizewachtmeister war mit dem Pionierkommando auf dem großen Exerzierplatz. Das war eine gute halbe Stunde entfernt.

Trautvetter! – Wo war Trautvetter?

Er mußte diesmal aushelfen. – In der Stube fand er ihn nicht, draußen, wo die Fahrer die Pferde am Bergabhang grasen ließen, sah er ihn auch nicht. Endlich entdeckte er ihn in der Kantine.

»Trautvetter, Sie müssen mir hundert Mark borgen!« keuchte der Wachtmeister.

»Müssen?« fragte der Einjährige höhnisch. »Müssen? – Daß ich nicht wüßte!«

»Doch, Sie müssen!«

Heppner hatte ihn aus der Kantine verdrängt und verhandelte nun mit ihm auf dem leeren Flur.

»Ja, ja! Sie müssen, Trautvetter!« wiederholte er.

Nun war auch dem Einjährigen das verstörte Gesicht des Wachtmeisters aufgefallen. Es mußte diesmal etwas ganz Besonderes vorliegen, das war klar, und deshalb war er bereit, zu helfen. Denn es lag ihm nichts daran, den Mann zu Grunde zu richten.

»Was ist denn los?« erkundigte er sich.

Heppner murmelte scheu: »Plötzliche Revision, – das Geld fehlt, natürlich hätte ich es ersetzt.«

Trautvetter verstand.

»Ja, dann freilich!« erwiderte er.

Er war im Begriff, die Geldtasche hervorzuziehen, da hielt er plötzlich inne.

»Ich habe gerade selbst kein Geld bei mir,« rief er erschrocken. »Muß es denn gleich sein? Heute Nachmittag können Sie haben, was Sie brauchen.« 305

»Nein, nein! Gleich! Wegstetten ist nur hinüber aufs Regiment.«

»Verdammt! Was machen wir da?«

Der Wachtmeister glaubte, der Freiwillige wolle ihm nur nicht leihen. Er wurde dringlicher und bat: »Trautvetter, ich bitte Sie um alles in der Welt! Sie wollen doch bloß nicht! Aber tun Sie's nur das einzige Mal noch! Ich bitte Sie! Ich bitte Sie!!«

Achselzuckend hielt ihm der Einjährige sein Portemonnaie hin. Es war nur einiges weniges Silbergeld darin, nicht einmal ein Goldstück.

»Sehen Sie doch selbst, Wachtmeister!« sagte er. »So ein Kerl bin ich doch nicht, daß ich Sie in der Tinte sitzen ließe.«

Aber Heppner glaubte ihm immer noch nicht. Er bat und drohte. Schließlich fiel der starke Mensch vor Trautvetter auf die Kniee und hob die flehend gefalteten Hände zu ihm empor.

»Nur das einzige Mal! Nur das einzige Mal!!«

Der Einjährige wehrte ihn rauh ab. Er empfand Ekel vor dem jammernden Riesen.

»Stehn Sie auf, Wachtmeister!« versetzte er. »Das hat ja alles keinen Zweck. Ich würde Ihnen das Geld geben, aber ich habe, weiß Gott, gerade keines bei mir. Lassen Sie uns lieber überlegen, wo wir welches herkriegen!«

Der Wachtmeister hatte sich wieder aufgerichtet und sah ihm gespannt ins Gesicht.

»Warten Sie hier!« sagte nach kurzem Überlegen Trautvetter. »Ich will sehen, daß ich Landmann die hundert Mark abpumpen kann.«

Landmann war der andere Einjährige der Batterie, ein sehr junger Student, ein bißchen unpraktisch aber sehr diensteifrig und der Liebling des 306 Hauptmanns. Er ging im Stalle auf und ab und beaufsichtigte das Hereinführen der Pferde von der Weide.

Trautvetter trat auf ihn zu. »Lieber Landmann,« bat er, »können Sie mir, bitte, Geld leihen? Ich habe mein Futtergeld noch nicht bezahlt, und Wegstetten hat darnach gefragt.«

»Gern,« antwortete der Gefragte. »Aber wieviel brauchen Sie denn? Sehen Sie, zwanzig Mark habe ich bei mir, mehr nicht.«

Trautvetter nahm das Goldstück und bedankte sich: »Danke schön. Vielleicht bekomme ich das übrige anderswo.«

Der Wachtmeister sah ihm mit Angst und Bangen ins Gesicht. Der Einjährige zuckte die Achseln und wies das Geld: »Er hatte nicht mehr.«

Mit einem Male deutete er auf die Kantine. »Der muß borgen!« flüsterte er.

Der Verwalter weigerte sich. Auch als ihm Trautvetter zehn, zwanzig Mark für das Ausborgen bot, blieb er hartnäckig.

Wütend schlug der Freiwillige auf den Tisch.

»Ochse!« rief er. »Tust du's für fünfzig?«

Da überlegte der Verwalter. Er war erst am Tage vorher revidiert worden. Es hatte also keine Gefahr für ihn, und fünfzig Mark –!

»Geben Sie mir einen Schuldschein!« verlangte er.

Und Trautvetter schrieb ihm den Schein über einhundertundfünfzig Mark. Daraufhin bekam er eine Hundertmarknote.

»Schlechtes Geschäft!« brummte er.

Der Verwalter kehrte sich verlegen ab.

Heppner nahm das Geld in Empfang, und als Wegstetten, vom Regimentsbureau kommend, wieder 307 in das Dienstzimmer trat, fand er den Wachtmeister beim Aufzählen der Kasse.

Es war sogar zu viel Geld darin.

»Das bekomme ich,« erklärte Heppner. »Der Einjährige Trautvetter hat das Futtergeld mit einem Hundertmarkschein bezahlt, und damals war noch nicht genug zum Herausgeben da. Ich habe das Fehlende zugelegt.«

Der Hauptmann nickte zufrieden. Zu viel Geld in der Kasse – das konnte man sich gefallen lassen. –

In dem Freiwilligen hatte der Vorgang mit dem Wachtmeister einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Seit dem Augenblick, in dem Heppner vor ihm auf den Knieen gelegen hatte, war eine Wandlung in ihm vorgegangen.

Ganz unsagbar widerwärtig war diese Szene gewesen. Ein grimmiger Ekel, auch vor sich selbst, hatte ihn dabei überwältigt. Halb unbewußt hatte ihm der Anblick des großen, stattlichen Mannes, der winselnd und heulend sich auf dem Boden wand, zur Erkenntnis gebracht, wie nahe er selbst einer solch Erniedrigung war.

Am nächsten Morgen übergab er dem Wachtmeister die Schuldscheine.

Heppner errötete. »Warum?« fragte er. »Ich kann sie vielleicht noch einmal bezahlen.«

Trautvetter antwortete ruhig: »Nein, lassen Sie nur! Ich habe das Geld ja nur gewonnen, und Spielschulden brauchen Sie auch vor Gericht nicht zu bezahlen. Ich hätte es Ihnen lieber gar nicht erst leihen sollen.«

Der Wachtmeister drückte ihm die Hand. Er erinnerte sich, daß er sich einmal mit dem Gedanken 308 getragen hatte, seinen Gläubiger umzubringen, – er konnte die Augen nicht zu dem Einjährigen aufschlagen.

»Ich danke Ihnen,« sagte er leise.

Mit einem Male nahm Trautvetter eine streng dienstliche Haltung an und versetzte: »Wenn ich Herrn Wachtmeister noch um etwas bitten dürfte, so möchte ich, daß Herr Wachtmeister möglichst nicht mehr spielten.«

Heppner blickte ihn erstaunt an. Diese unleidliche Abhängigkeit von dem Untergebenen, diese Bloßstellung vor der ganzen Batterie, sollte also zu Ende sein? Es wollte ihm gar nicht in den Sinn, daß einer so ein anständiger Kerl sein konnte. Aber man sah es dem Freiwilligen an, daß es sich diesmal nicht bloß um eine Laune oder um einen Spaß handelte.

Und er erwiderte bestimmt: »Ja, ich verspreche es Ihnen, Trautvetter, ich spiele nicht wieder.«

Es war ihm in diesem Augenblick ernst mit seinem Versprechen, und er hatte das Gefühl, als wäre das die rechte Stunde, auch anderweitig gute Vorsätze zu fassen und vielleicht ein neues, besseres Leben anzufangen.

Einige Tage später fragte Wegstetten: »Wachtmeister, wie führt sich der Einjährige Trautvetter außerdienstlich? Im Dienst bin ich seit ein paar Tagen recht zufrieden mit ihm.«

Heppner antwortete: »Er ist viel ernster geworden, Herr Hauptmann, und läßt sich nichts mehr zuschulden kommen.«

Der Batteriechef nickte zufrieden.

»Sehen Sie, Wachtmeister,« sagte er, »mein Mittelchen hat geholfen. Ich denke, wir heben den Kasernenzwang wieder auf. Teilen Sie ihm das mit!«

Die Insassen der Unteroffiziersstube weinten dem 309 Einjährigen keine Träne nach. Er war ihnen in der letzten Zeit zu langweilig geworden. Nur der Gefreite von Frielinghausen suchte ihn noch ein paar Mal auf.

Es war aber lange nicht mehr so lustig bei Trautvetter wie ehedem, es gab kein Kommersieren mehr bei ihm, und der ganze Mensch schien gräßlich solide geworden zu sein. Da stellte auch Frielinghausen mit der Zeit seine Besuche ein.

* * *

Der Freiwillige hatte auch dem anderen seiner beiden Hauptschuldner, dem Trompetersergeant Henke, die ausgestellten Schuldscheine zurückgegeben.

Der Pistonkünstler indessen fühlte sich dadurch keineswegs zur Dankbarkeit verpflichtet. Er hatte nie daran gedacht, diese Schulden zu begleichen, daher war es ihm auch einerlei, ob er die Zettel mit seiner Namensunterschrift zurückbekam oder nicht. Sie waren doch für den Einjährigen keinen Pfennig wert. Ein Winkeladvokat hatte ihm auf seine vorsorgliche Erkundigung die Auskunft gegeben, daß Spielschulden nicht klagbar wären.

Warum da also dankbar sein?

Lisbeth dagegen, seine hübsche blonde Frau, war ganz gerührt durch die Großmut Trautvetters. Sie konnte keine so feinen Unterschiede machen wie ihr Mann; Schulden blieben für sie Schulden, und diese weißen Papiere, auf denen sich Henke zu so ungeheuren Summen bekannte, hatten den Schlaf aus ihren Nächten vertrieben. Sie vergoß einige Tränen der Ergriffenheit, als sie die Schuldscheine im Küchenfeuer verbrannte.

»Gottchen! Ach Gottchen!« seufzte sie. »Was muß der Einjährige für ein guter, lieber Mensch sein! So viel Geld in einem wegzuschenken!« 310

Der Trompeter lachte sie aus.

»Dumme Gans!« schalt er. »Hab' ich dir nicht gesagt, daß er im Grunde gar nichts zu fordern hatte? Spielschulden waren's, und die kriegt er bei keinem Gericht zugesprochen!«

»Na,« versetzte Lisbeth. »Es war doch auch anderes bei. Deine neue Uniform hast du dir von dem geborgten Gelde machen lassen und die schönen Lackstiefel dazu, und das halbe Dutzend weiße Glacés hast du dir von gekauft.«

Das hörte der Gatte nicht gern. Er knurrte: »Halt's Maul!«

Aber die hübsche Frau beharrte: »Nein, nein. Es ist doch ein guter, lieber Mensch!«

»Ein versoffenes, fettes Schwein ist er!« fuhr Henke auf. »Kannst dir 'n ja mal ansehen.«

»Das kann passieren!« antwortete Lisbeth zu seiner Verblüffung. Und sie setzte dem erstaunt aufhorchenden Manne einen Plan auseinander, den sie sich ausgedacht hatte, um den Geldverhältnissen des Haushalts aufzuhelfen. Sie wollte für die Einjährigen die feine Wäsche waschen und plätten, und er, Henke, sollte deshalb mit den einzelnen reden.

Der Trompeter hatte nichts dawider einzuwenden. Im Gegenteil! Jeder Pfennig, den sie verdiente, war ihm hochwillkommen. Sie hätte nur schon früher auf diese Idee geraten sollen.

Von da an stand die junge Frau, die in ihrer Schlankheit immer noch wie ein Mädchen aussah, die Tage über vor dem Waschzuber und hinter dem Plättbrett. Sie hatte flott zu tun, denn die Wäsche, die sie lieferte, war nicht nur blütenweiß gewaschen und tadellos geplättet, – darauf achteten die Einjährigen leider gar nicht so sehr, – sondern es machte den jungen 311 Herren auch Freude, wenn die Ware von so einem bildhübschen Persönchen, wie es die blonde Trompetersfrau in ihrem glatten, knappen Kleide abgab, ins Haus gebracht wurde. Lisbeth Henke quittierte mit dem gleichen, artigen Lächeln über ihr wohlverdientes Geld und über die mehr oder minder anzüglichen Schmeicheleien. Wenn die jungen Leute zu keck wurden, hatte sie eine ganz allerliebste Art, sie abfallen zu lassen, so daß schließlich keiner sich wieder eine Dreistigkeit erlaubte.

Ein ganz eigenartiges Verhältnis bestand zwischen ihr und Trautvetter. Sie lernte den dicken Freiwilligen als einen gutmütigen Menschen kennen, der wenigstens jetzt gar keine von den schlimmen Eigenschaften mehr besaß, die ihr Mann ihm angedichtet hatte; früher mochte das ja allerdings anders gewesen sein. Er war sehr verlegen geworden, als sie ihm nochmals herzlich für die Rückgabe der Schuldscheine gedankt hatte, und da er einmal von dem Leichtsinn ihres Mannes wußte, kam es fast von selbst dahin, daß sie oft über Henke sprachen. Wie zwei gute Freunde sprachen sie über ihn. Die Frau hatte das Bedürfnis, sich über ihren Gatten einmal frei auszulassen, zumal demjenigen gegenüber, der bereits so hochherzig ihren Sorgen zu Hilfe gekommen war, und Trautvetter gab ihr Ratschläge, so gut sie ihm eben einfielen.

Die junge Frau gefiel ihm in ihrer fleißigen, fix zugreifenden Art. Früher hätte er wohl unbedenklich versucht, sie für sich zu gewinnen, jetzt empfand er eine unwillkürliche Achtung vor ihrer zuversichtlichen Tatkraft, und die Liebe, die sie zu ihrem Manne hegte, rührte ihn. Er konnte freilich den Trompeter nur für einen gehörigen Lumpen halten, aber trotzdem wollte er das tapfere Weib nicht im Stiche lassen. Er 312 wurde der beste Kunde ihrer Wäscherei und wechselte sogar doppelt so oft, als es seine Gewohnheit war, das Hemd, um ihr einen recht reichlichen Verdienst zu verschaffen. Daneben mochte er es auch sehr gern leiden, wenn ihn die Trompetersfrau mit ihren hübschen dunklen Augen dankbar ansah und ihm plaudernd gegenüber saß, das ein wenig schmale Gesicht von einem schönen blonden Flechtenkranz gekrönt, zart und schlank wie ein junges Mädchen, so recht geschaffen dazu, gestützt und geleitet zu werden.

Anstatt dessen war sie ein mißachtetes Arbeitstier für ihren Laffen von Mann! Er, Trautvetter, hätte sie schon hegen und pflegen wollen, wie sie es wert war.

Der Trompeter hatte bald herausbekommen, daß seine Frau über den Einjährigen eine gewisse Macht besaß. Sofort benutzte er seine Entdeckung, indem er ihn durch Lisbeth unter allerhand Vorwänden um kleine Darlehen ersuchen ließ. Die verlangten Summen wurden um so größer, je bereitwilliger Trautvetter das Geld hergab.

Lisbeth schämte sich der Lügen, die sie vorbringen mußte. Sie wollte den gutmütigen Menschen nicht betrügen und weigerte sich jedesmal, die Aufträge auszuführen, aber Henke brachte sie am Ende stets dazu. Wenn sie ihm dann das Geld gab, lachte er höhnisch. Es war doch prachtvoll, eine hübsche Frau zu haben, die einem das so leicht zutrug! Er brauchte nicht einmal eifersüchtig zu sein, – sie war ja hilflos in ihn verliebt.

Aber mit der Zeit gingen der Frau die Augen auf. Sie lernte ihren Gatten genauer betrachten und durchschaute ihn mit jedem neuen Tage klarer. Wie blind war sie gewesen! Nun, da sie sehend geworden war, verschwand ihre Neigung im Augenblick, und 313 es blieb nur ein dunkles Gefühl der Zugehörigkeit zu ihm in ihr übrig.

Das Unrecht, das sie, ihrer törichten Leidenschaft gehorchend, begangen hatte, wollte sie wenigstens dadurch wieder gut machen, daß sie dem Einjährigen die Wahrheit nicht länger verhehlte. Sie sagte ihm gar nichts von der erneuten Forderung ihres Mannes, sondern gestand aus freien Stücken, daß all das Geld, das er ihr angeblich für Wirtschaftsanschaffungen, Plättkohle und dergleichen gegeben hatte, für ihren Mann bestimmt gewesen sei. Der hatte sich eine vergoldete Uhrkette, einen Extrasäbel und gar silberne Sporen dafür gekauft.

Trautvetter sah auf ihren blonden Kopf hinab. Sie hielt das erglühende Gesicht gesenkt und mochte nicht aufschauen.

»Ich habe es mir gedacht,« sagte er.

Ohne den Blick emporzuheben, fragte sie: »Ja, aber warum taten Sie es dann?«

Der Freiwillige zögerte eine Weile, dann antwortete er leise: »Ich dachte, es geschähe Ihnen damit ein Gefallen und eine Freude, Frau Lisbeth.«

Die junge Frau sah ihn einen Augenblick voll an. Dann stand sie schnell auf, nahm ihren Wäschekorb und ging.

Henke hatte sie dieses Mal besonders sehnsüchtig erwartet. Er unterhielt gerade ein Liebesverhältnis mit einer Chansonettensängerin, die während des Augustviehmarktes im Saale des Schützenhauses den Bauern ihre uralten Couplets vorsetzte. »Gräfin Miramara« erfreute sich großen Beifalls, denn ihr Kostüm reichte oben und unten nur eben zu, die Blöße ihres angejahrten, üppigen Körpers zu bedecken, aber sie wies die Bauern zurück, so verlockend sie auch mit ihren 314 Talern, dem Erlös ihrer Rinder und Schweine, klimperten. Sie erkor sich den zierlichen, schwarzbärtigen Trompeter.

Nun wollte sich Henke als noblen Kavalier zeigen. Er gedachte der Gräfin ein Armband zu verehren.

»Gib das Geld her!« fuhr er Lisbeth an.

»Ich habe keins!« erwiderte sie. »Trautvetter gibt nichts mehr her.«

»Ach Unsinn! Mach' keine Umstände und rück' damit heraus!«

Die Frau blieb ganz ruhig und wiederholte achselzuckend: »Ich habe kein Geld.«

Henke kaute an seinem Bärtchen. Das war ein fataler Strich durch die Rechnung. Was würde die Gräfin sagen, wenn er sein Versprechen nicht hielt?

Harmlos fing er von neuem an: »Ach, er gibt schon. Du mußt nur ein bißchen nett zu ihm sein!«

Lisbeth stutzte. »Wie meinst du das?« fragte sie.

»Na, ihr Frauen könnt doch alles bei einem Manne durchsetzen, wenn ihr nur wollt! Also, nicht wahr? Sei nur recht nett zu ihm! Mir soll es egal sein.«

Mißmutig verließ er das Zimmer. Er sann nach, wie er sich bei der Gräfin Miramara herausreden könnte. – Sehr einfach: der Goldarbeiter hatte an dem Schmuckstück noch zu ändern. Das klang sehr glaubhaft.

Die blonde Frau blieb allein zurück. Sie schüttelte nachdenklich den Kopf. Was hatte er nur mit seinem »nett sein« gemeint?

Bei einer Besorgung in der Stadt traf sie den Einjährigen. Sie gingen eine Strecke zusammen. Lisbeth war durch ihr Geständnis frei geworden und plauderte munter darauf los.

Plötzlich fielen ihr die dunklen Andeutungen ihres 315 Mannes ein, und sie fing lächelnd an: »Wissen Sie, Herr Trautvetter, was mein Mann zu mir gesagt hat? – Ich sollte nur recht nett zu Ihnen sein. Bin ich denn nicht nett zu Ihnen?«

Trautvetter frug hastig zurück: »Wie hat er denn das gemeint?«

»Na,« schwatzte sie lustig, »ich hab' nämlich wieder Geld von Ihnen bringen sollen. Aber das tu' ich nun mal nicht mehr. Und da meinte er, ich sollte nur recht nett zu Ihnen sein, dann würden Sie mir schon Geld geben.«

Sie erschrak. So heftig stieß der dicke Mensch den Säbel auf den Boden, und ganz rot und zornig sah er dabei aus.

»Das sieht dem Schandkerl ähnlich!« rief er.

»Was? Wieso nur?«

Trautvetter konnte seine Empörung nicht in sich verschließen. Er stieß hervor: »Wissen Sie, Frau Lisbeth, was er gemeint hat? – Daß Sie meine Geliebte werden sollten!«

Abermals traf ihn ein voller Blick aus ihren Augen, dann senkte die Frau den Kopf und ging stumm neben ihm her.

»Ich will umkehren,« sagte sie plötzlich.

Er hielt ihr die Hand hin und bat: »Verzeihen Sie, Frau Lisbeth! Bitte!«

Sie nickte nur schweigend und wandte sich den eben gegangenen Weg zurück.

In ihrer kleinen Wohnstube fiel sie matt in den Stuhl, in dem sie beim Ausbessern der Wäschestücke zu sitzen pflegte. Die Fensterflügel waren weit geöffnet. Sie hörte den Bach plätschern und in der großen Erle die Insekten schwirren und summen. Ein Zug kam von oben herab. Wie er näher rollte, sah 316 sie mechanisch zum Fenster hinaus. Es fiel ihr zum ersten Male auf, daß die kleinen Lokomotiven bei der Talfahrt stets verkehrt angekoppelt waren. Der Lokomotivführer winkte herauf, aus den Wagenfenstern schauten Leute. Alles glitt wie hinter einem Schleier vorüber und war doch ganz deutlich zu sehen. Das Rollen der Räder wurde leiser und verlor sich allmählich.

Endlich raffte sie sich auf. Unablässig begann sie in der kleinen Stube auf und ab zu wandern. Sie mußte Gewißheit haben, ob der Einjährige mit seinem Verdacht recht hatte, und dazu bedurfte es einer List. Ihr Plan war bald gemacht. Es war ja so einfach: sie brauchte sich nur so zu stellen, als wollte sie der Andeutung ihres Mannes folgen, – dann mußte er sich erklären.

»Du,« fing sie am Abend an, »Trautvetter hat mir heute etwas Merkwürdiges angeboten. Sobald er mit Dienen fertig ist, will er ein Gut kaufen, weit weg von hier, und ich soll ihm die Wirtschaft führen. Wenn du einwilligst, sollst du dann monatlich hundert Mark bekommen.«

Henke schwieg eine Zeit lang. Er war im Zweifel, was er dazu sagen sollte. Lisbeth selbst war so seltsam starr, fast unheimlich starr, andrerseits schien sie aber auch gerade nicht entrüstet zu sein. Und dieses Anerbieten –, glücklicher konnte er es ja gar nicht treffen.

Mit einem wehleidigen Ton in der Stimme erwiderte er: »Ja, Lisbeth, wenn du mich nicht mehr lieb hast, wenn du das für dein Glück hältst und mich darum verlassen willst –«

Er kam nicht weiter.

Leichenblaß im Gesicht stand ihm die Frau mit einem Male gegenüber. Sie schüttelte die bebenden 317 Hände wider ihn und spie verächtlich vor ihm auf die Diele. Dann war sie aus der Stube verschwunden.

Er sah ihr verblüfft nach.

»Also eingegangen!« murmelte er vor sich hin. Nun, gar zu tragisch nahm er die Geschichte nicht. Entweder benahm sich Lisbeth wieder vernünftig, oder – er war sie eben los.

Oder ein drittes!

Gräfin Miramara hatte ihm versichert, daß er ein ungeheueres Geld verdienen würde, sobald er als Pistonvirtuos auf dem Brettl aufträte. Morgen reiste sie nach Böhmen ab. Wenn er sich ihr anschlösse? Auf das Desertieren kam es ihm nicht an: er hatte seine vollzähligen Papiere zur Hand, und Desertion war kein Verbrechen, wegen dessen man ausgeliefert wurde. Und Österreich war groß – und lustig, wie die Gräfin versicherte! Ungarn zumal!

Wahrhaftig, das war das beste!

Am nächsten Tage war Henke jenseits der Grenze. Er hatte vorher alles, was nur irgend verwertbar war, zu Geld gemacht, nur seine Trompete hatte er mitgenommen. Statt des Artilleristenrockes trug er nun eine reichverschnürte Phantasieuniform, die alle Vorzüge seines Wuchses ins hellste Licht setzte, und Abend für Abend blies er seine Bravourstückchen.

Und er wurde ein Liebling der Damen. –

Frau Lisbeth aber beantragte die Scheidung ihrer Ehe wegen böswilliger Verlassung. Sie mußte ohne weiteres obsiegen.

Zuerst wollte sie sich einen kleinen Laden in der Stadt einrichten, um darin ein Wasch- und Plättgeschäft zu betreiben, aber der Einjährige Trautvetter bat sie, lieber einige Zeit als Wirtschafterin auf ein Gut in Dienst zu gehen. 318

»Warum?« fragte sie.

Er hatte Mühe mit der Antwort. Endlich brachte er heraus: »Ich habe Sie nämlich sehr lieb, Frau Lisbeth. Und wenn Sie dann erst geschieden sein werden, dann wollte ich Sie fragen, ob Sie mich nehmen wollten.«

Lisbeth lächelte ein wenig und meinte: »Das können Sie doch gleich jetzt fragen!«

»Nun?«

»Ja.«

Das klang sehr herzlich und ehrlich. Trautvetter drückte ihr die Hand und sagte: »Das ist gut!«

Und sie fügte ganz freimütig und munter hinzu: »Übrigens wäre ich am Ende auch Ihre Geliebte geworden.«

»Ach nein,« versetzte Trautwetter, »in gewissen Fällen ist mir eine Frau lieber.«

* * *

Trotz der Wärme der Augustsonne wurde es mit Julie Heppner von Tag zu Tag schlechter.

Der Oberstabsarzt zuckte die Achseln und sprach: »Es hilft nichts mehr, Wachtmeister, – Sie müssen sich auf das Schlimmste gefaßt machen.«

Heppner erwiderte mit scheinheiliger Miene: »Es ist ja nur eine Erlösung für sie. Sie leidet ja zu sehr.«

Es war wahr, Julie Heppner litt unsägliche körperliche Qualen, Beklemmungen, die sie dem Tode nahe brachten, und Hustenanfälle, die ihr die Brust zerrissen, – aber alles das wog federleicht im Vergleich zu der Last der seelischen Leiden, unter der sie fast zusammenbrach.

Sie belauerte den Gatten und die Schwester mit niemals müden Blicken. Mit Grauen sah sie, wie 319 Ida immer mehr die Scheu vor ihr außer acht ließ und sich ihrer Leidenschaft immer rückhaltloser hingab. Und dem Manne blieb das nicht verborgen. Er beobachtete mit höhnischer Befriedigung, wie sich der Widerstand des jungen Mädchens verringerte. Bald mußte ihm die ersehnte Frucht halb von selbst in den Schoß fallen.

Schon verbargen sich unter den Neckereien, die der Wachtmeister auch in Gegenwart der Kranken mit der Schwägerin trieb, heiße, suchende und tastende Berührungen, heimliche Umarmungen, die dem Mädchen das Blut ins Gesicht trieben und es erschauern machten. Und die unglückliche Frau war verurteilt, zuzuschauen, wie die Hände des Gatten die Schwester wie scherzend umfangen hielten und wie das Mädchen schlaff und bebend sich ihm überließ. Es wehrte sich nicht einmal im Scherz mehr gegen diese Angriffe des Schwagers.

»Ihr Schweine! O ihr Schweine!!« keuchte die Kranke.

Ida reckte sich auf und versetzte: »Was willst du nur? Du? Ja? Darf sich Otto nicht einmal mehr einen Spaß erlauben? Das geht doch bloß mich an? Ja?«

Sie bäumte sich in dem harten, rücksichtslosen Egoismus der Verliebtheit gegen Juliens Vorwürfe auf. Wie? Wollte dieses elende Restchen Leben noch Ansprüche erheben auf den Mann, der sie, die junge, frische, liebte und den sie wieder liebte?

Trotzig reckte sie ihre prachtvolle, blühende Gestalt in die Höhe. O ja, sie hatte auch ein Recht zu lieben, und sie bestand darauf.

Die Kranke sank zurück und knirschte wieder 320 zwischen den Zähnen: »Ihr Schweine! O ihr Schweine!!«

Warum schalt sie eigentlich noch? Hatte sie es nicht kommen sehen? –

Sie lachte bitter vor sich hin. War es nicht das beste, sich drein zu schicken, die Augen zu schließen und auf den Erlöser Tod zu warten?

Aber nein. Diese Schamlosigkeit, diese Roheit, die ihr die beiden gleichsam ins Gesicht schleuderten, vermochte sie nicht zu ertragen. Sie zersann sich den Kopf, wie sie sich an ihnen rächen könnte, – stets und stets vergebens. Das war ja das Schreckliche, daß sie noch lebend eine Tote war, so kraft- und machtlos, so hilflos wie eine Tote!

Dann geschah das Letzte, das Schändlichste.

Sie sah die Schmach kommen und ahnte, daß sie bevorstand, als Heppner und Ida vor ihr standen und ihr Adieu sagten, er in seiner Extrauniform, die Centenarmedaille und die Verdienstschnalle auf der linken Brust, die Schwester im hellen Kattunkleid, Nacken und Arme bloß, den Sonnenschirm und das hellbraune Jacket in der Hand. Beim Hinausgehen faßte er die Schwägerin um den vollen Arm, seine Blicke hafteten gierig an ihrer weißen Haut, und er preßte noch zwischen Tür und Angel einen wilden Kuß auf ihren Nacken.

Da wußte die Kranke plötzlich, daß noch vor Abend ihr Elend den Gipfel erreicht haben würde. Sie schloß die Augen, und hinter den geschlossenen Lidern jagten sich folternde, schreckliche Gedanken, die ihr die rasendste Eifersucht eingab, und Bilder, von einer wütenden Gier nach Rache vorgemalt, die ihr ein wollüstiges Grausen einflößten. –

Der Wachtmeister und seine Schwägerin waren 321 an diesem Tage zu einer Feier geladen, die der Militärverein »Kampfgenossen 1870/71« zum Gedächtnis der Schlacht von St. Privat veranstaltete.

Konzert, Festaufführung und Tanz lautete das Programm.

Das Trompeterkorps des Regiments spielte im Garten des Schützenhauses sein patriotisches Repertoire, zuletzt natürlich das Schlachtenpotpourri von Saro. Und die Kampfgenossen saßen mit Kind und Kegel an den Tischen, tranken sehr viel Bier und erzählten ziemlich blutrünstige Kriegserlebnisse, auch wenn sie den ganzen Feldzug etwa bei einer Feldbäckereikolonne »mitgefochten« und niemals einen bewaffneten Feind zu Gesicht bekommen hatten.

Gegen Abend rief eine Trompetenfanfare zum Festspiel in den Saal.

Schon unter den Linden des Gartens hatte die Hundstagssonne den Gästen warm gemacht. Im Gedränge des überfüllten Saales entwickelte sich nun eine unerträgliche Glut.

Die Stuhlreihen waren viel zu eng gestellt, damit die Menge der Teilnehmer überhaupt Platz fände. Wer sich dann einmal niedergelassen hatte, konnte unmöglich wieder von seinem Sitze fort, er blieb zwischen seinen Nachbarn eingekeilt.

Kurz bevor der Vorhang aufgezogen wurde, hatten Heppner und Ida zwei leere Stühle entdeckt. Der Wachtmeister setzte sich zuerst. Der geringe Raum, der darnach noch von dem Nachbarstuhl übrig blieb, war viel zu schmal für die kräftigen Hüften des Mädchens.

So kam es, daß ihm die Schwägerin halb auf dem Schoße saß. Er spürte durch ihren dünnen Kattunrock hindurch die Wärme ihres Blutes und ihre 322 festen Formen. In dem verdunkelten Saale waren sie eng aneinander gepreßt. Der helle Schweiß perlte ihnen auf der Stirn und sie atmeten mühsam und keuchend. Aber wie auf eine Verabredung rührten sie kein Glied. Sie horchten nur den Stimmen ihres Blutes, dessen Pulse sie in der engen Berührung deutlich schlagen fühlten.

Keines von den beiden vernahm ein Wort des Festspiels, das auf der Bühne vorgeführt wurde. Sie starrten beide geradeaus, ohne sich bewußt zu werden, was ihre Augen sahen. Ob dieses regungslose Aneinandergeschmiegtsein Sekunden währte oder Stunden, – sie wußten es nicht.

Endlich zeigte der allgemeine Gesang der Königshymne das Ende des Spiels an. Die Zuschauer atmeten auf und schoben sich geduldig und schwerfällig durch die engen Türen aus dem Saale in den abendlichen Garten, indem sie mit den Tüchern die heißen Gesichter trockneten und sich Luft zufächelten.

Otto Heppner und Ida verharrten auch dann noch regungslos. Endlich stand das junge Mädchen matt auf und ging mit unsicheren Schritten, an den Stuhlreihen anstoßend, der Tür zu. Der Wachtmeister folgte ihr. Die Glieder waren ihm schwer und wie eingerostet.

Im Garten war das Gas angezündet worden. Die offen brennenden Stichflammen gaben ein zitterndes Licht.

Ida sah bleich aus und stützte sich erschöpft auf einen Stuhl.

»Ich möchte am liebsten gehen,« sagte sie.

Er stimmte bei: »Warum nicht?« und bot ihr das Jäckchen zum Überziehen.

Aber das Mädchen nahm es ihm aus der Hand 323 und hing es über den Arm. Eine fliegende Glut strömte ihr durch den Körper und erzeugte ein leises Prickeln und Kitzeln auf der Haut. Nackend hätte sie gehen mögen.

Stumm nebeneinander herschreitend verließen sie den Restaurationsgarten.

Das Schützenhaus lag auf der halben Höhe des Berges. Zwei Wege führten von ihm aus zur Kaserne: die Landstraße unten im Tale und ein Fußweg, der am Abhang hin nach dem Wäldchen hinter der Kaserne und talaufwärts noch weiter sich hinzog.

Heppner schlug den Fußpfad ein.

Der Abend hatte keine Kühlung gebracht. Das Laub hing regungslos an den Zweigen. Die Dämmerung begann der Nacht zu weichen.

Das Mädchen fühlte die laue Luft wie ein mildes Bad auf der bloßen Haut des Nackens und der Arme.

Am Rande des Wäldchens drehte sich das Paar noch einmal um. Die Lichter des Gartens blinkten durch die Dunkelheit. Man vernahm kaum mehr den Lärm des Festes, nur eine Trompete und das Rumpeln des Kontrabasses, der den Tanztakt markierte, schallte deutlich herüber.

Im Schatten der Bäume legte Heppner den Arm um die Schultern der Schwägerin. Sie fuhr leicht zusammen und schüttelte sich wie unter einem Froste. Eng aneinander geschmiegt gingen sie langsam weiter, immer noch schweigend.

Auf dem Ausblick oberhalb der Kaserne machten sie Halt und schauten in das Tal hinab. Wenige trübe Lichter aus den Ställen und Mannschaftsstuben erhellten die dunklen Mauern. In dem weiten Gebäudeviereck schien jedes Leben erstorben zu sein. 324

Sie wandten sich und wanderten weiter. Die heiße Hand des Mannes lastete schwer auf der Schulter des Weibes, die Kehle war ihm zugeschnürt, die Arme gelähmt, er konnte nicht einmal das Gesicht drehen und ihr ins Antlitz sehen.

Das Wäldchen hörte auf. Wiesen erstreckten sich zu beiden Seiten des Wegs; rings lagerte das Dunkel der Nacht.

Im Tale rollte ein Zug abwärts. Eine Funkenwolke stiebte aus dem Schornstein der Lokomotive; die Fenster der erleuchteten Wagen warfen helle Vierecke auf die schwarze Erde, die rastlos neben dem Zuge hinglitten und mit ihm in der nächtlichen Ferne versanken. Darnach war nirgends mehr ein Lichtschein zu sehen, der eines Menschen Spur verriet.

Plötzlich blieb das Mädchen stehen. Mit einem Ruck löste sie sich aus dem Arm des Mannes. Es stieß einen halblauten Schrei aus, der wie die Wehklage eines nach hartem Kampfe Besiegten klang, und warf sich ihm mit einer wilden Gebärde an die Brust. – – –

Nach einer Nacht voll schrecklicher Phantasien und Träume war Julie Heppner ruhiger geworden. Sie sträubte sich dagegen, daß ihre schlimme Ahnung Wahrheit geworden sein könnte. So abscheulich, so grausam konnten die beiden nicht sein, ihr, der Sterbenden, dieses letzte Leid zuzufügen.

Aber die Ahnung wurde ihr zur Gewißheit, als sie das veränderte Betragen des Gatten und der Schwester bemerkte.

Das Unruhige und Suchende war aus dem Verkehr der beiden verschwunden. Sie gaben sich freier, ein offenes Einverständnis waltete zwischen ihnen, und 325 ihre Blicke wünschten und ersehnten nichts mehr, sondern erzählten sich von einem genossenen Glück.

Von nun an trug sich die Kranke unablässig mit Racheplänen, und ihre Gedanken verdichteten sich allmählich zu dem wilden Entschlusse, das ehebrecherische Paar zu töten.

Sie fühlte, sie mußte sich dazu halten. Ihre Zeit war abgelaufen. Sie konnte bereits nur mehr wenige wankende Schritte tun, und bald würde ihr die Schwäche des verfallenden Körpers nicht mehr gestatten, das Lager zu verlassen.

Zuvörderst ließ sie Ida nicht von ihrer Seite. Auf diese Art konnte sich wenigstens die Schmach nicht draußen in irgend einem Winkel wiederholen.

Unter den Wimpern hervor belauerte sie jede Bewegung, jedes Mienenspiel des Mädchens. O, wie sie die Schwester haßte!! Dieses gesunde, blühende Geschöpf mit dem herrlichen Wuchs, den vollen weißen Armen und der prachtvollen Brust! Wie sie sie haßte! Ihre Frische, ihre Jugend, ihre Schönheit, ihr weiches, blühendes Fleisch, mit dem sie den Mann verführt hatte! Das er liebkost hatte!

Und wie das buhlerische Frauenzimmer siegessicher dasaß! Wie gleichmäßig die volle Brust unter der leichten Bluse atmete, wie sie es sich bequem machte, ein Bein über das andere schlug, daß auch da ihre Schönheit sichtbar würde! Wie verträumt sie vor sich hinblickte, ein wenig lächelnd! An eine verruchte Umarmung zurückdenkend!

Und sie ahnte nicht, daß sie der Rache verfallen war! Daß sie dem Tode nahe war! Näher als die Sterbende selbst! –

Aber der Sand rann unaufhaltsam im Stundenglase des verlöschenden Lebens. 326

Beständige Hustenanfälle von fürchterlicher Gewalt verscheuchten jeglichen Schlaf aus den Nächten der Kranken. Da verschrieb ihr der Stabsarzt Morphium. Er verordnete sogleich eine ziemlich starke Dosis. Das arme Weib war nahe am Verscheiden; warum sollte man ihr nicht die letzten Tage erleichtern, die letzten Qualen lindern? Für alle Fälle machte er den Wachtmeister auf die Gefährlichkeit der Medizin aufmerksam; er wies ihn an, den Trank nur genau nach Vorschrift zu verabreichen.

Heppner fragte: »Wird sie auch wirklich danach schlafen, Herr Oberstabsarzt?«

»Gewiß,« antwortete der Arzt, »tief und fest. Im Anfang der Nacht würden Sie sie gar nicht wach bekommen, wenn Sie auch wollten. Und sehen Sie, vielleicht erhalten wir sie dann auch durch die besseren Nächte noch einige Zeit am Leben. Aber – Sie müssen immer auf alles gefaßt sein, Wachtmeister! Man kann das nicht vorhersagen. Es kann plötzlich kommen, es kann aber auch noch Wochen, ja noch bis in den Winter hinein dauern. Ihre Frau scheint eine zähe Natur zu sein.«

In der Tat bewirkte der Trank, daß die Kranke allnächtlich in einen tiefen Schlaf fiel.

Julie konnte den Stabsarzt gar nicht genug loben, daß er ihr eine so ausgezeichnete Medizin verschrieben hatte. Diese Ruhe war eine wundervolle Erquickung. Man schluckte einen Löffel voll und schmeckte nicht einmal sehr das Bittere in dem süßen Himbeersyrup. Dann senkte es sich nach einiger Zeit wie ein leiser Nebel auf die Augen, man fiel sanft wie in ein weiches, weiches Bett zurück, träumte noch ein wenig vor sich hin, hörte auch noch eine Weile, was in dem Zimmer geschah, dann kam der herrliche, feste, prächtige Schlaf. 327

Nach dem Erwachen lag es einem zwar ein wenig schwer in den Gliedern, aber gleichwohl spürte man die kräftigende Wirkung der langen, ungestörten Nachtruhe.

Zuweilen glaubte die Kranke sogar wieder Hoffnung schöpfen zu dürfen. Wenn sie sich besonders wohl fühlte, gewann sie einen Teil des Willens zum Leben zurück. Das würde ja die herrlichste Rache sein, wenn sie den beiden zum Trotz noch leben blieb, jahrelang vielleicht!

Dann packte sie wieder die Gewalt der Krankheit. Sie verzweifelte von neuem und dachte nur noch über ihre Rache nach.

Eines Morgens lag sie vor sich hinbrütend auf ihrem Lager. Sie versuchte, die Vorgänge der Nacht sich ins Gedächtnis zurückzurufen. Es war etwas geschehen, etwas Besonderes, das sie unklar durch den Schleier der Betäubung geschaut hatte. Sie war trotz der Schläfrigkeit darüber erschrocken, entsetzt gewesen, nachher war ihr der Vorfall gänzlich entschwunden. Nun jagte sie der schwachen Spur angestrengt mit ihren Sinnen nach.

Es war kurz vor dem Einschlafen gewesen, in der leichten Verwirrung der Empfindungen, die vor der letzten Wirkung des Morphiums einzutreten pflegte, da hatte sie ein leiser Husten aus dem Hindämmern wieder ein Stück rückwärts nach dem Wachsein hingeführt. In diesem Zustand hatte sie gemerkt, daß Otto, ihr Mann, sich leise im Bett erhob. Sitzend hatte er eine Zeitlang gelauscht, dann war er behutsam zu ihr hingeschlichen und hatte lange vor ihrem Bett gestanden.

Nun besann sie sich: sie hatte in der fürchterlichen Angst geschwebt, daß er ihr ein Leids antun möchte, 328 daß er mit seinen großen, starken Händen ihren schwachen Hals umklammern und sie erwürgen möchte. Sie war ja zu schwach, um sich zu wehren, ja, sie hatte gewußt, daß sie nicht einmal würde schreien können. Aber nichts dergleichen war geschehen. Er war nur immer bewegungslos vor ihr gestanden und hatte ihr ins Gesicht geblickt. Das hatte sie durch die in der Müdigkeit zugefallenen Lider hindurch gefühlt.

Schließlich war sie allmählich in Schlaf gesunken, und nur ganz zuletzt meinte sie noch gespürt zu haben, daß ihr Mann sich von ihrem Bett weg wandte.

Aber eben darnach war noch etwas geschehen, – das, was ihr die halbschlafenden Gedanken mit einem jähen Ruck emporriß, das, was ihr das wohltätige Dunkel des Schlummers so grell wie ein Blitz erhellt hatte.

Sie preßte die Hände an die Stirn, als ob ihr kein Gedanke entschlüpfen sollte. Sie schloß die Augen und zwang sich, noch einmal die Empfindungen der Nacht zu durchleben.

Da fand sie es. Und die Erkenntnis traf sie wie ein pfeifender Peitschenhieb, daß sie auf ihrem Lager zusammenzuckte, die Hände in die Decke krallte und in ihr Tuch biß, um nicht schreien zu müssen vor Grimm und Haß.

Von ihr weg hatte sich der Mann nach der Stubentür zu gewandt! Nach der Tür, hinter der die Schwester schlief!

Ei wohl! Jeden Abend schloß die keusche Ida die Tür zu, so daß der Riegel laut genug ins Schloß schnappte, aber wenn sie den Schlüssel wieder umdrehte, dann geschah es sicherlich leise und ganz unhörbar. Darum also hatte sie vor kurzem die Schlösser 329 geölt! Sie hatte gesagt, sie knarrten und quietschten, – o, der Grund war ein ganz anderer gewesen!

Und ihren Schlaf, für den sie, die gequälte Kranke, so namenlos dankbar war, nutzte das schamlose Paar! Auch diese Erquickung, auch dieses elende Restchen Glück vergällten sie ihr!

Denn niemals würde sie diese wunderbare, erleichternde Medizin wieder an die Lippen führen, damit jene dann ihre Abscheulichkeiten treiben könnten! Niemals! Und wenn es das Leben gelten sollte! Es war ja ohnehin nichts daran zu halten, an diesem jammervollen, freudlosen Leben.

Oder nein! Sie wollte heucheln, scheinbar den Trank einnehmen und sich dann schlafend stellen, um hernach ihre Rache an den beiden Ehebrechern zu nehmen.

Wie – das wußte sie vorderhand nicht. Aber bald mußte es geschehen. In zwei Tagen rückte das Regiment zu den Herbstübungen aus. Bis dahin mußte die Strafe vollzogen sein, – sie fühlte, länger reichten ihre Kräfte nicht aus.

So blieb ihr eine Nacht, um sich Gewißheit zu verschaffen, ob das Schreckliche Wahrheit war, und, wenn ihre Vermutung sich bestätigte, noch eine Nacht, eine große, letzte, herrliche Nacht, – die Nacht der Rache. –

Am Abend hatte sie ihr Tuch zur Hand, um die Medizin heimlich hineinzugießen.

Der Wachtmeister tat ihr selbst den roten Saft in den Löffel. Er sah behaglich zu, wie die dickliche Flüssigkeit einer Schlange gleich aus dem engen Flaschenhalse hervorkroch, auf dem Metall des Löffels fast wie eine Kugel zusammengeballt blieb und erst allmählich sich ausbreitete. Er maß sorgfältig die 330 Menge ab, genau nach der Vorschrift das Arztes, »einen Eßlöffel, nicht gar zu voll«. Im Anfang war ihm einmal der Gedanke gekommen, daß ihn eine doppelte Dosis ganz von dem Weibe befreien könnte, das nur noch ihm zur Last sein elendes Leben schleppte. Wozu? – hatte er dann überlegt. Das Ende kam wohl auch ohne sein Zutun in allerkürzester Frist.

O nein, ein Mörder wollte er nicht sein.

Er goß, und als ihn der Löffel zu voll dünkte, schüttete er eine Kleinigkeit des Saftes wieder in die Flasche zurück.

»Auf daß nichts umkomme!« sagte er lächelnd zu der Schwägerin.

Und er verkorkte die Flasche fest. Er dachte, – damit nichts von dem schlafbringenden Geiste der Medizin verdunstete.

Die Kranke beobachtete ihn mit lauernden Blicken. Sein zufriedenes Lächeln schien ihr bereits die erste Bestätigung ihres Verdachtes zu enthalten. Das war die Freude über die bevorstehende Liebesnacht, die ihm die Wirkung des Tranks versprach, und als er sich zu Ida gewandt hatte, war ein Blick des Einverständnisses zwischen den beiden getauscht worden, und die Schwester hatte dem Manne verheißungsvoll zugenickt.

Behutsam trug der Wachtmeister den gefüllten Löffel zu der Kranken hin. Sie griff danach. Aber als sie ihm dabei ins Gesicht sah, in die sicheren, frechen Augen, die sie, die Betrogene, beinahe verächtlich streiften, da begann ihre Hand zu zittern, und sie führte die Medizin hastig an den Mund. Ihr Vorhaben war ihr in diesem Augenblick der Hast ganz aus dem Gedächtnis entschwunden. Sie hatte bereits den größten Teil des Saftes hinuntergeschlürft, als sie an ihren Plan dachte. 331

Sie hielt jäh inne mit Schlucken und wischte sich den kleinen Rest der Flüssigkeit mit ihrem Tuch von den Lippen. Vielleicht war die geringere Menge nicht stark genug, sie in Schlaf zu versenken.

Die Schwester führte sie in die Schlafkammer. Der Wachtmeister wollte erst noch einmal die Ställe und Stuben revidieren.

Die Kranke lag regungslos in ihrem Bett und wartete. Im Liegen überkam sie die gewohnte Müdigkeit, die ihr früher so erquickend genaht war, die sie ehedem so freudig willkommen geheißen hatte, aber sie fühlte, so stark, so überwältigend wie sonst legte sich diesmal die sanfte Lähmung nicht auf ihre Glieder und auf ihr Denken. Der Körper ruhte und schien ihr erstarrt zu sein in dieser Ruhe, aber ihre Sinne vermochte sie wach zu erhalten.

Nebenan in der Stube hörte sie Ida hantieren, aufstehen, gehen und wieder niedersitzen. Eine Schere fiel zu Boden, – mit einem halblauten Schimpfwort bückte sich die Schwester danach und hob sie auf.

Dann blies der Trompeter draußen den Zapfenstreich. Durch das geschlossene Fenster hindurch hörte sie ihren Mann mit dem Wachtmeister der fünften Batterie sprechen, der ihn noch zu einem Glase Bier im Unteroffizierskasino überreden wollte. Heppner lehnte erst ab, schließlich tat er doch mit.

Mit einem Male fiel ihr ein, wie wenig ihr Gatte in den letzten Tagen ausgegangen war. Das war nicht seine Art, zu Hause zu hocken. Da mußte es etwas geben, was ihn festhielt, und sie wußte ja nun am besten, was ihn fesselte. Das war ein neues Glied in der Kette der Beweise, alles, alles stimmte überein! Die Schande war also wahr! 332

Aber sie kämpfte trotzdem weiter gegen die Müdigkeit an, die ihr die Lider herabzog und ihr die Ohren zu verschließen drohte.

Die Schwester bereitete sich nebenan zum Niederlegen. Julie hörte sie das Nähzeug zusammenkramen, dann rauschte draußen in der Küche die Wasserleitung; Ida kehrte in die Stube zurück und schloß die Tür nach dem Flur zu.

Eine Zeitlang blieb alles still.

Nun näherten sich leise Schritte, wie auf nackten Sohlen, der Kammertür. Die Klinke wurde sachte niedergedrückt und die Tür halb geöffnet. Die Schwester horchte, ob die Kranke schliefe.

Julie hielt den Atem an. Es dünkte sie eine Ewigkeit, bis die Tür wieder geschlossen wurde.

Dann drehte sich laut und vernehmlich der Schlüssel im Schloß, rücksichtslos laut, in schreiendem Gegensatz zu der vorhergehenden, leisen Behutsamkeit. Es klang wie eine höhnische Herausforderung: »Hör' nur, soviel zarte Umstände machen wir noch mit dir! Betrogen wirst du freilich doch!«

Die Schritte der nackten Füße entfernten sich nicht von der Tür.

Nicht das geringste Geräusch war vernehmbar, aber die Kranke fühlte, daß jetzt der Schlüssel das wohlgeölte Schloß wieder rückwärts bewegte, und plötzlich vernahm sie auch einen fast unhörbaren Ruck, das Schnappen einer Feder, – der Riegel war in seine erste Lage zurückgeglitten. Die Bahn zu der Schande war wieder frei.

Die unglückliche Frau hatte niemals etwas anderes erwartet, als daß sich ihr Verdacht bestätigen müßte. Jedoch in einem armen, letzten Winkelchen ihrer Seele war doch noch eine flehende Hoffnung 333 hängen geblieben, daß das Gefürchtete nicht eintreten möchte, eine Bitte, daß sie aus dieser Nacht von Niedertracht und Schmach einen allerkleinsten Schimmer Licht sich in den Tod mitnehmen könnte. Die endliche Gewißheit brach nun die Kraft ihres bis zum Äußersten angespannten Willens.

Sie verfiel in den doppelten Schlaf der Betäubung und der Erschöpfung, und wachte erst zu einem einzigen, matten Umsichsehen auf, als die schweren Schritte der Mannschaften auf dem Steinpflaster nach den Ställen zu dröhnten.

Nach einem flüchtigen Blick sank sie wieder in ihren schlafsüchtigen Zustand zurück. Aber sie hatte gesehen, daß die Tür zur Stube nur angelehnt war. Und ihr Mann lag noch fest schlafend in seinem Bett. – –

Am Vormittag dieses Tages gab es in der Batterie unmäßig viel zu tun. Tags darauf, früh sechs Uhr, sollte das Regiment in die Herbstübungen abrücken.

Der Wachtmeister fand kaum Zeit, in der Wohnung die Sachen zusammenzuwerfen, die er mitzunehmen gedachte.

»Ida, rief er nur eben zur Tür herein, »mach' mir ein Butterbrot zum Frühstück zurecht und schick' mir's hinüber nach dem Bureau!«

Julie war auf ihren gewohnten Platz gebettet, auf das Sofa, an das der Tisch eng herangerückt war. Die Schwester saß über einer Näharbeit.

Etwas unwillig über die Störung stand sie auf und holte sich Brot und Butter aus der Küche herzu. Mit dem starken Brotmesser schnitt sie zwei Scheiben herunter, strich sie mit Butter und trug sie weg.

Brot und Messer waren dicht an der Tischkante liegen geblieben. Das Messer schaukelte erst ein wenig 334 auf der runden Kruste hin und her, dann rutschte es langsam von dem Laib herunter und fiel flach auf die Decke, in die sich die Kranke eingehüllt hatte.

Zuerst ließ Julie es achtlos liegen; Ida mochte es wegnehmen, wenn sie wiederkam. Plötzlich aber zuckte es ihr wie eine Erleuchtung durch den Sinn. Es war ein Wink des Schicksals, daß dieses Messer auf ihr Lager geglitten war. Gewiß, dieses Messer sollte das Werkzeug ihrer Rache sein. Sie nahm es hastig in ihre matte Hand und betrachtete es. Es hatte eine starke, spitze Klinge, die durch Fleisch und Bein dringen mußte; frisch geschliffen schien es auch zu sein. Sie befühlte es an der Schneide und verletzte sich ein wenig den Finger. Eine winzige Blutspur haftete davon an dem blanken Stahl, und daneben klebten die Spuren des durchschnittenen Gebäcks. Immer wieder mußte sie die starke Klinge betrachten.

Als sie die Flurtür schließen hörte, verbarg sie das Messer eilig unter der Decke.

Die Schwester trat wieder in das Zimmer und wollte sich gleichfalls ihr Frühstück schneiden. Suchend blickte sie auf dem Tische umher.

»Hast du das Brotmesser, Julie?« fragte sie. »Es lag doch eben vorhin hier.«

Die Kranke antwortete mürrisch: »Ich? – Nein.«

»Dann werd' ich es wohl mit in die Küche genommen haben.«

Aber auch in der Küche war es nicht zu finden..

Ärgerlich fing das junge Mädchen an zu schelten: »Mein Gott, eben habe ich doch damit Otto das Frühstück geschnitten! Es muß ja doch hier sein.«

Sie kramte ihre Näherei durcheinander, – vergebens. 335

»Hast du es nicht auch liegen sehen, Julie?« fragte sie nochmals. »Hier auf dem Brote?«

»Nein,« erwiderte die Kranke, »da lag es nicht. Da hätte ich es sehen müssen. Vielleicht hast du's aus Versehen mit hinüber ins Bureau genommen?«

»Das ist möglich.«

Am Nachmittag fragte Ida den Schwager: »Otto, weißt du vielleicht, ob ich heute Vormittag das Brotmesser bei dir im Bureau habe liegen lassen?«

Der Wachtmeister antwortete: »Das kann schon sein. Ich will mal nachsehen lassen.«

Dann kam die Rede nicht wieder auf das vermißte Messer. –

Julie Heppner fühlte sich seltsam kräftig und gesund, seitdem sie eine so vortreffliche Waffe in der Hand hatte. Endlich war für sie die Stunde da, in der sie für die jahrelangen Peinigungen, für die ganze unermeßliche Schmach ihrer Ehe Rache nehmen konnte. Und sie maß den Gatten und die Schwester mit triumphierenden Blicken als zwei unrettbar ihr verfallene Opfer.

Noch am Abend war so viel zu packen und zu rüsten, daß niemand daran dachte, der Kranken die Medizin zu reichen.

»Otto, gib die Medizin herüber,« verlangte sie, »ich kann sie mir schon selbst zurecht machen.«

Der Wachtmeister stutzte und schaute höhnisch lächelnd zu der Schwägerin hinüber. Zum Teufel! Beinahe hätte man sich durch diese alberne Hetzerei um die letzte Nacht vor der langen Trennung gebracht, wenn nicht die Betrogene selber vorgesorgt hätte.

Ida lachte ebenso vor sich hin.

Er trug seiner Frau den Löffel und die Flasche hin und mahnte: »Du, nimm aber ja nicht zuviel!« 336 Aber er dachte: vielleicht nimmt sie doch etwas mehr, als verordnet ist, – um so tiefer wird sie schlafen.

Dann machte er sich mit der Schwägerin von neuem an das Packen.

»Da!« sagte die Kranke, indem sie den Löffel hinhielt. »Etwas mehr ist es, glaube ich, doch geworden als sonst.«

Sie hatte ein wenig von der Flüssigkeit an den Löffel geschmiert und wischte sich scheinbar mit ihrem Tuche die Lippen.

Heppner versetzte: »Na, wenn es bloß nicht mehr als ein Löffel voll ist, dann geht's.«

Die Frau begann von neuem: »Ida, willst du mich nun nicht hinausbringen? Ich fange schon an, müde zu werden.«

»Gleich, gleich!« antwortete die Schwester, »laß uns nur erst fertig packen! Gleich bin ich so weit.«

Und sie verschnürte das Köfferchen, das die Habseligkeiten des Schwagers enthielt, so weit sie für das Manöver gebraucht wurden.

Es schlug gerade zehn Uhr. Der Trompeter blies den Zapfenstreich.

»So spät schon?« brummte der Wachtmeister. »Gib her! Ich trag es gleich selbst zum Packwagen.«

Er nahm den Koffer und wandte sich zum Gehen. In der Tür hielt er noch einmal inne und fuhr fort: »Ich gehe bloß noch mal durch die Batterie, dann lege ich mich hin. Es heißt zeitig heraus morgen früh.«

»Schön,« versetzte die Schwägerin, »ich hab's auch satt. Ich bin hundemüde.«

Wieder lag die Kranke auf ihrem Bett und wartete. Sie hatte das Messer unter der Decke mit in die Kammer genommen und hielt es krampfhaft mit der Hand umspannt. 337

Nebenan in der Stube räumte die Schwester eilig ein wenig auf. Die Tür war halboffen geblieben, so daß ihr Hin- und Hergehen und ihr Wirtschaften deutlich vernehmbar in die Kammer hinüberklang. Zuletzt kleidete sie sich aus, hastig, als ob sie von irgend etwas gehetzt und angetrieben würde.

Durch den Spalt der Türe fragte sie leise in die dunkle Kammer hinein: »Julie, schläfst du?«

Und noch einmal, lauter und eindringlicher: »Julie, schläfst du?«

Eine Zeitlang blieb sie lauschend stehen. Dann legte sie sich nieder.

Die Tür blieb offen, und die Kranke hörte, wie sie sich unruhig im Bett hin- und herwarf.

Etwa eine Stunde später schloß der Wachtmeister den Flurzugang auf. Er legte sich auf dem Korridor die gespornten Stiefel ab und schlich sich behutsam in die Kammer.

Und wiederum ein gedämpftes: »Julie, schläfst du?«

Die Frau hätte auflachen mögen über die Narren, die sich so an der Nase herumführen ließen. Einen Augenblick war sie versucht zu antworten, um ihnen ihren sauberen Plan zu durchkreuzen, – aber sie schwieg. Wenn die beiden erschöpft in Schlaf gesunken waren, verfielen sie ihrer Rache um so sicherer.

Der Mann streifte geschwind die Uniform ab. Dann trat er wieder an ihr Lager und lauschte – wie in der vorhergegangenen Nacht.

Die Kranke blieb unbeweglich. –

Die verratene Frau lag starr auf ihrem Lager. Sie krampfte die Faust um den Messergriff, daß ihr die Nägel ins Fleisch eindrangen, und biß sich die 338 welken Lippen blutig, um nicht vor rasender Empörung zu schreien.

Sie litt Höllenqualen, und diese Pein dünkte sie endlos, ewig zu sein wie die Hölle.

Tausendmal schon, meinte sie, müßte der Morgen angebrochen sein, und immer noch hielt sich das schändliche Paar umfangen.

Endlich nahm die Schmach ein Ende.

Das Weib schlief bereits, als der Mann sich von ihr schlich. Sie antwortete nicht auf den leisen Abschiedsgruß, den er von der Tür aus zurückrief.

Der Mann legte sich aufatmend nieder und war im Augenblick in einen tiefen Schlaf gefallen.

Die Kranke zögerte noch eine Weile.

Dann richtete sie sich auf. Das Schnarchen und Röcheln des Mannes übertönte das geringe Geräusch dieser Bewegung. Nun stand sie mit ihren nackten Füßen auf den Dielen. Das Messer hielt sie fest in der Rechten.

Wen von den beiden sollte sie zuerst strafen? Ihn, ihren erbarmungslosen Peiniger, den Verderber ihres ganzen Lebens? Oder sie, die Hure, das Mensch, die gemeine Dirne, die ihre Schmach voll gemacht, zum Gipfel gehäuft hatte?

Beide mußten sie sterben, das war gewiß. Aber zuerst sollte sie daran glauben, diese Schamlose, dieses hündische Schwein!

Eine Flut von Schimpfworten, so unflätig sie sich nur erdenken ließen, lag ihr auf der Zunge. Sie wollte sie der Sterbenden ins Ohr schreien, jauchzen, jubeln, wenn ihre Rache genommen war.

O, das war dann ihr Triumph! So – auf diese Art – blieb sie die Siegerin, nach all der Schande, nach all den Qualen! 339

Und sie tastete sich mit vorsichtigen Griffen an dem Bett entlang. Mit wankenden Schritten überschritt sie die Schwelle und trat in die Stube ein.

Von außen fiel das fahle Licht der anbrechenden Morgendämmerung herein, gerade hell genug, um die einzelnen Gegenstände unterscheiden zu lassen. Es sah wüst in dem Zimmer aus, überall umhergestreute Kleidungsstücke, die Stühle unordentlich gestellt, auf dem Tisch die Reste der Abendmahlzeit.

Über dieser Unordnung brütete eine schwüle Hitze. Der Dunst der ganzen abscheulichen, verbrecherischen Schande erfüllte die erstickende Luft.

Die Kranke wankte. Es wurde ihr trübe vor den Augen.

Aber mit einem Ruck richtete sie sich auf und trat an das Bett heran.

Die Schwester schlief, das Gesicht unter dem verwirrten Haar verborgen und in die Kissen gedrückt.

Mit einem Male regte sie sich. Sie streckte sich langsam aus und dehnte sich, so daß die Decke mit einem leichten Rauschen auf den Boden glitt.

In dem ungewissen Licht schimmerte die weiße Haut des blühenden Körpers.

Die Frau heftete ihre brennenden Augen auf diese Schönheit. Plötzlich verzerrte ein wildes Lachen ihren Mund, und sie hob das Messer.

Ein herrlicher Gedanke war ihr gekommen.

In den ehebrecherischen Schoß der Schwester wollte sie die Klinge stoßen, Gerechtigkeit übend, Maß für Maß.

Da stieg ihr ein Blutschwall im Halse empor und erstickte sie. Sie taumelte und griff mit zuckenden Händen in die leere Luft. Das Messer entglitt der 340 geöffneten Faust und klirrte auf den Boden. In einem dumpfen Fall brach die Sterbende zusammen.

Die Schlafende drehte sich träge herum.

»Laß, Otto!« murmelte sie.

Mit einem Male stieß sie einen gräßlichen Schrei aus, eilte in die Kammer und rüttelte den Mann, der kaum aus dem Schlafe zu wecken war.

Er folgte ihr, noch halb betäubt.

Julie Heppner lag tot in ihrem Blute.

Der Gatte und die Schwester betrachteten sie mit scheuen Blicken. Als sie das Messer neben der Leiche blitzen sahen, schauerten sie zusammen.

Der Tod war an ihnen vorübergestreift.

Draußen blies der Trompeter vom Dienst die fröhliche Fanfare zum »Wecken«:

 


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