Franz Adam Beyerlein
Jena oder Sedan?
Franz Adam Beyerlein

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I.

  »Muß i denn, muß i denn
zum Städtele 'naus –«
          (Schwäbische Volksweise.)

Franz Vogt war auf dem Heimwege. Die Wäschestücke und die Stiefel, die er in der Stadt eingekauft hatte, trug er in einem verschnürten Paket. Er war diese Straße schon unzählige Male gegangen, aber jetzt, da ein Abschiednehmen bevorstand, wollte ihm die alte, vertraute Umgebung doch einer erneuten Betrachtung wert erscheinen.

Es war freilich kein Abschied, wie wenn einer nach Amerika auswanderte; im höchsten Falle waren es die zwei Jahre Militärdienstzeit, die er fern sein würde, und dazwischen gab es sogar wahrscheinlich ein paarmal Urlaub, es war auch nicht das erste Mal, daß er aus dem Dorfe herauskam, – aber ein eigen Ding blieb es gleichwohl um dieses Fortgehen.

Einmal, – daß er mußte.

Franz Vogt zerbrach sich nicht sonderlich den Kopf darüber, warum und zu welchem Zwecke dieser Zwang bestand. Er rechnete so: Deutschland hatte Feinde – namentlich waren das die Franzosen und die Russen –, die aus irgend einem Grunde irgendwann einmal Krieg anfangen konnten, und da hieß es natürlich für Deutschland auf der Hut sein; dazu brauchte man die Soldaten. Außerdem hatte es etwas ungemein Tröstliches, daß dieses gebieterische Muß vor keinem 2 Halt machte; wie er waren auch die Söhne der beiden reichsten Bauern aus dem Dorfe einberufen, – diese beiden zu den Ulanen, er aber zur Feldartillerie.

Aber dann war das, was nach der Einberufung kam, etwas so ganz anderes, ein Leben, so verschieden von dem bisherigen, daß man schon ein wenig bange sein durfte. Denn die Urlauber, mit denen er zuweilen zusammengesessen hatte, waren nie fertig geworden, wenn sie von den Schimpfereien und Püffen, die man beim Militär abbekäme, erzählten; indessen das eine war ebenso sicher: der Kopf konnte ihm da auch nicht abgerissen werden. Er war kräftig und gewandt, zumal im Turnen war ihm keiner über gewesen, – man mußte nur die Sache an sich herankommen lassen. Vielleicht war es gar nicht so schlimm.

Der junge Bursche schob den Hut aus der Stirn, pfiff sich eins und schritt kräftiger voran.

Für einen Oktobertag war es reichlich warm. Das breite, staubgraue Band der Landstraße, das da vor ihm den Berg hinaufführte, lag hell von der Sonne beschienen da, wie nur je im Juli, wenn das Getreide zu beiden Seiten hoch und gelbreif in den Halmen stand. Jetzt breiteten sich die Stoppeln in lichten Streifen und hoben sich von den dunklen Äckern ab, die bereits für eine neue Saat gepflügt waren. Weiterhin in der Niederung zur Rechten schlossen sich grüne Wiesen an die Feldmark an, von der schwarzen Linie eines Forstes begrenzt.

Vor diesen Wäldern, zuweilen in dem dichten Grün untertauchend, waren die geraden Striche einer Eisenbahn gezogen. Man sah die weiße Rauchwolke einer Lokomotive erst über den Bäumen hastig vorwärts dringen, dann glitt der Zug auf die freiliegende Schienenstrecke heraus. 3

Franz Vogt schalt sich, daß ihm sogleich wieder der Gedanke an morgen durch den Sinn flog. Er drehte sich um: da dehnte sich eine andere Linie, die in einem Bogen derjenigen zustrebte, auf der eben die Wagenreihe glatt und geräuschlos wie ein Spielzeug hineilte. Auf dieser anderen Linie sollte er morgen nach dem Orte fahren, an den er für zwei Jahre gebunden sein würde.

Fast war er schon wieder bei dem Gedanken angelangt: wie wird mir's da ergehen? – da hob er den Kopf mit einem Ruck in die Höhe und schüttelte die törichte Sorge ab.

Die Landstraße lief jetzt auf dem Kamm des Hügelrückens hin, so daß auch nach links hin ein Ausblick sich auftat. Von einer Talmulde umrahmt, die mit ihrem Buschwerk einen hübschen Vordergrund abgab, zeigte sich ein malerisches Bild. Jenseits des Flusses, der von einer auf derben Pfeilern ruhenden, etwas schwerfälligen Brücke überspannt war, wuchs der Schloßberg der Kreisstadt in die Höhe, von der Markgrafenburg und dem alten Bischofspalaste gekrönt; im klaren Herbstlicht hoben sich die Umrisse der Gebäude scharf von den großen Flächen des Höhenzugs ab, der hinter ihnen anstieg.

Franz Vogt empfand unwillkürlich in all seiner Unbildung die Schönheit dieser Landschaft. Dieser kleine Weltausschnitt in der grün umrandeten Talsenkung war ihm allmählich die liebste Stelle der ganzen heimatlichen Umgebung geworden, die beides, die einfachkräftigen Reize eines gesegneten Ackergeländes und einer ruhigen, hügeligen Waldlandschaft, umfaßte. Er verknüpfte mit diesen stolzen Bauten jenseits des Flusses eine etwas geheimnisvolle, fast märchenhafte Vorstellung von vergangenem Glanze und entsann sich 4 genau der Freude, die er empfunden hatte, als er von der Lehrzeit bei dem Vatersbruder im Gebirge oben heimkehrend, die Burg wieder hinter dem verdeckenden Berge sich vorschieben sah.

Dabei haftete dem dicken, plumpen, runden Bischofsturm an der linken Ecke des Schlosses eine ganz besondere Anziehungskraft an, eine viel größere als der eigentlichen, in einer klaren Frühgotik erbauten Burg mit den bunten Wandgemälden, die er als Junge unter der Führung des Lehrers sich hatte anschauen dürfen. Es waren prächtige Bilder; Turniere waren darauf dargestellt, die von Rittern in glänzenden Rüstungen ausgefochten wurden und Kampfszenen, wie die Sorben sich die Köpfe an den Burgmauern einrannten und beim Sturm von blonden, schönen Frauen mit siedendem Pech begossen wurden, – aber der Bischofsturm hatte anderthalb Meter dicke Mauern, und dann war das Gericht darin mitsamt dem Amtsgefängnis, in das einmal ein Schulkamerad eingesperrt worden war, weil er einen Strohfeimen aus Dummheit in Brand gesteckt hatte.

Jetzt ging es Vogt natürlich angesichts der Burg wieder genau so wie bei allem, an dem er heute vorüberkam: er mußte denken, das siehst du nun morgen auf eine gehörige Zeit zum letzten Male; wann wirst du das wohl wiedersehen, und wie wird dir's dann zu Mute sein?

Diesmal fiel es ihm schwerer, den Kopf in die Höhe zu recken, und er ging sinnend weiter, bis er da, wo die Landstraße sich teilte, bei dem väterlichen Hause anlangte. Vor den vier muldenartig abgetretenen Sandsteinstufen, die zum Eingange hinaufführten, blieb er stehen, und auch dieses Haus, das ihm vom hintersten Kellerwinkel bis zum obersten Ziegel des Firstes 5 vertraut war, an dessen Mauern er jeden Riß kannte und jeden Fleck, von dem er als Knabe den Bewurf abgehämmert hatte, und den er als junger Bursche hatte frisch mit Kalk verstreichen müssen, – auch dieses Haus erschien ihm jetzt als etwas Besonderes.

Zum ersten Male fiel es ihm auf, wie alles daran unverändert geblieben war, während ringsum alles sich verwandelt hatte. Vor Jahren, als noch Wegegelder erhoben wurden, war es als Königliche Chausseegeldereinnahme Staatseigentum gewesen, und der Vater, der letzte Einnehmer, hatte es dem Fiskus abgekauft. Fast zwei Jahrzehnte waren verflossen, seit der gelbweiße Schlagbaum zum letzten Male abends heruntergelassen worden war, aber das Einnehmerhaus war dasselbe geblieben. Die kleine Klappe im Fenster des ehemaligen Dienstzimmers ließ sich noch immer zurückschlagen, und der Glaser hatte mit seiner großen Scheibe wieder abziehen müssen, die er an die Stelle der Klappe hatte einsetzen wollen. Und die lange Stange mit dem auf einen runden Draht gereihten Beutel, der den Fuhrleuten durch das Fenster hingereicht wurde, damit sie die fälligen Pfennige hineinwerfen konnten, ohne aus ihrer Schoßkelle zu klettern, stand noch immer in der Ecke derselben Stube, nur der rotweiß gestreifte Zitz des Beutels war dünn wie Zunder geworden. Sogar den alten Schlagbaum hatte der Vater hinten im Garten in dem vorgeschriebenen schiefen Winkel neu aufgerichtet; ein Starkasten war auf das obere Ende genagelt, der jeden Frühling von einem Starenpaar bezogen wurde.

Und der Vater – war er nicht im Grunde auch derselbe geblieben? Nur daß der Bart, den er wie der alte Kaiser Wilhelm mit ausrasiertem Kinn zu tragen pflegte, und das Haupthaar ergraut war, – 6 das Haupthaar, das sich in einem immer spärlicheren Kranze nach dem Hinterkopfe zurückzog.

Im übrigen hielt sich der Greis, wie er nun in die Tür trat, genau noch so straff und aufrecht wie ehemals, die Augen blickten unter den struppigen Brauen noch genau so finster und doch so gut hervor, und die tiefe Stimme klang noch genau so militärisch kurz und barsch.

»Na, Junge, du stehst ja ganz verdattert da!« rief er. »Hm? Wohl Angst in den Hosen von wegen morgen? Siehst du, das kommt davon, daß deine Mutter 'n Frauenzimmer war. Na komm man rein!«

Er ging dem Sohne voran in die Stube und ließ sich die Einkäufe vorweisen.

»Teuer, teuer, das bißchen Gelumpe!« brummte er. Aber am Ende gab er sich zufrieden, da Franz von dem ausgesetzten Gelde sogar noch ein gut Teil erübrigt hatte.

»Das behalt dir man!« sagte der Vater. »Denn weißt du, für's erste gibt's keinen Zuschuß von mir. Später, ab und zu ein paar Groschen, ja. Aber erst lern' du dich mal gründlich nach der Decke strecken! Das tut immer gut. Ich hab' auch auskommen müssen mit meinem Sold, immer, vom ersten bis zum fünfzehnten Jahre, – also! Und nun geh' hinauf und pack' deine Sachen, daß hernach alles parat ist!«

Franz stieg die Treppe hinauf in seine Dachstube und nahm den Zettel vor, auf dem ihm der Vater aufgeschrieben hatte, was er zum Militär mitnehmen sollte: Wäsche vor allem, die neuen Stiefel, Flick- und Putzzeug und einiges Handwerkszeug. Als alles in dem kleinen Kistchen untergebracht war, ließ sich der Deckel gerade noch darüber schieben. Dann saß 7 der junge Bursche nachdenkend auf seinem Bett und sah in den hereinbrechenden Abend hinaus.

Was würde ihm die Zukunft bringen? – – –

Beim Abendbrot ging es um kein Haar reichlicher zu, als es die Gewohnheit des Haushalts war. Nur sah Franz mit Staunen, daß der Vater gleich zwei Rauchwürste auf einmal anschnitt.

»Morgen, Junge,« sagte er, als er dem Sohne die letzte Scheibe Brot herunterschnitt, »morgen gibt's Kommißbrot. Ein gutes, nahrhaftes Brot! Wird dir schon schmecken!«

Und auf die beiden langen, dicken Würste weisend, fuhr er fort: »Und der Wurstrest da – geht er noch in die Kiste? – Ja? – Kannst ihn einpacken.« –

Die Männer hatten von flachen Holztellern gegessen und Brot und Wurst mit den Taschenmessern zerteilt. So brauchte man bloß die Brosamen vom Tisch zu fegen und die Teller in die Küche zu tragen.

An jedem Morgen kam dann eine alte Frau, besorgte die Weiberarbeit im Haus und bereitete das Mittagbrot. Und jeden Nachmittag wartete der Chausseegeldereinnehmer mit immer neuer Ungeduld auf den Augenblick, in dem die Alte die Tür hinter sich zumachte. Dann war ihm wohler.

Als Franz die Rauchwürste in die Kiste gestopft hatte und die Treppe wieder herunterkam, fand er den Vater mit der Mütze in der Hand zum Ausgehen fertig.

»Komm, Junge!« sprach er. »Wir wollen uns noch etwas die Beine vertreten.«

Sie gingen am Dorfe vorüber und wanderten eine Zeitlang schweigend unter dem sternfunkelnden Himmel.

Dann begann der Vater schwerfälliger und 8 weniger entschieden, als es sonst seine Art war, zu reden: »Siehst du, Junge, mit morgen wirst du gewissermaßen auf eigene Füße gestellt, wirst verantwortlich für dich selbst. Denn das ist so: vor dem Dienen ist man ein dummer Junge, darnach ein Mann. Soll man ein Mann geworden sein! Dazu brauchst du etwas, nach dem du dich richten kannst. Und da sage ich dir: du mußt dir in dir selber eine Richtschnur, ein Gesetz schaffen, nach dem du lebst! Das andere, das in Paragraphen geschrieben ist, das ist nur ein Notbehelf. Frag' du dich nur stets selbst: ist das anständig, ist das honett, was du da tust? Wenn ja, dann immer los! Und wenn du mal gar nicht weißt, wie oder was? – dann denke getrost: kannst du das deinem Vater erzählen und kannst du ihm dabei ruhig in die Augen sehen?«

Er trug eine wahrhafte Bergeslast sorgender Wünsche auf dem Herzen für diesen Sohn, das einzige Liebe, das ihm geblieben war, aber er brach ab. Er fühlte es selbst, daß er nicht imstande war, der Erfahrungsweisheit, die er in den sechzig Jahren seines Lebens gesammelt hatte, einen klaren Ausdruck zu geben. Er lebte nach diesen Grundsätzen, und das System, das er sich zurecht gelegt hatte, war ihm in Fleisch und Blut übergegangen, aber die rechten Worte wollten sich nicht fügen, daß er es seinem Sohn hätte mit auf den Weg geben können. –

Friedrich August Vogt war 1840 zugleich mit einer Zwillingsschwester als uneheliches Kind einer Magd geboren worden. Die Mutter verschwand eines Tages spurlos und blieb verschollen. Wahrscheinlich war sie in irgend einem Straßengraben gestorben. Der Kinder nahm sich das Waisenhaus an. Vergleiche anzustellen waren die Kleinen nicht in der Lage; so 9 wuchsen sie auch in der mageren, strengen Zucht der Hauseltern kräftig heran, ein wenig gedrückt und schweigsam infolge des immerwährenden Vorhaltens der erwiesenen Wohltaten, und beide nach dem Verlassen des Waisenhauses von dem lebhaften Bestreben erfüllt, durch eigene Bravheit den Makel ihrer Geburt wettzumachen, den ihnen das pharisäische Vorurteil jener Zeit beständig vorwarf. Das Mädchen ging in Dienst, der Knabe wurde Soldat und erreichte, allmählich auf der Stufenleiter der Grade vorrückend, den Rang eines Feldwebels. Bei der Fasanerie von Prim erkämpfte er sich die silberne Tapferkeitsmedaille, bei St. Privat das Eiserne Kreuz. Streng und gerecht als Vorgesetzter erzog er sich selbst am allerstrengsten und sorgte, nach außen ein bärbeißiges Wesen zur Schau tragend, unablässig und fast väterlich für seine Untergebenen; das ganze Streben langer fünfzehn Jahre richtete er auf den einzigen Stolz, untadelig dazustehen, nicht nur vor den Übergeordneten – das war unter Umständen nicht gar so viel wert –, sondern auch vor sich selbst.

Die Kameraden mochten den stillen, ernsten Mann nicht leiden, und ebenso fühlte sich Vogt nicht zu ihrer leichtlebigen Art hingezogen, wie er denn auch an den Frauenzimmern nicht das geringste Begehrenswerte finden konnte. Er blieb für sich, freundlos und unbeweibt; aber selber ohne Liebe aufgewachsen, empfand er doch ein überquellendes Bedürfnis, in den so starren Schranken des Dienstes ein wenn auch winziges Maß von dankbarer Anhänglichkeit sich zu erwerben, und er fühlte sich reichlich entschädigt, wenn ein Reservist ihm bei der Entlassung besonders kräftig die Hand drückte und ihm mit ungeschickten Worten einen herzlichen Dank sagte. Mancher Taugenichts 10 war darunter, den er einstmals vor gefährlichen Torheiten und den notwendig folgenden harten Strafen bewahrt hatte, nicht mit großen Worten, sondern gütlich zuredend durch die klare Weisheit, daß man sich in einmal bestehende Verhältnisse nach Möglichkeit schicken müsse. Als er dann den Soldatenrock auszog, hatte er sich nichts vorzuwerfen, keine Versäumnis und keine Überschreitung, keine Ungerechtigkeit und nicht die geringste Bestechlichkeit; er dürfte mit sich zufrieden sein.

Auf Grund seines Zivilversorgungsscheines erhielt er die Chausseegeldereinnehmerstelle und konnte nun endlich einen sehnlichen Wunsch verwirklichen, dessen Erfüllung die Verhältnisse bisher unmöglich gemacht hatten: er nahm seine Schwester ins Haus.

Das hatte ihm immer als etwas ganz Wunderherrliches vorgeschwebt, diese heiß geliebte Schwester bei sich zu haben, sie brüderlich zu stützen und auch selber – ein wenig – von ihr geliebt und gehegt zu werden. Aber er hatte sich nicht lange ihrer geschwisterlichen Fürsorge zu erfreuen. Sie ließ ihn nach wenigen Jahren allein, nachdem es ihr mit Mühe gelungen war, in das Leben des ernsten Bruders eine Spur von Helligkeit hineinzutragen. Sie sah voraus, wie er immer trüber und trüber werden würde, und deshalb fügte sie noch auf dem Krankenlager seine Hände in die eines Mädchens, das, nur um einige Jahre jünger als sie selber, sich ihr freundschaftlich angeschlossen hatte. Sie verlobte damit ein Paar, das nie an eine Verbindung gedacht hatte, aber die beiden ehrten den Willen der Toten. Sie heirateten und hatten gut daran getan und wurden die allerglücklichsten Menschen, als ihnen ein Sohn geboren 11

Aber August Vogt war zur Einsamkeit vorbestimmt; auch die Frau starb ihm, als der Knabe eben schulpflichtig geworden war.

Bald darauf fiel ihm einiges Feld als Vatererbe seines Weibes zu, und wie fast gleichzeitig die Chausseegeldereinnahmen in Wegfall kamen, quittierte er den Dienst, kaufte dem Fiskus um ein Billiges das überflüssige Häuschen ab und wurde Bauer.

Das wurde ein neuer Stolz, daß dieser Acker, den er mit seinem Schweiße düngte, die vielfältigste Frucht trug, daß dieses Vieh, das er von keiner fremden Hand anrühren ließ, am blanksten und rundesten glänzte.

Einsam, ohne jegliche Beihilfe, schaltete er in Haus und Feld; es schien, als wollte er mit dem Schicksal trotzen, durch das ihm die zwei Menschen, die er so sehr geliebt hatte, entrissen worden waren. Da er sie nicht mehr lieb hatte, blieb er lieber ganz allein, – den kleinen Burschen natürlich ausgenommen, der ihm auf Schritt und Tritt nachlief und, fast so ernsthaft dreinschauend wie der Vater, mit seinen kleinen Geräten die Verrichtungen des Großen nachahmte. Mit den Jahren wurde ihm das Kind zu einem immer tüchtigeren Helfer, und am Ende wandten sie als gleichwerte Kameraden ihren ganzen Fleiß der Erde zu, von deren Früchten sie sich fast ausschließlich nährten, gleichwie ihnen das Vieh im eigenen Stalle die notwendige Ergänzung der Nahrung bot.

Der Sohn artete dem Vater nach. Sie spannen sich zu zweit in ihrem Hause ein und wetteiferten miteinander im rüstigen Zufassen, ohne daß dabei der Sechzigjährige dem Jungen mit seinen frischen zwanzig Jahren unterlegen wäre. Wenn der Sohn schon müde 12 die Arme sinken ließ, waren die Sehnen des Alten noch unermüdet, und dann konnte er sogar lachen, ein behagliches, breites Lachen voller Glück und Zufriedenheit.

An den Abenden saßen sie ausruhend einander gegenüber. Zuweilen fragte der Junge den Alten in der abenteuersüchtigen Neugier der Jugend nach den Kriegserlebnissen, an die die Ordenszeichen zu unterst im Geldkasten gemahnten; aber der Vater gab ungern und karg Auskunft.

Er besann sich, an diesen Tagen von St. Privat war er von Roncourt her gegen das brennende Dorf durch ein Haferfeld vorgestürmt, ein Feld prachtvollen reifen Hafers; neben ihm war einer gefallen, ein kleiner, frischer Tambour, er hatte eine Kugel durch den Hals und raufte im Sterben die gelben Ähren aus und hielt ein Büschel in der toten Hand, die Rispen in rotes Blut getaucht, wie ein Feldzeichen, eine Fahne. – –

O ja, er war immer noch stolz auf seine Medaille und sein Kreuz, indessen eine Art Zwiespalt ließ sich nicht wegbringen; eine immer mehr sich verbreiternde Kluft trennte ihn von dieser ruhmvollen Vergangenheit, und es bereitete ihm unwillkürlich Unbehagen, in seinem Leben der schaffenden Arbeit einer Zeit zu gedenken, die im letzten Grunde dem Kampf und der Vernichtung geweiht gewesen war.

Aus diesem Gefühl heraus hatte er auch den anfänglichen Plan, den Knaben des Vaters Laufbahn einschlagen zu lassen, verworfen. Trotz der Vergünstigungen, die ihm gewährt waren, gab er ihn nicht auf die Unteroffizierschule. Es hatte ja keine Not: der Junge konnte sich als Soldat immer noch entschließen weiter zu dienen. 13

Für den Augenblick – das war nun einmal ganz sicher – war das eine recht dumme Geschichte, daß der Sohn nun einberufen wurde. Man durfte es ihn natürlich nicht merken lassen, jedoch – hart kam es einem an.

Da hatte der Ortsvorsteher darauf hingedeutet, daß der Junge zu reklamieren sei, wenn man ihn als unentbehrlich für den Hausstand bezeichnete. Aber nein, dazu war August Vogt zu ehrlich; gewiß, sechzig Jahre war er alt, aber noch mit neunzig würde er das Anwesen in Schick und Schuß erhalten können. Außerdem wäre das der erste Betrug in seinem Leben gewesen, und mit grauen Haaren fängt man sowas nicht mehr an. Lieber sollte es die zwei Jahre ohne den Franz gehen.

Trotzdem, trotzdem – schwer blieb es. –

Vielleicht war sogar dem Vater kummervoller zu Mute als dem Sohne, wie sie schweigend nebeneinander in der Nacht wanderten, aber als sie nach einem langen Rundgange wieder vor der Haustür anlangten, sagte er nur: »Ja, ja, Junge, wirst wohl oft herdenken. – Na, schlaf gut, diese letzte Nacht!«

Und als der Sohn schon die Treppe hinauf war, setzte er etwas leiser hinzu: »Mein guter, guter Junge!«

Er horchte aufmerksam, wie über ihm die Schritte seines Kindes hin- und widergingen und wie endlich die Bettstelle ein wenig stöhnte, als der Franz sich niederlegte. Sinnend saß er noch eine Weile in den Kleidern da, und mit einem Male war er zweifelhaft geworden, ob es nicht doch ganz recht und gut gewesen wäre, den Jungen zu reklamieren.

Da löschte er rasch das Licht, zog sich aus und warf sich auf sein Lager. – – – – 14

In der Frühe des nächsten Tages nahm Franz Vogt Abschied. Er stand auf den Vorstufen der Tür, sein Kistchen in der Linken; die Rechte blieb lange von der Hand des Vaters umschlossen.

Dem alten Manne fehlten die Worte. »Mach mir Ehre, Junge!« brachte er nur heraus. Dann hieß er den Sohn mit einer Gebärde gehen.

Der junge Bursche schritt in den Morgen hinein; an einer Biegung der Straße kehrte er sich noch einmal um und schaute nach dem Hause zurück: der Vater stand noch immer in der Tür.

Allmählich versank die bekannte Landschaft hinter ihm, die fruchtbare Niederung zur Linken, die Burg zur Rechten. Er ging wieder ein paar Schritte zurück und freute sich zum letzten Male an ihrem stolzen, stattlichen Anblick, – dann schritt er auf dem abfallenden Wege flinker aus und näherte sich bald dem Bahnhofe. Wohl oder übel mußte er sich in das laute Treiben finden, das unter den zahlreichen Einberufenen herrschte. Es waren zwar rechtschaffene Mißtöne, in denen sie das »Muß i denn, muß i denn zum Städtele hinaus« sangen, als der Zug sich in Bewegung setzte, aber so kam man mindestens über dieses kopfhängerische Wesen hinaus, das einen unwillkürlich überfiel, wie die Heimat immer weiter dahinten blieb.

In der Hauptstadt stieg der weitaus größte Teil der Rekruten aus; es war nur eine geringe Anzahl, die stromaufwärts nach der kleinen Garnison weiter fuhr.

In den Wagenabteilungen war es still geworden, die Kehlen waren heiser gesungen, und ein Gespräch wollte nicht mehr aufkommen. Einmal fing einer, der 15 stark betrunken war, an zu gröhlen: »Proletarier aller Länder –«

Da stieß ihn der Nachbar in die Seite und schnauzte ihn an: »Halt's Maul, Esel! Das gibt's jetzt nicht mehr.« –

Ein paar Unteroffiziere nahmen auf der Ankunftsstation den Transport in Empfang. Die Rekruten wurden notdürftig in Reih und Glied geordnet und nach einem großen Exerzierplatz geführt. Der Haupttrupp war bereits in einem Sonderzuge angelangt, aus dem Gebirge oben mit seinen Kohlenwerken und Fabriken. So waren zuletzt wohl ziemlich vierhundert Mann beisammen. Zahlreiche Unteroffiziere mit Helm und Bandelier und auch ein paar Offiziere standen um sie herum.

Darauf begann ein endloses Aufrufen von Namen. Die Leute, die der ersten Batterie zugeteilt waren, wurden zuerst verlesen und sogleich weggeführt, als sie vollzählig waren. Dann kamen die der zweiten Batterie daran, der dritten und so fort.

Die Rekruten blickten stumpfsinnig vor sich hin; diejenigen, die aufgerufen wurden, drängten sich mit einer übermäßigen Eile durch die Reihen, überall mit ihren Kisten und Kasten anstoßend.

Franz Vogt lauschte im Anfang erwartungsvoll auf die verlesenen Namen. Jedes Mal meinte er, nun müßte der seinige drankommen; aber als die dritte Batterie aufmarschiert war, ohne daß er sich aufrufen gehört hatte, ließ sein Interesse nach, und er schaute sich lieber ein wenig um.

Sehr einladend mutete das freilich nicht an, was er da sah. Der große, viereckige Platz war mit einem feinen, schwarzen Sand bestreut, klarem Koksabfall offenbar; an drei Seiten begrenzte ihn ein Holzgatter, 16 durch das kahle Äcker oder, in der Richtung nach der Stadt zu, herbstlich verwahrloste Gemüsegärten trübselig genug durchblinzten. Die letzte Seite schloß eine bunte Gebäudereihe ab, zuerst ein fast fensterloser, langer Schuppen, vor dem ein Wachtposten mit blankem Seitengewehr stand und neugierig nach den Rekruten herüberschaute, dann eine Schmiede; der rußige Schmied sah mit seinem Gehilfen von der Tür aus zu, wie ein Soldat in einer grauen Stalljacke einen frischbeschlagenen Rappen im Trabe vorführte. Zuletzt kam wieder ein Schuppen mit großen Toren; eines davon war offen, und eine Menge Leute hantierte darin mit Putzlappen und Bürsten an einer Kanone herum.

Franz mußte unwillkürlich ein wenig lachen. Er erinnerte sich plötzlich an ein kleines Erlebnis aus seiner Schulbubenzeit. Im Dorfe war Artillerie verquartiert gewesen, und er war lange, lange vor den Kanonen gekauert, die auf dem Gemeindeanger aufgefahren waren, und hatte sie mit scheuem Staunen betrachtet, vor allem die schwarzen Mündungen, aus denen die Kugeln und Granaten geflogen kamen. Damals war es sein sehnlichster Wunsch gewesen, so eine Kanone einmal nach Herzenslust sich ganz nahe besehen zu dürfen, – nun, dachte er lächelnd, würde seine kindliche Sehnsucht bald gestillt werden. Eines merkte er jetzt schon an den Verrichtungen im Schuppen: so eine Kanone war ein Ding, mit dem viele Umstände gemacht wurden. Denn da rieben und putzten die Soldaten immer wieder an den Eisenteilen, die doch schon ganz klar und blank blitzten.

Eben begann das Verlesen der Mannschaften der letzten Batterie, der sechsten. Franz Vogt zählte aus Langeweile, – als neunzehnter wurde er aufgerufen. 17 Er antwortete mit einem lauten »Hier!« und eilte vor. Der Unteroffizier, der seine Leute in Glieder zu je sechs Mann einteilte, war ein kleiner Mensch mit einem roten Gesicht, blitzenden Augen und einem starken, dunklen Schnurrbart über einem Mund, der beständig schalt und schimpfte. Als Vogt schnell begreifend an der Ecke einer neuen Reihe sich aufstellte, nickte er zufrieden, und der junge Rekrut empfand einen leisen Stolz, daß die Geschichte derart wenigstens einen guten Anfang nahm. Neben ihn trat noch einer, ebenso flink wie er, ein munterer Bursche mit einem flotten, schwarzen Bärtchen, aber darauf entstand ein Aufenthalt.

»Inoslawski!« wurde zwei, – dreimal gerufen.

Niemand meldete sich.

Der Offizier trat nun hinzu und schaute in die Liste hinein; er las und winkte einen Unteroffizier heran, der darauf in einer fremden Sprache in den zusammengeschmolzenen Menschenhaufen hineinrief.

Da trat endlich, die Mütze in der Hand, ein Mann vor. Er trug schwere Stulpenstiefeln an den Füßen und hatte ein grellbuntes Halstuch umgeschlungen. Zufrieden grinsend nickte er, als der Unteroffizier auf ihn einsprach und ihn an seinen Platz schob.

»Aha! Eddlärr Pole!« brummte der kleine schnurrbärtige Mann. Er stellte ihn in das Glied und fragte ihn: »Dreckfinkski Waschlappski Inoslawski?«

Aber Inoslawski schüttelte den Kopf und erwiderte freundlich lächelnd und mit Betonung: »Waczek Thaddäus Inoslawski.«

Nach diesem Zwischenfall ging das Verlesen wieder flott von statten. –

Die Rekruten der 6. Batterie waren fast schon zum Abmarsch geordnet, da sah Vogt von der 18 rückwärtigen Ecke des Platzes her einen Soldaten kommen, der ihm bekannt schien. Und auch der andere, der in lederbesetzten Reithosen und schweren Stiefeln, einen Rechen auf der Schulter tragend, heranstapfte, blieb stehen.

»Guck!« sagte er. »Der Vogt Franz!«

Vogt freute sich. Das war doch nett, hier ganz unerwartet einen alten Bekannten aus der Heimat als Kameraden zu treffen, den Junghans, der aus einer der Fischerhütten daheim am Flußufer stammte, mit dem er im Sommer geschwommen war und manchmal auch verbotenerweise Gründlinge geangelt hatte.

Junghans gab ihm die Hand und fragte: »Zu welcher kommst du denn?«

Der Rekrut antwortete: »Zur sechsten.«

Der andere pfiff leise und sagte: »Sechste? Wegstetten? O je!«

Dann schlich er geschwind weg, als er den kleinen Unteroffizier herankommen sah, und nickte Vogt nur von fern noch einmal zu.

Die Rekruten marschierten ab, vorweg zwei Unteroffiziere, auf jeder Seite einer und hinterdrein abermals einer. Es sah fast aus, als ob Sträflinge eskortiert würden, von denen der eine oder der andere möglicherweise entspringen wollte.

Der Weg führte durch einen Teil der Stadt und bog dann um eine Ecke in eine Straße ein, die aus den Häusern heraus ins Freie führte. Zuletzt breiteten sich auf beiden Seiten Äcker aus, rechts der Straße von einem kleinen Bachlauf durchschnitten, an dem eine Sekundärbahn entlang lief. Hinter diesen Feldern stiegen ziemlich steile Höhen an, die, spärlich bewaldet, an einigen Stellen den nackten Fels zeigten. 19

Eine gute Strecke talaufwärts glänzten die hellen Mauern eines stattlichen Gebäudekomplexes im Sonnenschein.

Der kleine Unteroffizier an der Spitze wandte sich um und rief: »Das ist euer zukünftiges Logis, Kerls!« Alle reckten die Hälse, um nach dem bevorstehenden Aufenthaltsort Ausschau zu halten, nur Inoslawski tappte in seinen Stulpenstiefeln schwerfällig weiter, ohne den Kopf zu heben.

Vogt empfand es als eine gewisse Beruhigung, daß sein Quartier nicht in der Stadt mit ihren winkligen Gassen lag, sondern im Freien, wo man der mütterlichen, fruchtbringenden Erde sich näher fühlen konnte, wo man einen ungehinderten Ausblick hatte und in der schönen Jahreszeit das Sprießen und Gedeihen vor Augen haben würde. Dafür hatte ihm aber der Junghans einen Floh ins Ohr gesetzt. Was hatte er damit gemeint, als er so zwischen den Zähnen durch pfiff? Damit und mit seinem »O je!«? Und wer war dieser Wegstetten? – Wahrscheinlich der Hauptmann der 6. Batterie, und nicht gerade der beste Bruder.

Jetzt wirbelte draußen an dem Kasernentor eine Staubwolke auf und kam rasch näher. Ein Offizier und hinter ihm ein Soldat, beide zu Pferd, trabten heran. Als die Reiter den Trupp beinahe erreicht hatten, parierte der Offizier seinen Braunen und ließ die Rekruten an sich vorbei, indem er jeden einzelnen mit einem prüfenden Blicke streifte. Die Ehrenerweisung der Unteroffiziere, die stramm vorübermarschierten, erwiderte er mit einem kurzen Nicken. Wenn er auch nicht groß war, saß er doch stattlich auf seinem Pferde, und ein mächtiger roter Schnurrbart und die scharfen Augen, die durch die Gläser eines 20 Kneifers blitzten, verliehen ihm ein bärbeißiges Aussehen.

Vogt meinte für sich: streng sieht der aus, aber böse gerade nicht, er dachte, wenn das dieser Wegstetten wäre, da würde das noch lange nicht das Schlimmste sein, – da drehte sich der kleine Unteroffizier abermals um und sagte: »Kerls, das war euer Hauptmann, – von Wegstetten.« –

Schon die Eskorte des Trupps durch gespornte und gewappnete Unteroffiziere auf allen Seiten hatte in Vogt den Eindruck hervorgerufen, als liefe er in einem Gefangenentransport mit, nun machte ihm der Einmarsch in die Kaserne vollends klar, daß er in eine straffe Zucht kam und eines guten Teils seiner Freiheit sich von nun an begeben mußte. Die zurückgeschlagenen Torflügel aus starkem Eisenblech waren oben mit scharfen Spitzen besteckt, so daß ein Überklettern unmöglich gemacht wurde, und außerdem stand am Einlaß ein Wachtposten.

Das Tor bildete den Eingang zu einem geräumigen Hof, der rings von Gebäuden umgeben war. Von freiem Felde und Grün war da allerdings nichts zu spüren, das kiesbestreute Rechteck war ebenso nackt und öde wie die Häuser, deren kahle Fenster aus verlassenen Stuben zu blicken schienen. Nur wenige verrieten, mit weißen Vorhängen geschmückt, bewohnte Räume. Selbst die jungen Kastanien, die an den Außenseiten des Platzes gepflanzt waren, gediehen hier innen nur kümmerlich; sie ließen ab und zu ein gelbes Blatt zu Boden fallen, während draußen in der Freiheit der Wald noch überall sein grünes Laub festhielt.

Die Gebäude der 6. Batterie lagen dem Eingang quer gegenüber, aber der innere viereckige Platz schien respektiert werden zu müssen, denn die Rekruten wurden 21 auf der gepflasterten Straße an den Häusern hingeführt. Der kleine Unteroffizier ordnete sie mit Mühe in zwei Reihen und meldete dann einem älteren Manne, der, in eine grüne Joppe mit rotem Vorstoß gekleidet, von der Tür aus zugesehen hatte: »Rekruten zur Stelle.«

»Sind alle da?« fragte der andere, die Vortreppe herabsteigend.

»Zu Befehl, Herr Wachtmeister,« gab der Kleine zur Antwort.

Der Wachtmeister ging langsam an der Reihe der Rekruten entlang und musterte jeden Mann mit einem forschenden Blick. Vogt sah ihm frei ins Gesicht; er mußte dabei an den Vater denken: der konnte einen auch so durchdringend anschauen, aber wer ein gutes Gewissen hatte, der brauchte die Augen nicht niederzuschlagen.

Dann begann in rascher Folge eine Reihe von Verrichtungen, die die Rekruten gar nicht zum Umsehen und Überlegen kommen ließ. Sie wurden in die Stuben geführt und erhielten jeder einen Schrank zugewiesen, in dem schon ein weißer Eßnapf mit einem Blechlöffel bereit stand. In das Spind verschlossen sie ihre kleinen Packen und trabten geschwind nach dem Speisesaal. Durch ein Schiebefenster gab man seinen Napf hin, erhielt ihn gefüllt zurück und verbrannte sich beinahe die Finger, bis man ihn auf einem gescheuerten Holztisch absetzte. Weiße Bohnen mit Speck gab es, und es schmeckte leidlich gut. Kein Wunder, wenn man seit dem frühesten Morgen unterwegs war!

Der Nachbar vom Marsche hockte neben Vogt auf der Holzbank; er wischte sich sein schwarzes Bärtchen und nickte ihm zu.

»Fix geht das hier zu, hä?« sagte er löffelnd. 22

»Ja, das muß wahr sein,« gab Vogt zur Antwort.

Und der andere fügte, auf seinen leeren Napf weisend, hinzu: »Nich, wenn die zwei Jahre so schnell alle wären?«

Sie wurden rasch bekannt. Weise hieß der Kamerad und war ein Maschinenschlosser aus der Kohlengegend. Aber kaum hatten sie einander das Notdürftigste erzählt, da hieß es schon wieder aufstehen, die Schüssel und den Löffel unter einem Wasserhahne abspülen und wieder zurück in die Stube.

Nebenan im Hofe, vor dem Gebäude einer anderen Batterie, standen noch immer die Rekruten, die doch früher in der Kaserne eingetroffen waren, und schielten hungrig nach der Küche.

»Da sind wir doch besser dran,« meinte Weise, »bei uns scheint eben alles im Trab zu gehen.« –

Vor dem Hause trat man aufs neue an, und wieder begann das Verlesen. Diesmal wurden zugleich die Gestellungsbefehle abgefordert. Darüber ritt der Hauptmann in den Kasernenhof ein; er stieg vom Pferd und ging vor und hinter den Rekruten hin und her, zuweilen stehen bleibend und einen genauer musternd.

Dabei wurde manchem unbehaglich zu Mute, wenn der kleine Mann so lange hinter ihm verweilte, aber soviel hatten doch alle schon erfaßt, daß man sich da nicht umdrehen durfte.

Es dauerte geraume Zeit, bis der letzte Gestellungsbefehl abgegeben und mit den Überweisungspapieren verglichen war. Dann forderte der Wachtmeister diejenigen, die zu Pferde dienen, Fahrer werden wollten, auf, nach der einen Seite der Straße hinüberzutreten, diejenigen, die Kanoniere werden wollten, sollten sich auf der andern aufstellen. 23

Weitaus die größere Hälfte trat zu den Fahrern. Die hohen, gespornten Stiefel und der Schleppsäbel übten diese Anziehungskraft aus, im Verein mit der Einbildung, daß der Dienst als Berittener ansehnlicher wäre. Die kleinere Anzahl, darunter Vogt und sein neuer Bekannter Weise, stellte sich zu den Kanonieren.

Vogt richtete sich nach dem Rate des Vaters. »Junge,« hatte der gesagt, »zunächst werde mir ein tüchtiger Kanonier. Davon – wenn du ja mal weiter dienen und Unteroffizier werden wolltest, – kommst du rascher vorwärts als umgekehrt. Da kennst du schon deine Kanone und brauchst bloß noch reiten zu lernen.«

Nur Inoslawski blieb in der Mitte stehen und zog eine ängstliche Miene, als er sich so allein und aller Augen gerade auf sich gerichtet sah. Schließlich erstattete der kleine bärtige Unteroffizier dem Hauptmann eine Meldung und schob dann den Polen auf die Seite der Fahrer.

Aber man brauchte mehr Leute zu Fuß als zu Pferd. Deshalb wurden nur die zu Berittenen bestimmt, die als Knechte oder landwirtschaftliche Arbeiter schon mit Pferden Bescheid wußten. Der Wachtmeister rief die Namen auf, dabei auch: »Vogt.«

Der Rekrut lief hin und stellte sich in Positur, so gut er's vermochte.

»Warum wollen Sie nicht Fahrer werden?« fragte der Wachtmeister. »Sie sind doch Landwirtschaftsgehilfe.«

Vogt schwieg.

Da trat der Hauptmann hinzu und sagte: »Sie haben doch mit Pferden zu tun gehabt?«

»Nein, Herr Hauptmann, nur mit Kühen und Schweinen,« antwortete der Rekrut und fügte, als er 24 die um ihn Herumstehenden lachen sah, hinzu: »Wir hatten nur Kühe und Schweine, Herr Hauptmann.«

»So?« meinte der Offizier. »Na, dann bleiben Sie man ruhig, wo Sie standen; – mit Kühen fahren wir nicht.«

Vogt war dunkelrot geworden, weil er da wohl eine Dummheit gesagt hatte, doch er trat ganz fröhlich ins Glied zurück. Der Hauptmann hatte ihn aber auch gar nicht unfreundlich angesehen.

Im ganzen wäre er herzlich froh gewesen, wenn die Geschichte nun zu Ende gewesen wäre. Er spürte in allen Gliedern eine rechtschaffene Müdigkeit. Nie hätte er geglaubt, daß dieses Herumstehen und Warten einen so mitnähme.

Aber das Vorhergegangene schien nur ein Spiel gewesen zu sein gegen die nichtswürdige Schererei der Einkleidung, die nun vor sich ging. Er kam dabei noch gut weg: die Hosen, deren Länge man nach der der ausgebreiteten Arme maß, paßten sofort, auch der zweite Rock, den er anzog, saß ihm gut, den Leibriemen mit dem Seitengewehr konnte man schnallen, und Mütze und Helm waren auch bald gefunden, nur von den Stiefeln mußte er mehrere Paare anprobieren, bis er die rechten bekam. Der Unteroffizier warf ihm noch die gleiche Nummer Drillichzeug zu, wie er Tuchzeug auf dem Arme hatte, dann war er fertig.

Aber es gab Leute, denen gar nichts passen wollte. Einem, dem längsten von allen, reichten die Ärmel bis knapp unter den Ellenbogen, und wenn er eine größere Nummer bekam, schlug der Rock über der Brust zahllose Falten. Andere hatten fast viereckige Köpfe, auf denen der runde Helm sich gleichsam schaukelte; denen trieb man den Helm wohl mit ein 25 paar Faustschlägen auf den Schädel fest. Besonders war aber einer da, ein starker, breiter Mensch mit einem dicken Bauch, für den war gar nichts vorhanden, alles war zu eng.

»Was bist du denn draußen gewesen?« fragte ihn ein Unteroffizier.

»Brauer,« antwortete der Dicke.

»Hast wohl dein Bier alles selber gesoffen? Was?« fuhr der Vorgesetzte fort.

Da brachte derjenige, der die Sachen austeilte, eine neue Hose und einen neuen Rock, warf sie dem Dicken hin und bedrohte ihn: »Du, wenn aber das jetzt nicht paßt, dann laß ich dich weiß Gott in Unterhosen exerzieren.«

Die Hose ließ sich mit Mühe schließen, und auch der Rock saß straff, aber der Unteroffizier klopfte dem Brauer auf den Bauch und sagte: »Siehst du, das wird gehen, denn den Wanst hier, mein Dickerchen, den werden sie dir schon abtreiben.« –

Als Vogt mit seinen Sachen auf dem Arm die Montierungskammer verließ, war die anfängliche wundervolle Ordnung der Regale und der regelmäßig geschichteten Kleiderstöße in ein wüstes Durcheinander verwandelt. »Schade um die Arbeit,« dachte er, »die damit verloren geht.«

Und diese Sachen, die er da trug, das war Zeug wahrhaftig zum Erbarmen! Das grüne Tuch des Rockes war abgeschabt, so daß es an manchen Stellen in grauen Fäden offen lag, in den Armlöchern waren dunklere Flickflecken eingesetzt, und die ehemals roten Aufschläge waren ganz verwaschen. Dazu hatte die Hose ein neues Kreuz, die Stiefel waren an den Innenseiten geflickt, vom Helm war der Lack abgesprungen, der Messingbeschlag grün und blau angelaufen, und 26 das Drillichzeug war um kein Haar besser als das Tuchzeug; – nur das Seitengewehr sah blank und sauber aus.

Er musterte die Sachen mit trübseligen Blicken und schüttelte den Kopf; er hatte es sich nun freilich anders gedacht, und das war wohl sicher: besonders schmuck würde er sich darin nicht gerade ausnehmen. Er zog einen Schemel an seinen Schrank heran und begann sich umzukleiden. Die bürgerliche Kleidung legte er mit einer Art wehmütiger Andacht ab; sie hatte gewissermaßen noch etwas von der Heimat an sich. Nun mußte sie zwei Jahre im Kasten liegen.

Weise hockte neben ihm und stand beinahe schon als ein fertiger Soldat da. Dieser flinke Bursche fand sich in alles hinein und hatte es sofort verstanden, sich die Mütze ein wenig schief und keck aufzusetzen.

»Fein? Nicht?« scherzte er, indem er eine herausfordernde Stellung annahm und sein Bärtchen aufwärts drehte.

Dann faltete er seine Zivilkleider sauber zusammen, packte sie in die Kiste, legte den Kragen, das Vorhemd und einen bunten Shlips darauf und schob den Deckel mit einem lauten Klapp zu.

»Auf Wiedersehen in zwei Jahren!« sagte er dabei. »Dann trinke ich mir aber einen derben an!« –

Aber schon wieder trieb die scharfe Stimme des kleinen Unteroffiziers die Rekruten aus der kleinen Rast auf; wer sich fertig angekleidet hatte, mußte abermals auf dem Hofe antreten, und ein zweites Zurechtrücken und -zupfen nahm seinen Anfang.

Da gab es von neuem Ausbrüche einer scheinbaren Verzweiflung bei den nachsehenden Vorgesetzten: einer der Leute sollte ein kurzes und ein langes 27 Bein haben, ein anderer war in den Schultern schief, und um einen dritten wurde gar geschrieen: »Der Kerl hat ja einen Buckel!«

Die Unteroffiziere riefen es über den Hof weg den Kameraden zu: »Wir von der sechsten haben einen Buckligen!«

Und der arme Teufel, ein breitschultriger, gedrungener Bursche, dem wohl eine recht schwere Arbeit den Rücken etwas gerundet hatte, stand mit ingrimmigem Gesicht dabei und ließ getrost an sich herumzerren; seinen Rücken zog er nicht ein.

»Ein Landsmann von mir, der Findeisen dort,« sagte Weise, »ein Steinträger.«

Vogt und er kamen gut weg von dieser Besichtigung. Ihre Sachen saßen vorschriftsmäßig.

»Gott sei's gedankt, daß man wenigstens ein paar darunter hat, die gerade Knochen haben!« urteilte der Unteroffizier und schickte sie auf die Stube zurück.

»Packt derweilen euer Zivilgelumpe zusammen,« rief er ihnen nach, »und macht es zum Abliefern fertig!«

Auf dem Flur blieb Vogt stehen. »Du, welches ist denn unsere Stube?« fragte er.

»Na, Nummer neune, alle neune!« antwortete Weise. Er riß die Tür auf und lud den Kameraden mit einer Verbeugung ein: »Immer rein, immer rein in die gute Stube!«

In diesem Augenblick wurde die gegenüberliegende Tür geöffnet, und ein langer, hagerer Soldat trat auf die Schwelle.

Weise stockte. »Je, du? Wilhelm?« brachte er staunend hervor.

Der andere sagte: »Jawohl, was ist dabei? Wußtest du das nicht? – 'Tag übrigens!« 28

Die beiden reichten sich die Hände und hielten sie länger ineinander, als es wohl sonst üblich war.

Vogt meinte auch, sie hätten sich auf eine ganz besondere Art angesehen, wie wenn etwas Gemeinsames zwischen ihnen wäre. Er erkundigte sich neugierig: »Du, wer war denn das? Das war doch ein Gedienter?«

Weise antwortete: »Ach, der? Das ist 'ne frühere Bekanntschaft von mir; Wolf heißt er. – Ja, und er dient schon seit letztem Herbst.«

Er hatte plötzlich ganz ernsthaft gesprochen, aber sofort nahm er wieder seine Munterkeit an. Inoslawski stand noch in der Stube; er beschaute fröhlich seine langen Reitstiefeln und die lederbesetzten Hosen. Weise setzte ihm den Helm verkehrt auf, gürtete ihm den Säbel um und gab ihm die blanke Klinge in die Hand. Dann bedeutete er ihn, zum Hof hinunterzusteigen und sprang selbst geschwind an das Korridorfenster, um die Wirkung seines Streiches zu beobachten.

Der Pole fiel bei einem Haar über die Säbelscheide, als er die Vortreppe hinunterstolzierte, und schritt dann gravitätisch auf die Unteroffiziere los. Er strahlte über das ganze Gesicht, als er die Umstehenden so lustig lachen sah, und stellte sich zuletzt vor einen Trompeter hin, der gerade über den Platz weg kam. Er mochte ihn der Schwalbennester halber für den Höchsten halten.

Vogt stand unterdessen allein in Stube IX; die anderen waren alle noch auf dem Hofe festgehalten. Er legte seine Zivilkleider in sein Kistchen und ließ das kleine Vorlegeschloß einschnappen. Damit, das fühlte er, war gewissermaßen die letzte Brücke 29 abgebrochen, die ihn mit dem alten Leben verbunden hatte. Nun war er Soldat.

Er sah sich rings in der Stube um, die für zwei Jahre seine Heimat sein sollte: ein ungestrichener Fußboden und grau getünchte Wände, die zum größten Teile von den Spindreihen verdeckt waren, als einziger Schmuck über der Tür ein Bild des Königs und zwei ungerahmte Schlachtenbilder, die mit Zwecken angeheftet waren. Man hatte sie offenbar aus einer Zeitschrift herausgerissen; das eine stellte »Die Hanseaten bei Loigny,« das andere »Die Erstürmung des Geisbergs« vor. Inmitten des Zimmers standen zwei große Tische, von Schemeln umgeben, ein kleinerer, zu dem ein einfacher Stuhl mit einer Lehne gehörte – der Platz des Unteroffiziers und Stubenältesten –, an dem einen der beiden Fenster, und diese Fenster selbst waren kahl, nur mit gestreiften Rouleaux versehen.

Er trat hinzu und blickte hinaus.

Da war wenigstens ein Gutes. Die Fenster der Stube schauten auf das freie Feld, nicht auf den öden Kasernenhof hinaus. Dicht am Hause lagen kleine Gärten, durch Stakete von einander getrennt. Gerade grub in einem ein Unteroffizier die Erde um. Er düngte sie mit Strohdünger, den er aus einer kleinen Schubkarre nahm; eine Frau, die ein zappelndes Kind auf dem Arme trug, ging zwischen den Beeten auf und ab, und zuweilen richtete sich der Mann auf, um ein wenig mit dem Kindchen zu spielen. Hinter den Gärten streckte sich ein Streifen Wiesenland bis zum Fuße des Berges, der, mit einem Wald von Buchen und Birken bestanden, ziemlich steil anstieg. Ein wohlgepflegter Weg führte auf der Höhe hin, linker Hand – das war wohl klar –zur Stadt, rechter Hand – 30 das wußte Vogt nicht. Er wußte nur das Eine, ob zur Rechten oder zur Linken, dieser Weg führte in die Freiheit, von der er jetzt abgeschlossen war.

Dieses winzige Stückchen Welt wurde von den schwächlichen Strahlen einer untergehenden Herbstsonne beschienen, die sich gegen die bleichen Lichter der hereinbrechenden Dämmerung nur mit Mühe mehr verteidigte. Das machte den Anblick auch nicht gerade fröhlicher. –

Vogt wandte sich seufzend ins Zimmer zurück. Da saß auch bereits Weise auf dem Tisch, schlenkerte mit den Beinen und erzählte mit drolligen Gebärden, wie der Inoslawski sich angestellt hatte.

Allmählich kamen immer mehr vom Hofe herauf, am Ende waren es fünfzehn Mann. Aber sechzehn Schränke waren in der Stube aufgestellt, also fehlte noch einer. Die meisten hatten noch mit dem Wegpacken ihrer bürgerlichen Kleider zu tun. Darnach hockten sie stumm und müde in der dunklen Stube auf ihren Schemeln und hatten kaum Lust, sich gegenseitig ein wenig bekannt zu machen.

Zu Vogt und Weise hatte sich der dicke Brauer gesetzt. Er war ganz abgehetzt und sprach davon, sich lieber heute noch das Leben zu nehmen, als daß er diese entsetzliche Plackerei zwei Jahre lang ertrüge.

Aber Weise zog ihn in seiner munteren Art auf und neckte: »Brauer, weißt du aber auch, woher du das Seil zum Aufhängen nimmst? Denn ein gewöhnlicher Strick tut's bei dir nicht.«

Schließlich taute auch der Brauer auf; im Sitzen wurden seine Pläne weniger lebensgefährlich, und er seufzte und jammerte nur: »Jetzt, wenn ich bloß ein Bier hätte! Bloß ein Bier!«

Endlich kam Weise auf den Gedanken, Licht 31 anzustecken. Die beiden Lampen verbreiteten zwar nur ein recht spärliches Licht, aber selbst diese geringe Helligkeit genügte, um die trübseligen Gedanken zu verscheuchen. Hernach kam auch der kleine Unteroffizier mit zwei »alten Leuten«, die die Arme voll Brote hatten. Davon erhielt jeder eins.

Gerade als die Rekruten sich an die Tische setzten und mit ihren Taschenmessern die kräftig duftenden Brote in Angriff nahmen, wurde draußen auf dem Hofe ein Signal geblasen. Darauf erhob sich auf dem Flur und auf den Treppen ein vielfüßiges Trampeln und Laufen, – die alten Leute gingen zum Abendstalldienst. Aber der Unteroffizier sagte, gutmütig lachend über die tüchtig einhauenden jungen Burschen hinblickend: »Na, heute geht's euch noch gut, morgen sieht die Sache schon anders aus. Darum eßt, – aber überfreßt euch nicht!«

Und es schmeckte in der Tat, dieses derbe Schwarzbrot, zu dem jeder eine kleine Zukost aus seinem Spind herzuholte, ein Töpfchen voll Butter oder Fett oder eine Wurst. Nur einer saß trübselig bei seinem trockenen Brot, Klitzing, ein blasser, magerer Mensch mit hohlen Wangen, der fast in seiner Uniform schlotterte und stets sich ganz still für sich gehalten hatte.

Vogt saß neben ihm; er schnitt ein gehöriges Stück von seiner Rauchwurst ab und schob es seinem Nachbar hin: »Da Landsmann, wir teilen.«

Klitzing wollte die Wurst erst zurückweisen, am Ende nahm er sie aber an und bedankte sich schüchtern.

»Warum hast du dir denn nichts einpacken lassen?« fragte Vogt.

»Ich habe keine Eltern mehr,« antwortete der andere. »Und ich bin erst am Montag aus dem Krankenhaus entlassen worden.« 32

»Armer Kerl! Da mußt du dich erst recht anessen. Was bist du denn?«

»Schreiber.«

»Na, wenn wir zusammenhalten, wird's schon gehen,« meinte Vogt.

Der blasse Kamerad gefiel ihm, – fast besser als Weise. Weise war wohl augenscheinlich ein guter Kerl, aber ein bißchen leicht war er auch und wahrscheinlich auch ein bißchen so einer, der nicht immer Farbe bekennt, der den Mantel so hängt, wie der Wind weht. Klitzing hatte ehrlichere, offenere Augen. Er konnte einem nur leid tun in seiner Blässe und Schwäche. Wie sollte der die Strapazen ertragen?

Inoslawski aber schnitt sich leuchtenden Auges eine Schnitte nach der anderen von dem Laib Brot herunter. Vor sich hatte er in einem nicht allzu sauberen Napfe Fett, das er dick aufstrich. Er deutete darauf hin und sagte vergnügt nur immer: »Maruschka! Maruschka!«

Er zog dabei ein so verschmitztes Spitzbubengesicht, daß man unwillkürlich auf den Gedanken kam, seine Maruschka hätte das Fett irgendwo stibitzt.

Jedenfalls schmeckte es ihm köstlich, und er lachte für sich die polnischen Mitarbeiter aus, die ihm da auf dem Rittergute vor dem Militär hatten bange machen wollen; Thaddäus Inoslawski fand das Soldatsein wunderschön.

Die Rekruten saßen noch bei ihrer Mahlzeit, da führte der kleine Unteroffizier noch einen neuen herein, einen hochaufgeschossenen jungen Burschen, der mit seinem weiß und roten Gesicht fast noch einem Knaben glich; ganz sicher war er ein paar Jahre jünger als alle andern. Der Unteroffizier sprang weniger grobkörnig mit ihm um, er redete ihn sogar »Sie« an und 33 wies ihm mit einer gewissen Zuvorkommenheit seinen Schrank.

Irgend etwas Besonderes war mit diesem Frielinghausen, wie er ihn nannte, los; auch die Uniformstücke, die er trug, waren um ein kleines weniger geflickt und fadenscheinig. Aber gute Laune schien der neue Kamerad gerade nicht zu haben. Er ließ sich an der finstersten Tischecke nieder, stützte den Kopf in die Hände und rührte das Brot nicht an, das der Unteroffizier vor ihn hingelegt hatte.

Die meisten Rekruten betrachteten ihn mit unverhohlenem, ablehnendem Mißtrauen. Was war das für ein Hochnäsiger, für ein Feiner, der sich da anstellte, als wären die Kameraden gar nicht da? Und er war doch auch nichts anderes als sie alle. Nur Vogt und Klitzing sahen mit einigem Mitleid nach dem Tischende hin; wer konnte wissen, was dieser Frielinghausen für einen Kummer hatte!

Dafür war Weise um so munterer. Er ließ es sich angelegen sein, die Stube während des Schmausens mit Schnurren und Späßen zu unterhalten, und alle hörten ihm gern zu. Das vertrieb die Langeweile und die nicht gerade angenehmen Gedanken, auf die man sonst immer wieder verfiel.

Der Unteroffizier hörte eine Weile belustigt zu, dann rief er den Spaßmacher zu sich: »He, du! Der Schwarze da! Komm mal her!«

Weise sprang hin, und der Vorgesetzte musterte ihn nicht ohne Wohlwollen. »Das ist recht,« sagte er, »Trübsal blasen ist Blödsinn, lustig muß ein Soldat sein. Sag' mal, wie heißt du denn, Schwarzer?«

»Weise,« antwortete der Rekrut.

»Weise? – Gustav Weise?«

»Ja, Herr Unteroffizier.« 34

»So, so? – Gustav Weise. Na, 's ist gut. Setz' dich nur wieder.«

Weise kehrte etwas verblüfft auf seinen Platz zurück; was hatte der Unteroffizier nur plötzlich für ein finsteres Gesicht gezogen, als er den Namen erfahren hatte? An dem Namen war doch nichts Besonderes? – Er zerbrach sich nicht gerade den Kopf darüber, seine Lustigkeit war ihm aber doch über der finstern Miene verloren gegangen.

Als letztes an diesem ersten Tage des Soldatenlebens hieß es die Zivilkleider abgeben. Die Rekruten zählten die Sachen vor: Hose, Rock, Weste und Hut, schlossen sie in die Kiste ein und gaben die Adresse an, an die die Kleider zurückgesandt werden sollten. Klitzing wußte niemand, der ihm da außen seinen Rock hätte aufheben sollen, – so blieben die Sachen im Gewahrsam der Batterie. Zuletzt wurden die Spinde nachgesehen, ob nichts zurückgeblieben war, was später einmal irgend einem hätte dienen können, der Lust zum Desertieren verspürte.

Die Leute waren nicht eben lustig bei dieser Ablieferung. Diesmal war Klitzing der Gelassenste.

»Mein Zeug,« flüsterte er Vogt zu, »mein Zeug können sie ebensogut wegwerfen. Ich brauche es doch nicht mehr.«

»Warum denn?« fragte Vogt. »Willst du denn weiterdienen und Unteroffizier werden?«

»Ach nein, das nicht.«

»Na also. Warum brauchst du's dann nicht mehr?«

Der Schreiber sah mit seinen hübschen, ehrlichen Augen einige Augenblicke starr ins Leere und blieb dabei: »Ich brauche es nicht mehr. Ich weiß es.« 35

Alles war bisher ordnungsmäßig abgelaufen, da verursachte dieser Inoslawski einen neuen Aufenthalt.

Mütze, Hose und Rock gab er gutwillig hin; es war ohnehin nicht viel mehr daran zu halten, und die Hose hatte sogar ein tüchtiges Loch, das der Rock nur eben noch verdeckte, – aber die hohen Stiefeln hielt er krampfhaft fest, sie waren auch noch fast neu.

Der Unteroffizier mochte ihn noch so sehr anschreien, – der Pole hatte nur ein stummes Kopfschütteln dafür, und als der Vorgesetzte, in Wut geratend, ihm die Stiefeln gewaltsam entreißen wollte, machte er Miene sich zu wehren, wie es gerade ging.

Der kleine Unteroffizier hielt ratlos inne. Was sollte man mit diesem Kerl anfangen, der kein Wort verstand?

Da kam Weise auf einen Einfall. Er lief zum Schrank des Polen und hielt ihm die von der Montierungskammer gelieferten Stiefel hin, die noch höher waren als diejenigen, die der Widerspenstige fest an seinen Leib drückte.

Aber Inoslawski lächelte geringschätzig und wies auf die Ränder seiner Stiefeln, die mit rotem Zwirn in kleinen Arabesken gesteppt waren, und auf die Stelle des Schaftes, wo die Strippe mit den gleichen bunten Fäden kreuzweis angenäht war.

Weise geriet nicht in Verlegenheit und brachte nun die Sporen, die er an die Absätze anfügte. Er rollte das Rädchen und ließ sie klirren und im Lampenlicht blinken.

Das besiegte endlich den hartnäckigen Polen. Er reichte sorglos lachend dem Unteroffizier die Stiefeln hin und gedachte ihm die Hand zu schütteln, als ob er »nichts für ungut!« sagen wollte. Aber er wurde unfreundlich zurückgewiesen. 36

Alle atmeten auf, wie der törichte Zwischenfall, der zu einem recht üblen Anfange der Dienstzeit hätte werden können, so gut ablief, und Weise erhielt einen anerkennenden Blick vom Stubenältesten, der ihn die vorher empfundene bange Unsicherheit rasch vergessen ließ. –

Über alledem neigte der Tag sich seinem Ende zu. Kurz vor zehn Uhr hieß es »Licht aus und schlafen gehen!« Halsbinde und Rock ließ man in der Stube und stieg die Treppe hinauf zum Schlafsaal.

Das war ein weitläufiger Raum, der sich unter dem Dachgerüst hin über die ganze Länge und Breite des Gebäudes erstreckt. Allzu kleine Fenster ließen nicht genügend Luft herein, um die Ausdünstungen so vieler Menschen zwischen den Bettreihen durch und aus den Decken und Strohsäcken herauszufegen. An diesem Herbstabend ließ sich die Stickluft noch eben ertragen, aber im Sommer, wenn die Sonne tagsüber auf das Dach gebrannt haben würde, in den glutheißen Julinächten, da mußte man sicherlich elend darin ersticken.

So meinte wenigstens Vogt.

Er hatte das Glück gehabt, sein Lager in einer Außenreihe an den Fenstern entlang zu erwischen und winkte Klitzing, das rechts danebenstehende Bett in Besitz zu nehmen; das links von ihm, das Ecklager, war von dem kleinen Unteroffizier dem Frielinghausen zugewiesen worden. Bevor er sich auskleidete, klappte er die Decke zurück: die Laken sahen einigermaßen weiß aus, darüber waren zwei starke Wolldecken gebreitet, – nun, viel anders war er es von Hause nicht gewöhnt, und auch der Strohsack würde schon mit der Zeit die gefährliche Rundung verlieren, von der man jetzt beinahe herabrollte. 37

Bei den Rekruten ging das Niederlegen geschwind von statten, die alten, gedienten Leute nahmen sich mehr Zeit. Sie murrten, daß ihnen der Hauptspaß des Jahres, das Durchprügeln der Neuen, entgangen war. Aber der Hauptmann, der »Alte«, hatte es verboten, und sie kannten ihn: wer sich gegen so ein Verbot verging und ertappt wurde, der hatte selbst den größten Schaden davon. In Arrest flog er nicht; – der Alte pflegte zu sagen: »Sollen die Kerls auch noch faulenzen?« – aber Stalldienst gab es dafür und keine Nachtzeichen, am Ende keinen Urlaub. Da lohnte der Versuch nicht, die gute, alte Sitte dieses peinlichen »Willkomms« aufrecht zu erhalten. Im Grunde war es ja auch vernünftiger, am nächsten Sonntag den Schatz zu Tanze zu führen, als so einen dummen Kerl zu prügeln und hernach Stallwache zu »schrauben«. Sie schimpften, aber sie gehorchten.

Liegend merkte Vogt erst, wie müde er war. Das magere Schreiberlein zu seiner Rechten war schon fest eingeschlafen. Frielinghausen aber schien noch wach zu sein.

Vogt lauschte. Er hatte sich nicht getäuscht: der lange Bursche weinte.

Einen Augenblick war er versucht, den Kameraden nach seinem Kummer zu fragen, aber er fürchtete abgewiesen zu werden und drehte sich auf die andere Seite. Im Grunde ziemte es sich auch nicht für einen Mann, zu weinen, gar für einen Soldaten.

Einmal noch schreckte er aus dem Hindämmern vor dem Einschlafen auf; er meinte im Stalle daheim die Kühe mit ihren Ketten klirren zu hören, und nun blies einer auf einmal Trompete dazwischen. Verwundert sann er nach.

»Richtig,« dachte er dann, »das ist der Zapfenstreich. Ich bin ja nun Soldat.« 38

 


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