Franz Adam Beyerlein
Jena oder Sedan?
Franz Adam Beyerlein

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IV.

»Ich hatt' einen Kameraden,
Einen bessern findst du nit.«
                                (Uhland.)

In den ersten Dezembertagen bemerkte Unteroffizier Wiegandt zuweilen in den Exerzierpausen, die Rekruten bekämen nun allmählich einen soldatischen Anstrich, – in der Stube, nachdem der Dienst vorüber war, verstieg er sich sogar manchmal zu einem kleinen Lob.

Wenn er sich abends zum Ausgehen rüstete und, mit dem Säbel umgürtet, die Extramütze flott auf den Kopf gestülpt, vor seinem kleinen Spiegel den Schnurrbart bürstete, sagte er: »Kerls, heute konnt' ich fast mit euch zufrieden sein. Ich werde es meiner Frieda sagen.«

Dann lachten die Rekruten beifällig. Sie mochten den Unteroffizier alle leiden; er schenkte ihnen nicht das geringste vom Dienst und faßte nicht eben fein beim Exerzieren an, aber er machte ihnen die Sache leicht, indem er zwischen Schwerem und minder Schwerem abwechselte, und quälte sie nicht, indem er sie gerade die anstrengendsten Übungen lange Zeit hintereinander machen ließ. Seine Abteilung stand nie minutenlang in Kniebeuge da, wie die Fahrer Heppners. Dazu war ihm bei all seiner Grobheit eine ehrliche Gutmütigkeit eigen, die sich gerade der 121 weniger Geschickten in fast milden, kameradschaftlichen Sonderlektionen nach dem Dienst annahm.

Inoslawski besonders, der bei der Ausbildung in der Fahrerabteilung des Vizewachtmeisters stand, hatte ihm viel zu verdanken.

Der Pole erhielt mit ein paar Landsleuten Unterricht in der deutschen Sprache und machte auch ganz gute Fortschritte, aber er hatte bald herausbekommen, daß er weit glimpflicher wegkam, wenn er eine vollkommene Unkenntnis heuchelte, und stellte sich daher dümmer, als es in Wirklichkeit der Fall war. So konnte er sich auch kleine Frechheiten erlauben, die einem anderen nicht durchgegangen wären.

Jedesmal wenn Wiegandt von seiner Frieda sprach, deutete Inoslawski mit einem schlauen Lächeln auf sich und sagte sehnsüchtig: »Maruschka!« Dabei führte er die Hand zum Herzen und spitzte seinen derben Mund wie zu einem Kusse.

Maruschka war Magd auf dem Rittergute, auf dem auch der Pole in Dienst gestanden hatte, und im besonderen war ihr die Zubereitung des Schweinefutters zugefallen, Frieda aber war ein tapferes, flottes Mädel, das in einer Rüschenfabrik Mull fältete und die verdienten Groschen aufhäufte, um endlich die zur Heirat nötige Summe zusammen zu bekommen.

Und Wiegandt, der trotz seines martialischen Äußeren ein schüchterner Liebhaber war, fügte die Pfennige seines Solds hinzu und ersparte sich das abendliche Bier, indem er mit seinem Schätzchen spazieren ging und sie ganz unzählige Male küßte.

»Das schmeckt besser als Bier,« sagte er, »und kostet nichts.«

Da das Pärchen außer seinen Liebeswünschen nicht viel sonst zu reden hatte, erzählte Wiegandt seinem 122 Mädchen allen Ernstes von seinen Rekruten, und Frieda lernte sie nach und nach alle den Namen und den Leistungen nach kennen. Am Ende gewann sie ein gewisses Interesse an den Leuten. Vor allem hatte es ihr Frielingshausens Schicksal angetan. Die mitleidige Seele der kleinen Rüschennäherin fand darin fast etwas von einem verwunschenen Prinzen, und es bereitete ihr ungeheures Vergnügen, den leichtgläubigen Wiegandt ein wenig eifersüchtig zu machen, bis sie ihm wieder mit einem herzhaften Kusse versicherte, er sei doch der schönste und liebste.

Den Polen aber hatte sie durchschaut.

»Otto, er verulkt dir bloß!« meinte sie. Denn Frieda war von der Reinickendorfer Stammrüschenfabrik nach der neu gegründeten Provinzfiliale übergesiedelt.

Otto hatte auch Inoslawski barsch Ruhe geboten, als er darnach wieder vor ihm Maruschkas gedachte, aber der Angedonnerte zog ein so harmlos erstauntes Gesicht, daß hinterher beim Spaziergang Wiegandt zu seinem Schätzchen sagte: »Aber Friedchen, mit dem Inoslawski täuschest du dich wirklich. Der ist wirklich bloß dumm.« –

Wenn der Unteroffizier zu seinem Stelldichein gegangen war, hatte Frielinghausen die Aufsicht über Stube IX. Der Wachtmeister hatte das so angeordnet, damit der junge Mensch von Anbeginn einen Teil der späteren Verantwortung kennen lernte.

Es war ein leichtes Amt, das Frielinghausen damit übertragen war.

Keiner von den Rekruten hatte an den Abenden noch Lust und Laune, Lärm zu machen oder Unfug zu treiben. Hundemüde waren alle. Der ganze Tag, von Morgen bis zum Abend, war von den verschiedenen Dienstzweigen besetzt, und die Stunden, die dann 123 noch freiblieben, wurden vollauf durch das Instandhalten und Reinigen der Kleidung und Ausrüstung in Anspruch genommen. Am liebsten wären alle nach dem Abendstalldienst auf den Schlafsaal gegangen und hätten sich niedergelegt, aber das war erst gegen neun Uhr erlaubt.

So saßen sie, wenn das Zeug geputzt war, auf ihren Schemeln um die Tische; die meisten hatten die Arme auf der Platte verschränkt und schliefen – nur selten kritzelte einmal einer ein paar Zeilen nach Hause. Wenn endlich die Zeit zum Niederlegen gekommen war, zögerte keiner mehr, und einer nach dem andern taumelte schlaftrunken die Treppe nach dem Schlafsaal hinauf.

Es war natürlich, daß die einzelnen in verschiedenem Maße von den Strapazen des Dienstes mitgenommen wurden.

Vogt und Weise fanden sich am ehesten darein, beide kräftige, gesunde Burschen, die auch nicht dumm waren, so daß ihnen das in den Instruktionsstunden Vorgetragene ebenso leicht einging wie das Fuß- und Geschützexerzieren und das Turnen. Aufpassen und flink sein – das war die Hauptsache.

Inoslawski ließ sich als Reiter erträglich an und hatte den »alten« Fahrern bald die Kniffe abgesehen, mit denen man beim Stalldienst die Vorgesetzten hintergeht, aber im Fußexerzieren fehlte es aller Enden. Dabei nutzte er seine vermeintliche Sprachunkenntnis weidlich aus und verhöhnte fast die Unteroffiziere, die sich ihm nur durch Gebärden verständlich machen konnten. Er merkte, daß ihm das bei den Kameraden ein Ansehen verschaffte, und trieb es immer ärger. Gerade dem Vizewachtmeister spielte er seinen tollsten Streich: als der, über den ungeschickten Polen 124 verzweifelnd, die Hände über den Kopf zusammenschlug, machte Inoslawski ihm diensteifrig die Geste nach, als ob es sich um eine Freiübung handle. Darnach stand er mit ruhigem Gesicht vor dem wutschnaubenden Heppner, und erst, als er ins Glied zurückgestoßen wurde, zuckte es ganz flüchtig um seinen Mund.

Am schlimmsten daran waren Truchseß, der dicke Brauer, der Schreiber Klitzing und Frielinghausen.

Der Brauer war wohl ein starker, stämmiger Mensch, aber er bewegte sich tausendmal zu langsam. Dagegen war Klitzing schlechterdings zu schwach für die Anforderungen des Dienstes. Es war ihm unmöglich, beim Geschützexerzieren als »Nummer 3« den Lafettenschwanz zu heben oder als »Nummer 5« die Deichsel der Protze zu regieren, beim Turnen hing er regungslos am Querbaum, und selbst beim Fußexerzieren hielt er sich nur mit Mühe aufrecht.

Wenn ihm Vogt zuredete, sich krank zu melden, weigerte er sich: »Nein, ins Lazarett gehe ich nicht. – Auf keinen Fall!«

»Warum nicht?« fragte Vogt.

»Ich mag nicht,« antwortete der Schreiber, und als Vogt dringlicher wurde, setzte er hinzu: »Weißt du Vogt, dir kann ich's ja sagen: ich käme da nicht wieder heraus, ich müßte da sterben.«

Und mit einem schmerzlichen Lächeln fuhr er fort: »Es ist ja ganz egal, wo ich draufgehe, – aber ins Lazarett mag ich nun einmal nicht.«

Frielinghausen endlich war zwar ein gewandter Bursche mit jungen, gelenkigen Gliedern, aber er hatte etwas Faseliges, etwas Oberflächliches in seinem Wesen. Ganz sicher war er überall der erste, der begriffen hatte, worauf es ankam, aber daß hernach bei jeder Kleinigkeit die Art der Ausführung so haarklein und 125 nicht immer am praktischsten vorgeschrieben war, daß am Ende das »wie?« über dem »was?« zur Hauptsache wurde, das wollte ihm nicht in den Kopf. Was war das für ein Unterschied, ob man bei einem Sprunge mit dem rechten oder linken Fuße antrat oder ob man beim Abziehen der Abzugsschnur die rechte Hand über der linken liegen hatte? Das Wesentliche blieb doch, daß man über die Leine sprang oder daß der Schuß losging.

So mußte er sich trotz seines ehrlichen Eifers manche Ausstellungen gefallen lassen, und das immerwährende mahnende Aufrufen seines Namens machte ihn fast rasend. Im Instruktionsunterricht war er selbstverständlich den Kameraden weit voran. Das Behalten der dienstlichen Vorschriften und der Zusammensetzung von Geschütz und Geschoß war für sein trotz aller früheren Trägheit geübtes Gedächtnis ein Kinderspiel; er, der zuletzt weit über hundert Odysseeverse hatte auswendig lernen müssen, würde doch die Teile des Verschlusses oder des Kanonenrohres behalten können!

Neben ihm zeichnete sich Klitzing in diesen Unterrichtsstunden aus. Der schwächliche Schreiber erfreute sich aber noch eines anderen Vorzugs, der bei seinem Berufe fast verwunderlich war, ihm aber als Artilleristen besonders zu statten kommen mußte, – zweier ungemein scharfer Augen, die das Ziel im Augenblick auffaßten und Visier und Korn haargenau darauf einstellten.

Das söhnte Wiegandt immer wieder mit seinen sonstigen schlechten Leistungen aus, und am Ende blieb Klitzing nur für einen der absolute Sündenbock, – für Leutnant Landsberg, den Rekrutenoffizier.

Größtenteils stand Landsberg während des 126 Exerzierens gelangweilt am Rande des Platzes und besah sich seine Stiefeln, die er nach denen von Reimers hatte anfertigen lassen. Nur wenn Wegstetten in Sicht war, kümmerte er sich um die Rekruten. Er rannte zur Abteilung des Unteroffiziers Wiegandt und begann jedesmal Klitzing, diesen »schlappen Kerl,« diesen »Faulpelz« herunterzuputzen.

Er drohte dem armen Teufel beständig mit Nachexerzieren, aber er verhängte die Strafe nie, weil er dann zur Aufsicht mit hätte dabei sein müssen.

Endlich legte ihm Reimers, der während eines kurzen Urlaubs des Chefs die Batterie führte, diesen wohlfeilen Sport.

»Sagen Sie, Landsberg, haben Sie mal Unteroffizier Wiegandt wegen dieses Unglückswurms Klitzing zugezogen?« fragte er.

»Nein, Herr Leutnant,« antwortete Landsberg.

Reimers rief Wiegandt heran.

»Was ist das mit dem Klitzing?« erkundigte er sich.

Der Unteroffizier erwiderte: »Herr Leutnant verzeihen, der Mann hat den besten Willen und gibt sich alle Mühe, aber er ist, glaube ich, überhaupt zu schwächlich.«

»Es ist gut, Wiegandt,« verabschiedete ihn Reimers. Dann wandte er sich sehr ernst und dienstlich an Landsberg. »Ich denke, Landsberg, Sie lassen den Mann nun in Ruhe. Ja?«

Landsberg murmelte: »Zu Befehl« und suchte sich ein neues Opfer.

»Findeisen, was machen Sie für einen krummen Buckel?« schallte es nun über den Platz, wenn Wegstetten vorüber ging. Landsberg stellte sich vor den Gescholtenen hin, nahm die hängenden Schultern zurück 127 und sagte: »Sehen Sie, so macht man es! Schultern zurück und Brust heraus!« – –

Im Laufe der Wochen waren sich die Rekruten von Stube IX auch persönlich näher getreten. Ganz unmerklich schlang sich das Band der Kameradschaft um die einzelnen, aber innerhalb dieser Allgemeinheit gab es noch nähere, herzlichere Freundschaften.

Gerade die verschiedenartigsten Menschen fanden sich zusammen.

Abends, wenn der dicke Brauer seinem von der Mühsal des Tages erschöpften Körper einmal nicht die Ruhe des Schlafes gönnte, hockte er bei Listing, der draußen ein Herumtreiber und Vagabund gewesen war. Er hörte kopfschüttelnd zu, wenn Listing von seinem Landstraßenleben erzählte, besonders von den Nächten – den schönen, in denen man unter dem funkelnden Sternhimmel im Heu lag, oder im Walde unter einer Buche, in deren Zweigen das Käuzchen schrie, und von den häßlichen, regnerischen und kalten in der unwirtlichen Zeit, die dem Winter vorausgeht. Da zog man ein paar Schütten Stroh aus einem Feimen und kroch schauernd in die Höhle, die von innen heraus durch den durchtröpfelnden Regen naß wurde und in deren Öffnung der Ostwind eisig hineinfauchte.

Dann klopfte wohl der Brauer mit seiner breiten, fetten Hand dem Kameraden aufs Knie und fragte: »Nu, Landsmann, da is dir wohl jetzt mächtig wohl, wenn du dich hernach in deine Klappe (Bett) haust?«

Aber Listing erwiderte: »Nu nee, du! Eigentlich nich. Aber ich werd' mich vielleicht daran gewöhnen. Draußen hab' ich doch manchmal besser geschlafen, – schlechter aber auch.« – 128

Vogt war sich bald über die Kameraden klar geworden.

Der Beste von allen, der sie alle miteinander in den Sack steckte, war zweifellos Klitzing. Der Heldenmut, mit dem sich der schwächliche Schreiber die Erfüllung seiner Pflicht abrang, erfüllte ihn mit einer fast ehrfurchtsvollen Bewunderung, und der ehrliche Bursche war sogleich bereit, dem armen, geplagten Kerl beizuspringen, wo immer das möglich war.

In der Mittagspause, wenn Klitzing zu erschöpft war, um nach dem Speisesaal zu laufen, trug Vogt ihm den Eßnapf zu und tat am liebsten sein Stück Fleisch noch in des anderen Schüssel. Dann putzte er ihm flink Stiefel und Knöpfe wieder blank und hielt ihm die Mütze hin, wenn wieder zum Nachmittagsdienst angetreten wurde.

»Komm, Heinrich, nun hab' ich dich schmuck gemacht,« sagte er dabei mit einem Versuch zu scherzen, »nun wollen wir mal recht stramm sein.«

Und Klitzing schlich mit schmerzenden Gliedern die Treppe hinunter und trat ins Glied.

Vogts Sorge um ihn hörte erst mit dem Abend auf und begann jeden Morgen von neuem. Der Schreiber fühlte sich dadurch zugleich beglückt und beschämt; er versuchte, dem Kameraden zu wehren, aber Vogt verbat sich das mit gutmütiger Grobheit. So ließ es Klitzing denn sein und dachte, so oder so ähnlich müßte wohl eine Mutter für ihr Kind sorgen. Denn er hatte seine Eltern nie gekannt, sondern war nach ihrem frühen Tode als Ziehkind bei einem weitläufigen Verwandten aufgewachsen.

Auch Vogt hatte ein wenig die Empfindung, als handle es sich da eher um ein Kind oder besser noch um einen jüngeren Bruder, als um einen Kameraden, 129 aber das war seinem selbständigen Sinne gerade das Rechte, und jedenfalls war Klitzing ein ganz anderer, viel besserer Kerl als der flinke, muntere Weise.

Weise suchte sich bei allen zugleich beliebt zu machen, aber man merkte es ihm an, daß er im letzten Grunde an sich hielt und sich nie ganz so gab, wie er war. Außerdem fühlte er sich offenbar, auch wenn die Kameraden ganz unter sich waren, einigermaßen unsicher.

Eines Morgens kam es beim Waschen fast zum Streit, als Vogt ihn beim Arme faßte und sich die Tätowierungen ansehen wollte, die in die Haut eingegraben waren. Weise riß sich heftig los, aber Vogt hatte doch gesehen, daß auf dem rechten Unterarm die Worte »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« eingeätzt waren, von einer zerbrochenen Kette und einem Flammenkranz umrahmt, und darüber etwas, das wie eine Zipfelmütze aussah.

Der Vater daheim hatte nie mit ihm über Politik gesprochen, aber soviel hatte Vogt doch sich selber umgetan, daß er die Bedeutung der Tätowierung sofort erkannte: Weise war also ein Sozialdemokrat! Nun, etwas Schlimmes war das weiter nicht. Zu Hause im Dorfe gab es eine Menge Sozialdemokraten, meistens Arbeiter aus den großen Chamottefabriken unten am Flusse, und das waren alles ganz brave Leute. Beim Militär freilich war die Richtung streng verboten, da mochte Weise sich nur in acht nehmen.

Übrigens stand es vermutlich mit den Landsleuten Weises aus dem Gebirge, die fast alle Berg- und Fabrikarbeiter waren, ähnlich, und wahrscheinlich war auch die sozialdemokratische Gesinnung das Band, das ihn an Wolf knüpfte, diesen hageren, düster dreinschauenden Kanonier vom vorhergehenden Jahrgang. 130 Weise wechselte zuweilen mit ihm auf dem Flur oder auf der Treppe ein paar Worte, aber er war im Augenblick verschwunden, wenn sich Schritte näherten.

Im ganzen war das alles Vogt einerlei. Er kümmerte sich den Teufel darum, ob da zwei von verbotenen Dingen sprachen, er war Soldat, aber kein Aufpasser. Den tätowierten Arm hatte er bald vergessen, und nur einmal drängte sich ihm die Erinnerung wieder auf, – bei der Vereidigung. Da schwor nun Weise dem Könige Treue und reckte dazu seinen Arm in die Höhe, in den die Schlagworte der Revolution eingegraben waren. Der Ärmel war ein wenig herabgeglitten, so daß die Buchstaben von »Brüderlichkeit« deutlich zu sehen waren.

Das stimmte allerdings übel zusammen. Aber dann überlegte Vogt weiter: was blieb Weise anders übrig als diese Heuchelei? Wenn er sich weigerte, den Fahneneid zu leisten, würde man ihn einfach einsperren. Es war also gewissermaßen ein Noteid, den Weise da fälschlich schwur, und ebenso wie er, Findeisen und die ganze Anzahl der anderen. – –

* * *

Zum Weihnachtsfest ging der größte Teil der alten Mannschaften auf Urlaub, für die Zurückbleibenden brannte in der großen Stube VII ein Baum, unter dem für jeden eine Kleinigkeit, – ein Taschenmesser, ein Cigarrenspitzchen oder eine Holzpfeife, – neben ein paar Cigarren lag. Nur Listing, der es mit dem Waschen noch immer nicht recht genau nahm, erhielt außer den Cigarren ein großes Stück Seife. Dazu war ein derbes Faß Lagerbier aufgelegt.

Aber noch vor der Batteriebescherung hatten die meisten eine besondere Festfreude gehabt. Die 131 Ordonnanz hatte vorsorglich einen kleinen Handwagen zum Postamt mitgenommen und brachte ihn, vollbeladen mit Kisten und Paketen, wieder zurück. Nun standen die Mannschaften um den Wachtmeister herum, und jeder spitzte die Ohren, ob nicht auch für ihn etwas eingetroffen wäre.

Klitzing hatte sich beiseite gestellt. Was hatte er hier zu suchen? Plötzlich wurde auch er aufgerufen. Ein Kistchen war für ihn da, und es war gar nicht so leicht, als er es in die Hand nahm. Er glaubte, es sei ein Irrtum dabei, aber das war schon er, Kanonier Heinrich Klitzing der 6. Batterie Osterländischen Feld-Artillerie-Regiments Nr. 80, der auf der Adresse gemeint war. Er sah den Abschnitt an, – als Absender stand darauf Friedrich August Vogt, und auf der Rückseite »Dem besten Freunde meines Jungen zum Weihnachtsfeste!«

Der Schreiber ging nach Stube IX und zeigte Vogt, der schon am Auspacken seines Packets war, den Abschnitt. Er konnte nichts dabei sagen, er drückte nur dem Freunde die Hand, und Tränen standen ihm in den Augen.

Aber Vogt rief munter: »Sieh mal, das hat der Alte wirklich fein gemacht! Was ist da weiter bei? Er kann's doch am Ende!«

Hernach, als er die ausgepackten Geschenke, Würste, Weihnachtsgebäck und warmes, wollenes Unterzeug, verglich, schien es ihm fast, als ob der Vater den Kameraden noch reichlicher beschenkt hätte als ihn selbst. Zu unterst fand er einen Brief.

Der Vater schrieb:

Mein guter Junge!

Anbei erhältst Du ein paar Kleinigkeiten zu Weihnachten. Ich glaube, ich habe es Dir recht 132 gemacht, wenn ich die Hälfte von dem, was ich Dir zugedacht hatte, Deinem Freunde und Kameraden Klitzing, von dem Du mir schon immer geschrieben hast, gab. Du weißt, ich bin selbst auch eine Waise gewesen, und ich kann mir denken, wie es dem manchmal zu Mute ist. Dabei hatte ich noch meine gute Schwester, und er gar niemanden! Also verlebe das Fest vergnügt und bleibe mir brav und gesund!

Dein treuer Vater

Friedrich August Vogt.

Vogt faltete den Brief zusammen. Ganz gewiß, der Vater hatte es recht getroffen, und die Freude Klitzings war schließlich für ihn fast das Schönste vom ganzen Feste.

Auch Frielinghausen las einen Brief – mit glühendem Antlitz und strahlenden Augen. Er hielt die Verzeihung der Mutter in den Händen, und die Liebe, die in ihren Worten zitterte, ergoß sich heilend und wärmend in sein Herz und richtete ihm den verzweifelnden Mut empor.

Als nach dem Abendstalldienst die Batteriebescherung begonnen hatte, litt es ihn nicht lange in der lauten Runde. Er saß bei der trüben Lampe am Tisch und füllte Seite um Seite mit wilden Selbstanklagen und hochheiligen Versicherungen der Dankbarkeit und der endlichen Besserung.

Beim Schreiben war ihm heiß geworden; deshalb öffnete er das Fenster und sah hinaus in die klare, weiße Winternacht.

Die Mutter schrieb: »Ich weiß nicht, wie ich morgen den heiligen Abend ertragen soll. Ich brauche ja nur um ein Jahr zurück zu denken, wie es da war . . .«

Und er – o, wie er zurückdachte! 133

Drüben über dem Flur hatten sie »O Tannenbaum« angestimmt und sangen mit ihren rauhen Kehlen Vers um Vers herunter. Er schaute in das kahle Zimmer zurück, aber unwillkürlich floh sein Blick wieder nach außen. Wie schön war diese Stille, diese schweigende Landschaft, in eine weiße, milde Decke eingehüllt und fleckenlos hingebreitet unter den Sternen des Himmels!

Er schauerte leicht vor Frost, ging zum Tische zurück und fügte seinem Briefe eine Nachschrift hinzu.

Er schrieb:

Liebe, liebste, teure Mutter, wie unendlich ich Dir dankbar bin dafür, daß Du mir verziehen hast, das kann ich Dir niemals ganz sagen und muß es doch wieder und wieder tun. Ich kann Dir nur abermals geloben, daß Du von jetzt ab mit mir nur mehr zufrieden sein sollst. Stolz sein auf mich – das wirst Du ja wohl kaum je können, wie es jetzt mit mir steht. Eins aber glaubst Du mir gewiß auch ohne Beteuerung – daß ich diesen Heiligabend auch nicht sehr froh bin. Glücklich – ja, weil Du mir vergeben hast, aber froh nicht, Du liebe, liebe, arme, liebste Mutter! – –

Von diesem Christabend an war er ein anderer geworden. Den Dienst, der ihm früher zugleich der Gegenstand einer bedrückenden Qual und eines verächtlichen Spottes gewesen war, tat er nun mit einem ungezwungenen, frischen Eifer. Er gab sich Mühe, über die Berechtigung des Drills, der ihn erst nur lächerlich gedünkt hatte, nachzudenken und besann sich dabei aus seinem Geschichtsunterricht auf die Soldaten Friedrichs des Großen: das war im Grunde doch nichts anderes als die Schule, in der die »langen Kerls« Friedrich Wilhelms I. gezwickt und gezwackt 134 worden waren, aber als die tote Form von dem großen, lebendigen Geiste des Sohnes belebt und geleitet wurde, verrichtete die »Potsdamer Wachtparade« Wunder der Tapferkeit.

Und was für eine Summe von Scharfsinn und welche peinliche Gewissenhaftigkeit der Arbeit war nicht in den Geschützen und Geschossen zusammengetragen! Dieser Geschoßzünder gar war ein wahrer Triumph der menschlichen Erfindungsgabe! Von einer verblüffenden Einfachheit der Konstruktion, gehorchte er auf einen Griff der Hand, sprengte das Geschoß fünfzehnhundert oder dreitausend Meter vor der Front, wie man es wollte, oder brachte es auch, wenn es not tat, wenige hundert Meter vorwärts mit einer ungeheueren Rauchwolke zum Krepieren, vor der die Gäule einer anreitenden Kavallerie sicherlich umkehren und rückwärts durchgehen würden.

Wenn Wegstetten in dieser Zeit sich nach ihm erkundigte, antwortete Unteroffizier Wiegandt stets dasselbe: »Er könnte nicht besser sein, Herr Hauptmann.«

Der Batteriechef hielt daher mit einem Lobe nicht zurück.

Als er geendet hatte, stand Frielinghausen, vor Freude und Stolz ganz rot im Gesicht, noch immer da.

Wegstetten fragte: »Nun, haben Sie noch ein Anliegen, Frielinghausen?«

Der lange Bursche stockte mit seiner Antwort, dann kam es aber doch heraus: »Herr Hauptmann verzeihen, – ich weiß nicht, ob meine Bitte passend ist, – aber wenn Herr Hauptmann die Güte haben wollten, meiner Mutter zu schreiben, daß Herr Hauptmann mit mir zufrieden sind –?«

Wegstetten schwieg erstaunt; ein bißchen sonderbar 135 und unmilitärisch kam ihm diese Bitte vor, aber er sagte zu und schrieb an »Ihro Hoch- und Wohlgeboren Frau Baronin von Frielinghausen« einen Brief, über den eine Mutter sich in der Tat freuen durfte.

Kurze Zeit darauf hielt Frielinghausen den Dank der Mutter in der Hand, ein Schreiben, das beinahe wieder froh klang, und diese herrlichste Frau, die die verkörperte Liebe war, suchte bereits nach Beweisen, mit denen sie den gedemütigten Stolz des Sohnes wieder aufrichten könnte. Sie schrieb, daß die Ehre, die vom Dienste des Königs ausstrahle, gerade so gut den niedersten Soldaten schmücke wie den Feldmarschall, und zählte eine Reihe Namen auf, deren Träger sich vom gemeinen Soldaten zu den höchsten militärischen Würden aufgeschwungen hatten.

Frielinghausen küßte diese gütigen Zeilen vielmals in überquellender Liebe, aber die Beweisführung der Mutter konnte ihn nicht recht überzeugen, er lächelte wehmütig über den schönen, innigen Eifer, mit dem sie diejenigen, die den Marschallstab im Tornister getragen hatten, aufzählte. Das waren mit Ausnahme Derfflingers, der schon eine etwas sagenhaft verschwommene Figur war, nur Helden der Revolutionskriege, und in dem Jahrhundert, das seit ihren Ruhmestagen verflossen war, hatten sich die Verhältnisse recht gründlich geändert.

Trotzdem tat er seine Pflicht mit allem erdenklichen Bemühen; es war besser, sich gar nicht erst mit phantastischen Träumen abzugeben. Die Wirklichkeit war zwar rauh und öde genug, aber sie entbehrte doch nicht ganz des Glanzes und des Glückes, wenn es auch nur in einem zufriedenen Wort der Mutter bestand. 136

Um so fürchterlicher traf ihn nach der Rekrutenbesichtigung im Februar, nach der er abermals über Wegstettens Lob errötet war, eine telegraphische Nachricht, die kurz den Tod der Mutter meldete.

Wie im Traume durchlebte er die darauffolgenden Tage. Sie schienen windschnelle Flügel zu haben und waren fast vorüber, als er noch immer fassungslos das liebe, bleiche Antlitz auf dem weißen Kissen anstarrte, ohne das Geschehene begreifen zu können. Ein leiser Schimmer der Zufriedenheit war über die Züge der Toten ausgegossen; gewiß hatte sie im Scheiden an ihn gedacht, der nur mehr ihr zur Freude leben wollte. Warum hatte sie nicht gewartet, bis er ihr den jahrelangen Kummer reichlicher vergolten hatte? Warum war seine treueste Stütze schon im Anfang des langen Weges zerbrochen?

Dann sah er die Gesichter der Trauerversammlung, in eine erlogene, salbungsvolle Teilnahme getaucht oder ganz unverstellt mitleidslos und kalt. Diese Herren Barone machten alle einen kleinen Bogen um den »gemeinen Soldaten«, der in seiner schlechtsitzenden Kommißgarnitur übel genug zu der Verstorbenen paßte, die zeitlebens trotz der Armut eine Dame gewesen war, – kaum, daß sie ihm flüchtig die Fingerspitzen reichten! Fürchteten sie sich zu beschmutzen oder hatten sie Angst davor, daß er sie anbettelte?

Diese Fremden drängten sich zwischen die Mutter und ihn, fast als ob sie die Entschlafene vor ihm schützen wollten. Las er nicht in ihren Blicken die heimliche Anklage: Du hast sie getötet?! O, was wußten sie vom Herzen einer Mutter, von dem nie ermüdenden, nie verzweifelnden, allbegreifenden, allverzeihenden Herzen dieser besten aller Mütter! Am 137 liebsten hätte er sie hinausgewiesen, die heuchlerischen Fratzen. –

Darnach kam der Augenblick, in dem die Mutter nicht mehr da war, in dem sie ihm endgültig entrissen war.

Die Erdschollen plumpten auf den Sarg. Wachte sie nicht auf davon? Mußte sie nicht wieder zurückkehren zu ihm? War die Mutterliebe denn nicht mächtiger als der Tod? –

Am Abend des Begräbnistages fand er sich in Stube IX. der 6. Batterie wieder. Es war kurz vor zehn Uhr, die Kameraden hatten sich schon niedergelegt. Er saß auf einem Schemel und starrte in die Dunkelheit, sekundenlang oder stundenlang, – er wußte es nicht. Dann tappte er sich die Treppe hinauf zum Schlafsaal und zog fröstelnd die Decke über sich.

* * *

Nach der Rekrutenbesichtigung war der Dienst um ein Geringes leichter geworden. Das Batterieexerzieren zu Fuß und am Geschütz war zwar auch keine kurzweilige Lustbarkeit, aber es verlief ruhiger als die Hetzjagd der Ausbildungszeit, und es gab Pausen dazwischen, in denen man verschnaufen konnte.

In dieser Zeit wurden die Rekruten auch allmählich auf die Verrichtungen des inneren Getriebes verteilt. Die jungen Fahrer und einige Kanoniere bekamen Pferde zur Pflege zugewiesen. Damit war ein kleiner Vorteil verbunden: für jeden Tag und jedes Pferd wurde ein Zuschuß von zehn Pfennigen gezahlt. Das machte dann an den DekadentagenDie Auszahlung des Soldes erfolgt für je 10 Tage, am 1., 11. und 21. jeden Monats. 138 eine oder zwei Mark mehr aus, und wer vernünftig und sparsam mit dem Putzzeug, dem Schmirgel und der Hufschmiere umging, der konnte für den eigenen Leib davon sparen. Wenn freilich die Gäule in den feuchten Spätwintertagen von der Reitbahn in den Stall kamen, dampfend, schwitzend und bis zum Widerrist mit Schmutz bespritzt, dann brachte manch einer die Mittagspause mit dem Trockenreiben zu und hatte dann zu laufen, um ein paar Löffel hinunterzuschlingen und hernach mit blanken Stiefeln und blitzenden Knöpfen und Helmbeschlägen zum Fußdienst zurecht zu kommen.

Vogt, Klitzing und Weise waren aber nicht unter den Pferdepflegern. Unteroffizier Wiegandt, der nach der Besichtigung zum Sergeant befördert worden war und die Aufsicht über die Geschütze und Fahrzeuge der Batterie erhalten hatte, kannte sie als fleißige, akkurate Kerls, und solche brauchte er gerade.

Denn die Geschütze waren Geschöpfe, die einer nicht minder gewissenhaften Abwartung bedurften als die Pferde. Die Bodenstücke der Rohre möglichst niedergeschraubt, standen die sechs Lafetten zärtlich aneinander geschmiegt, und seitwärts streckten je drei Protzen ihre langen, wuchtigen Deichseln zur Decke. Jedes Rohr hatte gewissermaßen einen Paß, wie ein Soldat; darin stand die Zahl der scharfen Schüsse, die aus jedem abgefeuert waren, verzeichnet, und daneben, wie der Verschluß sich dabei bewährt hatte.

Es konnte einen fast dauern, wenn die Kanonen aus dem reinlichen, trockenen Schuppen in das Unwetter hinausgezogen wurden. Aber es war damit wie mit den Pferden: man durfte nicht allzu glimpflich mit ihnen umgehen. Im Ernstfalle, wenn die »ultima ratio regis«Gravierung auf dem Geschützrohr. zur Anwendung kommen mußte, konnte 139 man nicht nach Regen oder Sonnenschein fragen. So gruben sich die sauberen, blaugestrichenen Räder in den Kot. Über den Mündungen konnte man die Kappen ja einstweilen noch lassen, solange nicht scharf geschossen wurde, aber auf den Verschluß fiel ungehindert Regen und Schnee, – gerade auf den Verschluß, den empfindlichsten und wichtigsten Teil des ganzen Geschützes.

Dann hieß es eben, nach dem Exerzieren die Sache desto peinlicher wieder in Stand setzen. Der Verschluß wurde herausgezogen, sorglich auf ein Wolltuch gebettet, auseinandergenommen und jeder einzelne Teil abgerieben und getrocknet. Dann glitt er leicht eingeölt wieder in sein Lager, und es hatte keine Gefahr mehr. Für die kotigen Räder genügten ein paar Eimer Wasser und einige derbe Bürsten.

Wenn schließlich die Farbe gar zu unscheinbar wurde, verwandelte sich der Geschützschuppen in eine Malerwerkstätte. Man band sich alte Säcke als Schürzen um und pinselte drauf los, – stehend, gebückt, knieend, ja, auf dem Rücken liegend, so daß zuweilen ein blauer Farbentropfen aufs Gesicht klexte, – die Holzteile blau, die Eisenteile schwarz.

Getrennt von den sechs Geschützen standen die übrigen Fahrzeuge der Batterie in dem großen Heergeräteschuppen. Wahrhaft seltsame Gefährte waren darunter, zuerst die Munitionswagen mit ihren plumpen Kästen, dann die Vorratswagen, von denen einer die Reserveräder mitführte, und vor allem die Feldschmiede, auf der sich ein richtiger Herd mit einem Blasebalg befand.

Diese Fahrzeuge waren zwar nicht so empfindlich wie die Kanonen, aber ihr gemessenes Teil Arbeit erheischten sie doch. Von Zeit zu Zeit wurden sie 140 von Staub gereinigt, und in einer bestimmten Frist mußten die Räder um ein Drittel gedreht werden, damit die Last der Wagen gehörig verteilt wurde. Zu diesem Zwecke waren die Radfelgen mit kleinen Nummern bezeichnet, und jede Drehung wurde in einem besonderen Buche vermerkt.

Genau und gründlich ging das alles vor sich, und Sergeant Wiegandt paßte jedem scharf auf die Finger, aber alle taten gern mit. Es war eine saubere Arbeit, und zuweilen konnte man sogar eins dazu singen. Dann ging sie noch einmal so flott von der Hand.

Und jedenfalls gab es viele Verrichtungen, die tausendmal mühevoller waren, von dem Scheuern der Kaserne, das keinem erspart blieb, und anderen Dingen ganz zu schweigen. –

Auch zum Wachtdienst wurden die Rekruten allmählich herangezogen. Allzu schwer nahm man es freilich nicht damit.

Das lag schon im Wesen der Truppengattung begründet. Allein konnte im Kriegsfalle die Feldartillerie niemals den Wachtdienst ausüben; ihre Mannschaften, die nur das Seitengewehr und den Revolver als Handwaffen führten, waren zu diesem Zwecke gar nicht genügend ausgerüstet, dafür mußte die Infanterie oder im Notfalle die Kavallerie sorgen. So war der Dienst für die wenigen Innenwachen leicht genug gelernt, und in der friedlichen Garnison handelte es sich gar nur um die Bewachung der staatlichen Gebäude.

Gleichwohl hatte Vogt das Gefühl von etwas Außerordentlichem, als er als der erste der Rekruten zur Wache kommandiert wurde.

Dagegen freuten sich die Kameraden vom alten 141 Jahrgang auf den faulen Tag. Sie nahmen es auch mit den Vorschriften nicht allzu genau und lachten den Rekruten aus, der mit großem Ernst jedem Punkte der Instruktion folgte und beim Schlafen auf der harten Pritsche das unbequeme Seitengewehr nicht ablegte, nicht einmal, nachdem der Offizier vom Ortsdienst bereits revidiert hatte.

Vogt hatte den Posten am hinteren Kasernentor inne, durch das der Weg seitwärts nach den Reitplätzen und geradeaus in den Wald am Bergabhang führte. Die beiden ersten Stunden von fünf bis sieben Uhr Nachmittags dünkten ihn reichlich langweilig und zwecklos. Nur die wenigen Leute, die auf den Reitplätzen gearbeitet hatten, waren an ihm vorübergegangen, als er abgelöst wurde; aber in der Nacht von elf bis ein Uhr spürte er doch den Druck der Verantwortlichkeit. Der Posten wurde dann ausgeschlossen und mußte außen zwei Seiten des riesigen, von den fiskalischen Gebäuden gebildeten Vierecks begehen.

Die Nacht war stockfinster. so daß Vogt den schmalen Wachtpfad nicht unterscheiden konnte. Aber er stolperte seine zwei Stunden tapfer an den Gebäuden auf und ab. Wenn man auch manchmal fehltrat, war das immer noch besser als stillzustehen. Denn dann hörte man allerlei wunderliche Geräusche, deren Ursprung man sich in der tiefen Finsternis der Nacht nicht zu erklären vermochte. Besonders der Wald war niemals ganz stumm, immer knackte oder raschelte etwas in den Bäumen und Büschen. Beim Rundgang dagegen überhörte man das alles über dem Schall der eigenen Schritte, und man kam an den Wohngebäuden vorüber, in denen die Kameraden schliefen, und an den Ställen, deren trüb erleuchtete Fenster kleine matthelle Vierecke in die Nacht zeichneten und aus denen man das 142 Rasseln der Halfterketten undeutlich vernahm. Von der Schmalseite des Rechtecks aus endlich konnte man die Chaussee übersehen. Ein leichter Wagen rollte von der Stadt auf der Straße heran. Vogt hörte den lässigen Trab des Pferdes auf dem festen Grund klingen und zwei Männerstimmen sich laut unterhalten. Das Licht der Wagenlaterne wurde immer blitzender und verschwand schließlich hinter der Hausecke. Der einsame Posten sah dem Fuhrwerk eine Zeitlang nach, dann kehrte er um und trabte seinen Weg wieder zurück.

Als Vogt aus der frischen, reinen Nachtluft in die Wachtstube trat, glaubte er zuerst in dem von altem Tabaksqualm und üblen Ausdünstungen erfüllten Raume ersticken zu müssen, aber am Ende schlief er trotz des harten Lagers ganz erträglich.

Um fünf Uhr zog er von neuem auf Posten. Es war noch dunkel, aber in der Küche und in den Ställen war es schon lebendig geworden. Am Tor gab es einen Aufenthalt: die abzulösende Wache war nirgends zu sehen. Der aufführende Gefreite fluchte und drohte ohne den Posten zur Wache zurückzukehren. Schließlich gab er den Bitten der beiden anderen Abgelösten nach und machte sich ans Suchen. In dem kleinen Schuppen, der zur Aufbewahrung der Hürden und Sprungbäume diente, schlief der Kanonier ruhig und fest. Er hatte sich mit dem Strohbehang eines Sprungbaumes warm zugedeckt, das Seitengewehr lag neben ihm. Der Gefreite stieß ihm den schweren Stiefel in die Seite und schimpfte über diese Frechheit, sich hinzulegen, wo jeden Augenblick ein Vorgesetzter vorbeikommen könnte.

Aber die Schildwache, ein langer, starker Kerl, erwiderte grob: »Halt's Maul, dummes Luder! Und laß dir nicht einfallen, mich zu melden! Sonst schlag' ich dir jeden Knochen einzeln kaput!« 143

Der Gefreite brummte etwas von »nicht zu weit treiben und nicht selber hineinfallen wollen«.

»Das kann ein' passieren, daß man's verschläft,« beharrte der Kanonier. Er gähnte ein paarmal, klopfte sich den Staub von der Uniform und sagte lachend zu Vogt: »Auf Posten nichts neues, du krummer Rekrutenhund! Höchstens, daß du nicht so albern gucken sollst!«

Damit schritt er gravitätisch hinter dem Gefreiten her.

Vogt stand nachdenklich neben seinem Schilderhaus. Das war ja eine recht miserable Zucht! Indessen – der Fall war ganz klar: wenn der Gefreite den Posten meldete, wurde der Kanonier selbstverständlich bestraft, streng sogar, aber die Rache ließ sicher nicht auf sich warten. Trotz der Knöpfe am Kragen war der Gefreite im allgemeinen kein Vorgesetzter des Kanoniers, da brauchte man nur einen beliebigen Streit vom Zaune zu brechen, einmal oder auch zehnmal, je nachdem man Lust hatte, – dann gab es eine Schlägerei, deren Kosten natürlich der Gefreite bezahlen mußte. Aber im Grunde hielten die Mannschaften viel zu eng zusammen und hüteten sich, einen Kameraden hineinzulegen, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ.

Vogt allerdings meinte für sich, die Kameradschaft hätte auch eine Grenze, und er würde es der Wache schon eingetränkt haben. Denn auf diese Art ging notwendigerweise auch der Respekt vor anderen, wichtigeren Vorschriften verloren. Schließlich war er gleichwohl froh, für seine Person nichts mit dieser Sache zu tun zu haben.

Dabei drängte sich ihm an diesem Morgen die Erinnerung an die Heimat besonders stark auf, seit langen Wochen zum ersten Male wieder. 144

Er gedachte der Gänge, die er daheim in dieser Zeit der ersten Frühlingstage mit dem Vater auf die Felder gemacht hatte, um die letzten Arbeiten vor der Frühjahrsbestellung auszuführen. In diesen frühen Morgenstunden liebkoste die junge, erstarkende Sonne die langverwaiste winterliche Erde mit zagenden Strahlenhänden, und die schwarzen, durch die Egge zu oberst gekehrten Schollen brachten dem treuen mütterlichen Gestirn ein dampfendes Rauchopfer dar. Die wärmere Sonne, die mildere Luft und die zum Empfangen bereite Erde verkündeten im Verein das Ende des trägen Winters und den Beginn eines neuen Jahres der Fruchtbarkeit, ein Evangelium der Arbeit und des Segens. Die drängenden Kräfte des Bodens strömten auch in die Menschen über, und wenn es in den kurzen, kalten Wintertagen geschienen hatte, als würde der Vater alt, so verjüngte ihn der Geruch der Frühlingserde stets von neuem.

Auch heute ging wieder eine wärmere Sonne auf, dort über der Stadt stieg die strahlende Scheibe empor, ein milder Wind bewegte leise die Birken und Buchen des kleinen Wäldchens, und talaufwärts dehnten sich zum Empfangen des Samens bereit die Ackerbreiten, – aber Franz Vogt stand beiseite, müßig, wie ihn dünkte, statt des Pfluges eine Stahlklinge in der Hand.

Beinahe kam er sich wie ein Fahnenflüchtiger vor, daß er nicht daheim bei der Arbeit war. Aber nein! Das Umgekehrte war der Fall! Gerade diese Gedanken liefen auf eine wahrhafte Fahnenflucht hinaus. War er jetzt nicht Soldat, berufen, diesen geliebten Heimatboden zu verteidigen, wenn ein Feind ihn bedrohte?

Wenn – überlegte er weiter. Am Ende tat es aber keiner. Dreißig Jahre lang war nun Frieden, 145 und es konnte ganz gut noch dreißig, auch hundert Jahre so bleiben. Was war das dann für eine endlose, verlorene Zeit! Andererseits freilich war kein Hindernis da, daß nicht schon morgen ein Krieg ausbrach. Unwahrscheinlich war es, soviel er wußte, unmöglich nicht. Zum Teufel, dann mußte eben der Krieg abgeschafft werden. – Aber wie?

Sein einfacher Verstand fand aus diesem Widerstreit keinen Ausweg. Er betrachtete tiefsinnig sein Schilderhaus und versäumte es fast, vor seinem Hauptmann zu präsentieren, der mit der Remonteabteilung auf den Reitplatz rückte.

Nach der Ablösung sah er in der Wachtstube drei Kameraden zu, die mit fürchterlich schmutzigen Karten einen Skat spielten. Plötzlich hatte er wachend eine Art Traumgesicht. Es war wie bei der Vereidigung, alle streckten den Arm zum Schwure empor. Da fingen die tätowierten Buchstaben auf Weises Arm, dort wo der Ärmel herabgeglitten war, mit einem Male zu glühen an, so hell und blank, als ob sie aus der Sonne herausgeschnitten wären. Brüderlichkeit! – Das war also doch kein leeres Wort, kein bloßes Gerede? Wenn alle Menschen, Deutsche, Franzosen, Russen und alle die anderen den Arm emporstreckten und schwuren, Brüder zu sein, dann – ja, dann gab es keinen Krieg mehr.

Aber würde das jemals geschehen?

Und abermals fand er sich in dem Wenn und Aber nicht zurecht. –

Die Kartenspieler bereiteten seinem Nachsinnen über das Rätsel der Brüderlichkeit ein überraschendes Ende; sie fingen über einen Stich wütend zu streiten an und warfen sich schließlich sehr unbrüderlich die Karten an die Köpfe. 146

Der Rekrut mußte die zerstreuten Blätter wieder auflesen, und als ein König und eine Zehn fehlten, kam es bei einem Haar zu einer Prügelei. Schließlich verbat sich der wachthabende Unteroffizier grob den Lärm.

Von elf bis eins stand Vogt zum letzten Male an diesem Wachttage Posten. Anfangs galt es scharf aufzupassen, um keine Ehrenerweisung zu verabsäumen, wenn die vielen Offiziere von den Reitplätzen in die Kaserne zurückkehrten, gegen Mittag aber wurde es wieder ganz still; das Tor lag einsam da, und der Rekrut hätte wieder Muße gehabt, seinen Gedanken nachzuhängen.

Er fühlte sich ein wenig übernächtig. Deshalb ließen ihm auch die Zweifel und Erwägungen vom Morgen Ruhe. Er stand in einer bequemen Stellung am Schilderhaus und ließ sich die warme Mittagssonne aufs Fell brennen. Ein lauer Wind wehte vom Wäldchen herüber und fächelte ihm die Stirn, talaufwärts zankte sich ein Krähenvolk in den rauhen Furchen des Ackers.

Der junge Soldat war sich dessen, was er fühlte und sah, kaum bewußt, nur das eine empfand er, daß ihn auch in diesem Frühling die junge Kraft der Erde neu belebend durchdrang und ihn mit neuen, starken Banden an die Heimat fesselte. – –

Nach der Rückkehr vom Wachtdienst fand Vogt den Kameraden Klitzing merkwürdig bedrückt vor.

Zögernd berichtete der Schreiber, es hätte am Tage vorher seinetwegen recht alberne Anstände gegeben.

»Siehst du, Franz,« klagte er, »ohne dich geht's eben nicht. Wenn du beim Batteriefußexerzieren mein 147 Nebenmann bist wie gewöhnlich, dann weiß ich gleich, wohin ich gehöre. Aber gestern fehltest du, und da war ich rein wie vernagelt. Das Exerzieren hat meinetwegen fast eine Stunde länger gedauert.«

»Nun, dafür bin ich doch nun wieder da,« meinte Vogt.

Klitzing fuhr fort: »Schon gut, aber heute früh war es wieder so, und da hat nach dem Dienst der Vizewachtmeister gesagt, so schlappe Kerls wie ich, die müßten auch von den Leuten selbst gezogen werden, und da –«

Hier verstummte er, und es ließ sich auch nichts weiter aus ihm herausbringen, so daß Vogt fast zornig über dieses Mißtrauen wurde.

Schließlich trat der dicke Brauer, der aber eigentlich gar nicht mehr dick war, hinzu und sagte: »Na, Landsmann, bist du heute schwer von Begriffen! Schäften wollen ihn die Alten, besonders die alten Fahrer, – verhauen, wegen dem bißchen Nachexerzieren!«

Vogt mußte über das gute Herz des Kameraden lächeln. Truchseß, der Bequemste von allen, dessen Zeug nach jedem Dienst von Schweiß so naß war, als wäre er aus dem Wasser gezogen, der Brauer sagte: »– wegen dem bißchen Nachexerzieren!«

Aber noch ehe er Truchseß ein Wort erwidern konnte, fing Klitzing von neuem an: »Franz, weißt du, menge du dich nur nicht da hinein! Wenn sie's einmal vorhaben, dann kannst du auch nichts dagegen tun. Am besten ist's schon, ich lasse mir das ruhig gefallen.«

Und mit einer leisen Bitterkeit setzte er hinzu: »Höchstens können sie mich ja totschlagen.« 148

Aber Vogt fuhr auf: »Red' nicht solchen Unsinn! Und sieh mal, ich weiß zwar noch nicht, was man da machen soll, aber so ohne weiteres läuft die Sache nicht ab. Das versichere ich dir. Hab' nur keine Angst, ich find' schon einen Ausweg.«

Er überlegte hin und her, wie er den Freund vor der Roheit der alten Leute bewahren könnte.

Sollte er Sergeant Wiegandt bitten, einmal einen Abend nicht zu seiner Frieda zu gehen? Wenn er ihm, natürlich nicht dienstlich, sondern gewissermaßen vertraulich, von dem Vorhaben der Alten etwas mitteilte, blieb Wiegandt sicher zu Hause. Aber dagegen regte sich das kameradschaftliche Solidaritätsgefühl in ihm.

Allerdings: waren das überhaupt noch Kameraden, die da mit dem armen, schwächlichen Menschen diese Roheit vorhatten? – Gewiß nicht.

Gleichwohl verwarf er diesen Plan.

Am Ende entschloß er sich, rücksichtslos für Klitzing einzutreten. Wenn er die Kerls recht keck und frech herausforderte, wandten sie sich schließlich hauptsächlich gegen ihn, und er würde sich schon wehren. Mindestens vertrug er eher einen derben Puff als der Schreiber. –

Der Abend kam heran und Sergeant Wiegandt ging wie immer zum Stelldichein. Über Stube IX lag ein erwartungsvolles Schweigen. Die Rekruten putzten ihr Zeug und blickten ab und zu verlegen nach der Ecke, wo sich Vogt dicht zu Klitzing gesetzt hatte. Der Brauer hatte sich auch dazu gesellt.

Bis kurz vor der Zeit des Niederlegens blieb alles still, dann aber kamen schwere, sporenklirrende Tritte von der großen Stube VII her über den Korridor, und acht bis zehn alte Fahrer schoben sich herein, mit 149 Klopfpeitschen, Bauchgurten und Trensenzügeln bewaffnet.

Vogt stellte sich breit vor Klitzing hin.

»Geh' weg, du!« hieß es.

»Nein!« antwortete Vogt.

»Wetten, daß du weggehst?«

»Das wollen wir sehen!«

Im Nu hatten ihn ein Dutzend Hände gepackt, aber der starke, stämmige Kerl wehrte sich tapfer. Mit den Fäusten und mit den Füßen teilte er kräftige Stöße aus, die die Angreifer immer wütender machten. Schließlich stürzte er zu Boden und riß im Falle ein paar seiner Gegner mit sich. Als ob sie darauf gewartet hätten, warfen sich nun auch die anderen auf ihn, und die Hiebe fielen hageldicht auf ihn hernieder.

Klitzing stand, am ganzen Leibe zitternd, wie gelähmt dabei. Der Brauer indessen zog seinen runden Kopf wie ein anstürmender Stier ein und drang, den Schädel als Sturmbock benutzend, mitten in den dichten Haufen. Nun waren es zwei gegen zehn. Die Überzahl war noch immer viel zu groß; auch der Brauer wälzte sich bald am Boden. Das Ringen verursachte einen gewaltigen Lärm, aber während sonst bei dem geringsten Anlaß ein Unteroffizier gelaufen kam und Ruhe gebot, schienen heute alle abwesend zu sein.

Mit einem gewaltigen Ruck gelang es Vogt, zwei der Widersacher von sich abzuschütteln und sich halb aufzurichten; gerade sah er Weise ins Gesicht, der, die Hände in den Hosentaschen, dem Gewühl zusah und ein wenig dabei lachte. Da schrie er ihm keuchend ins Gesicht: »Das nennst du Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Lauskerl?! – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!!« 150

Und er schlug eine grelle, höhnische Lache an.

Aber wie gerufen durch diese Worte trat Wolf in die Tür, der hagere, stets finster blickende Kanonier von der gegenüberliegenden Stube. Sofort hatte er übersehen, worum es sich bei dieser Balgerei handelte. Das hatte ja nach der Rede des Vizewachtmeisters gar nicht fehlen können! Es war eine von den Mißhandlungen, die er so glühend haßte, schlimmer noch und tausendmal feiger als ein Knuff, den ein Vorgesetzter dem Soldaten auf offenem Exerzierplatz verabreichte.

Es schien ihm, als sei er mit jenen drei Worten gerufen worden.

»Hier bin ich!« rief er und brachte mit seinen zähen, sehnigen Armen eine wirksame Hilfe.

Aber auch die Alten bekamen Zuzug. Der Streit wurde immer wilder, und die Ringenden umklammerten sich mit immer größerer Wut. Das laute Schreien hatte aufgehört, man vernahm nur mehr das Keuchen der Kämpfenden, das Knirschen der Zähne, den dumpfen Ton der niedersausenden Hiebe und manchmal einen grimmigen Fluch.

Vogt blutete bereits aus einer Stirnwunde; dafür biß er seinem Gegner in die Hand, daß er mit einem Wehschrei zurückfuhr. Aber nun klatschte ihm abermals die schwere Schnalle eines Bauchgurts mitten ins Gesicht. Es funkelte ihm vor den Augen, er taumelte von der Wucht des Schlages und empfand wie ein gereiztes Tier nur noch die eine Gier, sich zu rächen, um sich zu schlagen, zu töten. Ein blankes Seitengewehr, das vom Tische herabgeglitten war, lag neben ihm. Er faßte es und hieb und stach damit blindwütend darauf los. 151

Die Rekruten schrieen auf, als sie diese Wendung sahen, aber keiner wagte es, dem rasenden Menschen in den Arm zu fallen.

Da kam Inoslawski auf einen Einfall.

»Pan Wachtmeestärrr!« brüllte er von der Tür her.

Und im Augenblick war der wildverschlungene Knäuel entwirrt. Die Alten waren aus der Stube IX verschwunden, und nur eine ungeheuere Staubwolke verriet, was sich ereignet hatte.

»Pan Wachtmeestärrr« kam natürlich gar nicht. Aber es war auch sehr gut so: das Blut lief Vogt dick über die beiden Augen, und nun bekam auch noch Klitzing, als er aus seiner Erstarrung erwachte, eine Art Krampfanfall. Er warf sich weinend und schreiend vor dem tapferen Kameraden nieder, umfaßte seine Kniee und ließ sich durch kein Zureden beruhigen.

Die Rekruten standen scheu und ratlos um die beiden herum. Der Brauer verschnaufte sich auf seinem Schemel und wischte sich den Schweiß vom Gesicht.

Listing, der ehemalige Vagabund, war noch der vernünftigste. Auf der Wanderschaft gab es auch zuweilen so eine Schlägerei oder auch ein Unglück, – da mußte man sich zu helfen wissen. Er lief zur Wasserleitung und kam mit einem Kruge voll frischen Wassers zurück. Darein tauchte er sein Handtuch, – er hatte es trotz der abgelaufenen Gebrauchswoche nur erst wenig benutzt, – und wischte dem Verletzten das Gesicht ab.

Die Wunde bestand in einem derben Riß dicht über der Nasenwurzel. Listing wusch sie aus und legte nachher Vogt einen ganz erträglichen Verband um den Kopf an. Ein wenig dick waren die Binden geraten, weil zwei Handtücher übereinander gewickelt 152 waren, und sie sahen fast wie ein Turban aus, aber sie stillten die Blutung und hielten fest.

Beim Verbinden flüsterte Listing Vogt zu: »Du, Franz, ich hab' immer gedacht, auf der Walze verlernt man die Feigheit ganz und gar, aber 's ist nicht wahr. Heute hab' ich's gemerkt.« –

Über den Hof herüber schallte der Zapfenstreich.

Es war die höchste Zeit, sich auf den Schlafsaal zu scheren. Der Unteroffizier vom Dienst trat in die Stube und trieb zur Eile.

Plötzlich sah er den Verwundeten.

»Was ist da losgewesen?« fragte er.

Listing log flott: »Die Schlafsaaltreppe ist er hinuntergefallen, Herr Unteroffizier. Vorhin, als der Wind die Lampe ausgeblasen hatte.«

»So?« meinte der Diensthabende. »Ist's schlimm?«

»Nein, Herr Unteroffizier,« antwortete Vogt.

»Dann Trab auf den Schlafsaal!« –

Vogt und Klitzing verließen als letzte die Stube IX. Klitzing ging schweigend neben dem Verwundeten her und sah schüchtern zu ihm auf.

»Tut es sehr weh, Franz?« fragte er auf der Treppe.

Vogt fing zögernd an: »Na, weißt du –,« aber als er die traurigen Augen des Freundes sah, fuhr er fort: »Ach nein, es ist garnicht so schlimm.«

Jetzt erst fiel ihm wieder ein, woraus der ganze Streit entstanden war, und er meinte scherzend: »Aber siehst du, verhauen haben sie dich doch nicht.«

Dem Schreiber standen die Tränen in den Augen.

»Franz, was bist du für ein guter, guter Kerl!« sprach er leise. »Ich weiß nicht, wie ich dir das 153 danken soll, aber verlaß dich darauf, ich dank' dir's schon einmal!«

Sie waren auf dem Vorflur angekommen, wo der Feuereimer hing. Da schlang plötzlich Klitzing die Arme um die Schultern Vogts und küßte den Kameraden.

Und Vogt drückte den schmächtigen Schreiber fest an sich und erwiderte: »Heinrich, so mach' doch kein Aufhebens davon! Du bist doch mein lieber, lieber Freund!« –

Auf dem Schlafsaal flüsterte ihnen Listing zu, die Alten würden sich hüten, noch einmal anzufangen; Wolf hätte ihnen gesagt, er würde sie dann ohne weiteres melden, und der wäre dafür bekannt, daß er in solchen Sachen auch wirklich Ernst machte.

Als die beiden Freunde schon in ihren Betten lagen, kam der lange Mensch zu ihrer Ecke hin.

»Wie geht es Ihnen?« fragte er Vogt.

»Ich danke, gut,« antwortete der.

»Das freut mich von Herzen.«

Er streckte dem Rekruten die Hand hin, und die beiden Männer tauschten einen herzhaften Druck aus.

»Gute Nacht, Vogt!« sagte der Hagere dabei.

Und Vogt antwortete: »Gute Nacht, Wolf!«

Er schlief nach wenigen Minuten tief und fest, kaum etwas unruhiger als sonst, – seine derbe Natur hielt so einen kleinen Aderlaß ganz gut aus. Aber Klitzing lag noch lange wach.

Der Mond schien hell auf das Antlitz des schlafenden Kameraden. Der Verband hielt das Licht von den geschlossenen Augen ab und warf einen Schatten bis fast an den Mund.

Der Schreiber sah lange mit strahlenden Augen nach dem Schläfer hinüber. 154

Der arme Teufel, dem das Leben sich nur grau und öde gezeigt hatte, der nie das Rosenrot der Freude zu Gesicht bekommen hatte, kam sich namenlos reich und glücklich vor.

Es hatte ihn einer lieb. 155

 

 


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