Franz Adam Beyerlein
Jena oder Sedan?
Franz Adam Beyerlein

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X.

  »Morgenrot! Morgenrot!
Leuchtest mir zum frühen Tod!«
                                  (Hauff.)

Stube IX sollte auch nach der Übersiedelung des Freiherrn Walther von Frielinghausen zu den Unteroffizieren »adlig« bleiben, wie Weise höhnisch bemerkte. In Frielinghausens Schrank zog wenige Tage vor dem Ausrücken zum Manöver Graf Egon Plettau ein.

In der Batterie liefen über Plettau allerlei ungeheuerliche Gerüchte um. Darnach schien er ein richtiger Schinderhannes zu sein. Ein geohrfeigter Leutnant und ein an die Wand geworfener Wachtmeister spielten die Hauptrollen in dem Gerede. Tatsächlich kannten von der Batterie nur Heppner und die ältesten Unteroffiziere den rabiaten Grafen von Angesicht zu Angesicht, und schon zwei Mannschaftsjahrgänge waren während der fünf Jahre Festungsgefängnis, die Plettau zuletzt verbüßt hatte, aus der Batterie verschwunden, ohne seine Bekanntschaft gemacht zu haben.

Die Insassen der Stube IX erwarteten einen bleichen, von der langen Haft gebeugten Menschen zu sehen, aber der neue Kamerad stellte sich als ein ganz erträglich gesund aussehender, nur etwas magerer Mensch von mittlerer Größe heraus, und statt einer finsteren, gewalttätigen Miene trug er ein freundliches, 390 gutmütiges Gesicht zur Schau. Seine Augen blickten meist recht spöttisch drein, zuweilen aber nahmen sie einen entschlossenen, halsstarrigen Ausdruck an.

Mit den Kameraden war er bald gut Freund. Er nannte sie nicht anders als »Kinder« und spielte sich scherzhaft auf den Erfahrenen, Väterlichen hinaus. »Kinder, das versteht ihr nicht, dazu seid ihr noch viel zu grün!« war seine Lieblingsredensart.

Am meisten näherte er sich dem Freundespaar Vogt–Klitzing, und außerdem sah man ihn oft mit Wolf zusammen, der durch die Nähe der ersehnten Entlassung einen Teil seiner Verschlossenheit zu verlieren schien und heiterer und offener, nicht mehr wie ein unheimlicher Verschwörer, umherging. Dagegen behandelte Plettau Weise sehr kalt und absprechend, so sehr der Sozialdemokrat sich auch Mühe gab, ihm zu gefallen.

Von den Unteroffizieren wurde der Graf sehr zart angefaßt. Sie hatten die Weisung erhalten, im Rahmen des dienstlich Erlaubten alles zu tun, daß der Unglücksmensch nun endlich seine Dienstzeit vollendete. Einer, Käppchen, ging darin sogar noch über diese Grenze hinaus, bewogen durch ein besonderes »sollte« aus dem Sagenkranze, der Plettaus militärische Laufbahn umschwebte. Der wilde Graf »sollte« einmal geäußert haben, wenn beim Revolverschießen sein Revolver gerade mit sechs Patronen geladen wäre, da würde er sich herumdrehen und der Reihe nach die sechs Vorgesetzten niederknallen, die ihn irgendwie drangsaliert hätten. Käppchen meinte, man könne nie wissen, was geschähe, und hatte sich für diesen Fall als besonderen Grundsatz das Sprichwort »Vorsicht ist die Mutter der Weisheit« aufgestellt.

Graf Egon Plettau nahm diese Rücksichten mit 391 selbstzufriedener Genugtuung auf. »Kinder,« pflegte er zu sagen, »die Leute wissen ganz gut, daß sie mir Respekt schuldig sind. Bei einer zweijährigen Dienstzeit acht Jahre dienen und noch nicht fertig sein, das ist auch eine Leistung, die gar nicht hoch genug zu schätzen ist. Im Grunde könnte ich mich in einer Schaubude sehen lassen. Gebt euch also Mühe, mir nachzueifern!«

Auf das Manöver freute er sich mit einer ehrlichen, fast kindlichen Freude. Trotz seiner acht Jahre Dienstzeit hatte er noch keines mitgemacht. Es war immer »etwas dazwischengekommen«.

Oberleutnant Güntz, der Batterieführer, hatte zuerst gezögert, das enfant terrible der Batterie in die Herbstübungen mitzunehmen. Die Vorschrift verlangte zwar, daß jeder Soldat mindestens eine Schießübung und ein Manöver mitmachen sollte, aber auf einen Antrag konnte auch wohl einmal eine Ausnahme stattfinden. Schließlich entschloß er sich doch, es bei der Regel zu lassen. Die wenigen in der Garnison zurückbleibenden Mannschaften kamen zuweilen rein aus Langeweile auf allerhand Torheiten, im Manöver dagegen herrschte die gewohnte strenge Zucht, so daß ein so unsicherer Kantonist da am Ende noch besser aufgehoben war.

Indessen bekam Plettau vor dem Abmarsch noch eine eingehende Ermahnung zu hören. Er sagte zu allem: »Zu Befehl, Herr Premierleutnant«, und als er auf die neue Form »Oberleutnant« aufmerksam gemacht wurde, erwiderte er ehrerbietig: »Zu Befehl, Herr Oberleutnant. Herr Premierleutnant verzeihen, man ist ›da‹ ein wenig außer der Welt.«

Güntz mußte sich abwenden, um das Lachen zu verbeißen. Auch er war neugierig gewesen, den 392 berüchtigten gräflichen Kanonier kennen zu lernen, und auch er war enttäuscht. Plettau schien ihm ein ganz guter Kerl zu sein, vielleicht fürchterlich verbummelt, aber keinesfalls schlecht. Er war erfreut, daß er sich in seiner Beobachtung nicht getäuscht hatte: den ersten beiden Angriffen Plettaus gegen die Vorgesetzten lag bei ehrlicher Betrachtung eine vorhergegangene Schikane, fast eine Mißhandlung, zugrunde, und gar die letzten fünf Jahre waren ihm zudiktiert worden, weil er einen Sergeanten, der erwiesenermaßen einen Kameraden mißhandelte, zu Boden geschlagen hatte. Staunenswert blieb darnach nur der fröhliche Gleichmut, mit dem der Graf sein Schicksal trug.

Plettau aber sprach nach dieser Unterredung mit dem Batterieführer vor den Kameraden der Stube IX sein Bedauern aus, daß er »seinen alten Hauptmann Wegstetten nicht habe begrüßen können«, und er freute sich zu hören, daß Oberleutnant Güntz nur zeitweilig die Batterie führte, so daß er, der älteste Kanonier, seinen verehrten Chef nach dem Manöver wiedersehen konnte. – –

Für die Herbstübungen wurden die Mannschaften und Pferde neu auf die einzelnen Geschütze verteilt. Vogt und Klitzing blieben auf ihren Plätzen. Im übrigen war das Geschütz folgendermaßen besetzt:

6. Geschütz.
Geschützführer: Unteroffizier Vertler–Christine.
Vorderreiter: Fahrer Nowack–Zenobia, Egon.
Mittelreiter: Fahrer Inoslawski–Viper, Eidechse.
Stangenreiter: Gefreiter Sickel–Türke, Cavalier.
Kanoniere: Graf Plettau, Wolf, Truchseß, Klitzing, Vogt.

Zugführer des dritten Zuges war Fähnrich Gysinger, soeben erst von der Kriegsschule zum 393 Regiment zurückgekommen und für den zur ersten Batterie versetzten Leutnant Landsberg eingetauscht.

Die Verteilung der Pferde hatte zum ersten Male Vizewachtmeister Heimert vorgenommen. Heppner schüttelte den Kopf, als er die Zusammenstellung der sechs Zugpferde für das sechste Geschütz las.

»Du,« sagte er zu Heimert, »das geht nicht. Vorder- und Mittelpferde – ganz schön, aber an die Stange muß unter den Sattel ein anderer Gaul. Der ›Türke‹ ist zu alt, gerade wo die sechste Kanone bei Aufmärschen immer den weitesten Weg hat.«

»Hab' ich dem Hauptmann auch gesagt,« versetzte Heimert, »denn die Sache stammt nämlich noch von Wegstetten. Ich wollte den ›Cyrus‹ an die Stange und den alten ›Türken‹ an den Packwagen. Aber weil die andern fünf die hellsten Braunen sind, hat Wegstetten auf dem ›Türken‹ bestanden. Dafür hat er dann auch Sickel darauf gesetzt, unsern besten Fahrer. Er meinte, der würde schon rausholen, was not tut.«

Heppner blieb bedenklich. »Ja freilich,« gab er zu. »Aber der alte ›Türke‹ hat eben nicht mehr viel zum Rausholen. Meinst du nicht, daß wir die Sache anders machen können?«

»Nein,« antwortete der Vizewachtmeister. »Du weißt ja, wenn Wegstetten sich einmal auf etwas versteift hat, dann ist nichts zu machen.«

Der Wachtmeister zuckte die Achseln und sprach: »Na, wenigstens tragen wir zwei dann nicht die Verantwortung. Wenn nur die Sache gut abläuft! Wir haben nämlich verdammt bergiges Terrain diesmal zum Manöver. Ein Quartier liegt dicht an der Grenze, über sechshundert Meter hoch. – die reine Gebirgsartillerie!«

Immer wieder ging er mit seinem unzufriedenen 394 Gesicht um die sechs Pferde herum. Sie paßten hübsch zusammen, an Farbe und der Größe nach. Für eine Parade würde er sie genau so zusammengestellt haben. Aber ein Manöver war doch keine Parade! Da kam es allein auf die Zugkraft der Tiere an, und es machte nichts aus, daß der dunkelbraune ›Cyrus‹ in die helle Gesellschaft kam. Und er kannte doch den ›Türken‹. Vierzehn Jahre waren zwar noch kein Alter für einen Gaul, aber es war bei den Tieren wie bei den Menschen: eins war mit sechzehn Jahren noch vollständig auf dem Damme, ein anderes hatte schon mit zwölf oder noch weniger abgewirtschaftet. Der ›Türke‹ war jedenfalls fertig.

»Meinetwegen!« brummte er schließlich. Gegen einen ausdrücklichen Befehl des Hauptmanns ließ sich ja doch nichts anordnen. – –

Am 30. August sechs Uhr früh stand die Batterie zum Aufbruch in das Manöver auf dem Kasernenhofe bereit.

Schon kurz nach dem Wecken waren im Stalle und auf den Stuben allerhand Gerüchte umgelaufen, daß bei den Heppners etwas passiert sei, und als man eben aufsitzen wollte, wurde es von einem dem andern erzählt: die Wachtmeisterin war gestorben.

Nun, das war eine höchst persönliche Angelegenheit, um derentwillen nicht der geringste Aufenthalt stattfinden konnte. Heppner blieb natürlich bis zum Begräbnistage daheim, und Käppchen versah bis dahin die Geschäfte des Wachtmeisters. Gleichwohl war die frohe Ausmarschstimmung gestört, und ein leise einsetzender Regen tat das übrige, um keine rechte Laune aufkommen zu lassen.

Diesmal marschierte die sechste Batterie als erste hinter dem Trompeterkorps, aber die stolzen Klänge 395 des Hohenfriedberger Marsches paßten schlecht zu den mißmutigen Gesichtern der Mannschaften und zu dem grauen Wetter.

Klitzing saß wiederum neben Vogt auf der Lafette des sechsten Geschützes. Aber es war anders als bei dem Marsch für die Schießübungen zur Pfingstzeit.

»Das ist ein böser Anfang!« sagte er zu dem Freunde. Halb für sich fügte er hinzu: »Wer weiß, wie das Ende sein wird.«

Allmählich verstärkte sich der Regen, so daß der Oberst beim ersten Halt die Mäntel anzuziehen befahl. Die Kanoniere hockten nun leidlich trocken auf ihren Sitzen, aber den Berittenen lief das Wasser in die hohen Stiefel, so daß die Füße beim Auf- und Abwippen des Trabes mit einem lauten schmatzenden Geräusch wie in einem Butterfasse auf und nieder patschten. Beim großen Halt legten sich nachher die Fahrer im Rasen auf den Rücken und streckten die Beine in die Luft. Dann rieselte ihnen das Wasser in kleinen Bächen aus den Stulpen heraus.

Am schlimmsten aber war Unteroffizier Käppchen daran. Er war stets ein miserabler Reiter gewesen und hätte eigentlich mit dem Packwagen marschieren sollen, in dessen Schoßkelle er sich auf mehr als einem Marsche schon ungemein wohlgefühlt hatte, nun mußte er plötzlich »Dornröschen«, das Reitpferd des Wachtmeisters, das nervöseste Tier der ganzen Batterie besteigen. Roß und Reiter waren von Anbeginn an durchaus uneins, und als sich Käppchen krampfhaft mit den Unterschenkeln festklammerte, kam es zur Katastrophe. Sporen hatte die Stute vom Wachtmeister fast nie zu fühlen bekommen, und nun kratzte ihr der Batterieschreiber unablässig die Flanken wund. Das ließ sich »Dornröschen« nicht gefallen. 396

Zuerst wurde Käppchen bügellos, dann verlor er den Sitz und schließlich glückte es ihm gerade noch, den Hals des Pferdes zu umklammern. In dieser seltsamen Lage überholte er auf dem durchgehenden Tiere die ganze Batterie. Das schallende Gelächter der Mannschaften machte die Stute nur noch toller, und wenige Meter vor der Spitze der Kolonne schleuderte ein jäher Satz zur Seite den Unteroffizier in den tiefen Straßenkot. –

Käppchen meinte im Fallen, das sei sein letztes, aber er fand sich heil im Schmutze wieder. Tot stellen konnte er sich nicht wohl, – so stand er langsam auf. Er blickte an sich hinunter: schauderhaft sah er aus.

»Dornröschen« aber schlug vor Freude, daß sie den schlechten Reiter los war, ein paar Mal hoch hinten aus, schüttelte sich und wieherte höhnisch. Dann galoppierte sie noch eine Strecke, nahm in einem prachtvollen Sprunge den breiten Straßengraben und begann in einem Maisfelde die zarten jungen Kolben abzuknappern.

Güntz, der Batterieführer, lachte hellauf, als er an den übel zugerichteten Schreiber herangekommen war. Er nahm ihm die Quartierausweise ab und hieß ihn das Pferd einfangen und darnach nachkommen. Zur Unterstützung gab er ihm einen Trompeter bei.

Der unglückselige Käppchen aber wusch sich vor der Jagd erst den Kot aus dem Gesicht. Unterdessen trabte die Batterie an, und sofort gab »Dornröschen« seine Weide auf und setzte sich an die vorschriftsmäßige Wachtmeisterstelle hinter dem letzten Geschütz. Der Trompeter erbat sich, die Stute dem Schreiber zurückzubringen, aber Käppchen schwur hoch und teuer, das 397 Rabenvieh nie wieder zu besteigen. Lieber wollte er zu Fuß marschieren, erklärte er.

Die Batterie hatte schon drei Stunden im Quartier geruht, da kam der Batterieschreiber erst an, lendenlahm und hundemüde.

Sein erstes war, sich vom Knecht des Quartierwirts die Peitsche zu leihen. Er schwippte sie grimmig durch die Luft und machte sich auf den Weg nach »Dornröschens« Stalle. Aber in der Tür trat ihm der Pfleger der Stute entgegen und weigerte sich schlechterdings, ihn einzulassen.

Käppchen befahl ihm als Vorgesetzter, zur Seite zu gehen, da versetzte der Fahrer: »Zu Befehl, Herr Unteroffizier, ich gehe, – aber ich rufe sofort Herrn Oberleutnant Güntz. Herr Unteroffizier wissen, er liegt mit hier auf dem Gute.«

Darauf wollte es der Batterieschreiber nicht ankommen lassen. Drohend und schimpfend entfernte er sich schließlich.

Der Fahrer aber trat zu »Dornröschen« in den Stand und tätschelte ihr zärtlich den Hals.

»Sei man ruhig, mein Röschen!« schmeichelte er. »Er darf dir nix tun. Hast's ganz recht gemacht! Immer runter mit dem Kerl, wenn er nicht reiten kann!«

Und die Stute spitzte die regen Ohren und rieb zutraulich den schönen Kopf an der Schulter ihres Wärters.

* * *

Das Manöver nahm seinen Anfang und Fortgang. Ein Tag war dem andern sehr ähnlich. Höchstens der Schauplatz wechselte. Im übrigen war es beinahe, als ob sich die Übungsvorgänge nach einer Schablone vollzögen. 398

In der Frühe versammelte sich die Brigade. Die zugeteilte Kavallerie war meist schon vorgetrieben und schickte ihre Meldungen zurück. Diese Husaren oder Ulanen waren Teufelskerle, sie verfehlten nie den Feind. Dann setzte sich erst die Avantgarde in Bewegung, und nach einer bestimmten Zeit folgte das Gros. Während des Marsches wurden die Batterien gewöhnlich nach vorn befohlen, und nun gab es einen Aufmarsch. Wenn man ungesehen vom Gegner in die Feuerstellung gelangen und ein überraschendes Feuer eröffnen wollte, schlich man sich beinahe auf den Knieen in die Linie, oder es ging in einem tollen Galopp über Gräben und Hindernisse vorwärts, wenn man im Bereich des feindlichen Feuers war.

Wenn dann die Kanoniere von ihren Sitzen in die Höhe geworfen wurden, schlugen die Infanteristen, die seitwärts, zur Verwendung bereit, auf der Erde lagen, ein helles Gelächter an.

Aber so ein Aufmarsch war prächtig anzusehen. Die Erde schien unter dem Dröhnen der schweren Geschütze zu zittern, die Tauketten klirrten, und das Sattelzeug knarrte. Die Pferde lagen fest im Geschirr, und die Mähnen flogen. Aber immer wurden die Tiere von den Fahrern zu noch rasenderem Laufe durch Sporen und Peitsche angestachelt. Da lag der Graben vor der Front. »Graben!« rief der Zugführer warnend nach hinten. Die Vorder- und Mittelpferde nahmen das Hindernis dicht hintereinander, aber der Stangenreiter mußte noch im Sprunge die Deichsel mit dem Riemen ein wenig anheben. Darnach schlugen die Räder der Protze und der Lafette in zwei gewaltigen Stößen auf den jenseitigen Grabenrand auf und warfen die Kanoniere wie Federn in die Luft, daß sie sich krampfhaft an die Lehnen anklammern mußten. 399

Da hatten die Infanteristen gut lachen. Aber wie nach dem Ende des Manövers der Abmarsch in die Quartiere sich vollzog, da schauten sie neidisch hinterdrein, wenn die Artilleristen sich in ihre hartfederigen Equipagen setzten und nach Haus gefahren wurden. Die Infanterie hatte womöglich noch den Staub zu schlucken, den die vorüberrollenden Geschütze aufwirbelten, und den Hohn obendrein, wenn die Kanoniere den armen »Fußlatschern« im Vorbeifahren Kußhände zuwarfen und den Dorfschönen Grüße zu bestellen versprachen.

Auch im Manövergefecht selbst waren die Artilleristen besser daran. Der Infanterist hatte immerfort zu marschieren, dann verfeuerte er kriechend oder liegend seine Platzpatronen und machte am Ende noch einen Sturmlauf gegen den »erschütterten« Feind. Die Batterien aber blieben zumeist in ihren Stellungen und gaben nur zuweilen einen Schuß ab, um die Munition für die letzten Manövertage im größeren Verbande zu sparen. Dazu hatten sie einen prachtvollen Überblick über das Gefecht und konnten in aller Ruhe zusehen, wie die dunklen Schützenlinien sich allmählich näherten, oder auch wie ein ehrgeiziger Eskadronschef eine unmögliche, aber sehr schneidige Attacke ritt.

So waren die Mannschaften durch das Manöver einstweilen nicht allzu stark in Anspruch genommen. Desto mehr wurden die Pferde durch den Dienst in dem bergigen Gelände mitgenommen. Sie verloren in kurzer Zeit das in den langen müßigen Sommermonaten angefütterte stattliche Fleisch. Die Batteriechefs zogen sorgenvolle Gesichter, wenn sie sich an den Ruhetagen die Gäule blank, ohne Sattel und Geschirr, vorführen ließen. und von Hauptmann 400 Heuschkel wurde erzählt, daß er beim Anblick seiner abgemagerten Rappen in Tränen ausgebrochen sei.

Oberleutnant Güntz setzte sich leichter darüber hinweg. Wenn die Pferde auch nicht mehr so rundlich aussahen, – leistungsfähig blieben sie jedenfalls. Es schien fast, als ob sie zäher aushielten, nachdem das überflüssige Fett heruntergearbeitet war. Und im übrigen: hatte nicht auch er dem Burschen auftragen müssen, die Knöpfe des Überrocks zurückzusetzen? – –

Vogt betrachtete die Gegend natürlich mit den Augen eines Bauern. Der Boden im Gebirge war nicht schlecht, freilich nicht der schwere Weizenboden seiner Heimat, aber doch von einer kräftigen, bindigen Erde. Wenn nicht die rauhen Jahreszeiten in dieser Höhe fast zwei Drittel des Jahres hausten, dann hätte er schon mehr als Roggen und Hafer gebracht. Aber die Landleute erzählten ihm von Ernten, bei denen sie die letzten Hafergarben aus dem ersten Herbstschnee hatten herausgraben müssen, und von Aussaaten, die noch Anfang Juni erfroren waren. Da konnte man es begreifen, daß es großenteils im Gebirge hieß: »Kartoffel, dir leb' ich, Kartoffel, dir sterb' ich.«

Er selbst riß einmal erstaunt die Augen auf, als am Morgen die ganze Landschaft mit Reif bedeckt vor ihm lag, – in den ersten Septembertagen! Die Sonne machte sich ja sogleich an die Arbeit und schmolz das Weiß hurtig weg, aber im Schatten, in den hinein ihre Macht nicht reichte, war noch am Mittag das welke Laub der Holzapfelbäume vom weißen Frostschleier übersponnen.

An den Ruhetagen griff Vogt beim Einernten der Feldfrüchte wacker zu, und es machte ihm Freude, 401 daß er noch ebenso wie früher die Garben auf den hochbeladenen Wagen reichen konnte und daß seine Sense noch mit genau so sicheren Strichen und genau so dicht über den Boden hin in das spärliche Grummetgras der Bergwiesen hineinschnitt.

Während Klitzing nach der Arbeit sich hinlegte und seine matten Glieder ausruhte, war Vogt noch lange bei seiner bäuerlichen Arbeit, und die Müdigkeit nach dieser segenbringenden Tätigkeit dünkte ihn köstlicher als die faule, träge Zeit, die man oft als Soldat genießen konnte, sobald nur erst die schlimme Ausbildungsperiode vorüber war.

Abends, nach dem Appell, ging er noch hinaus und mähte bis zur hereinbrechenden Dämmerung ein Stück Wiese. Wenn er dann, die Sense auf der Schulter, nach dem Hofe seines Quartierwirtes zurückkehrte, vergaß er zuweilen ganz und gar, daß er den Soldatenrock trug.

Die Pärchen, die eng umschlungen im Grünen spazierten, an Wegwindungen plötzlich auftauchten und ebenso plötzlich hinter dichten Hecken verschwanden, versetzten ihn wieder in die Wirklichkeit zurück.

Vogt überlegte, wie merkwürdig es doch war, daß er so wenig für die Frauenzimmer übrig hatte. Hin und wieder gefiel ihm wohl ein besonders hübsches, frisches Mädel, und er hätte es auch ganz gern recht tüchtig beim Kopfe genommen und geküßt, aber dazu war er allemal zu schüchtern, und bei den gemalten Frauenzimmern, die in der Garnison ihr Wesen trieben und den frischen, starken Burschen mehr als entgegenkommend anlächelten, mochte er nicht in die Lehre gehen.

Da behagten ihm die derben Dorfmädchen schon besser. Aber eines Abends hatte er ein Erlebnis, 402 das ihm auch an den Tugenden der ländlichen Schönen starke Zweifel erregte.

Der Tag war sehr heiß gewesen, und noch nach Sonnenuntergang bebte eine schwüle Hitze in der Luft. Vogt ging gemächlich zwischen den meist schon abgeernteten Feldern und blies den Rauch seiner Pfeife vor sich hin. Dabei musterte er die Äcker mit scharfen Augen. Er hätte nicht sorgsamer hinsehen können, wenn die Felder ihm gehört hätten.

Plötzlich tönten aus einer kleinen Talniederung laute, gellende Hilferufe hervor. Eine Frauenstimme war es, die anhaltend und jämmerlich schrie.

Im ersten Augenblick griff Vogt nach seinem Seitengewehr. Aber er hatte es in seinem Quartier gelassen. Nun, er verfügte ja über zwei starke Fäuste, und so lief er querfeldein auf die Baumgruppe des kleinen Tales zu und rief mit heller Stimme, was ihm gerade einfiel: »Halt! Halt!! Wer da?«

Näher kommend sah er ein paar Soldaten in eiligem Laufe unter den Bäumen weg nach dem Dorfe zu eilen und darnach auf der kleinen Wiese vor dem Wäldchen ein ganz besonderes Etwas, das er sich nicht zu erklären vermochte.

Als er ganz nahe herantrat, kam er schließlich dahinter, daß es sich da um einen Streich handelte, den irgendwelche Kameraden einer Magd gespielt hatten.

Sie hatten ihr die Röcke über den Kopf gestülpt und die Säume mit einem Bindfaden fest zugebunden. Die Kameraden nannten das »eine Tulpe drehen«. Nun lief das Frauenzimmer sehr komisch herum. Sie trug keine Unterkleider und war daher vom Gürtel an nackt. Der Oberkörper aber, Kopf und Arme 403 steckten in einem Gefängnis von wollenen Röcken, aus dem jetzt nur mehr ein dumpfer Ton hervordrang.

Vogt sagte sehr höflich: »Warten Sie, ich werde Sie gleich frei machen.«

Er zog sein Taschenmesser und schnitt den Bindfaden durch. Die Röcke fielen herab, und ein zerzauster Kopf kam zum Vorschein. Schämig verbarg die Magd ihr Antlitz in den Händen, aber zwischen ihren gespreizten Fingern hindurch schaute sie erwartungsvoll dem Soldaten ins Gesicht.

Der wackere Befreier stand stumm und ohne sich zu rühren an ihrer Seite.

Nun ließ die Magd die Hände sinken. Ein derbes, grobes, aber ganz hübsches Gesicht wurde sichtbar, und ein voller, etwas großer Mund lächelte den Kanonier zart an.

Noch immer stand der Brave, ohne sich vom Fleck zu bewegen.

Da kehrte sich das Mädchen schroff um und brummte: »Dummes Aas!«

Darnach ging sie schweigend in die zunehmende Dämmerung hinein. Noch einmal drehte sie ihr Gesicht nach dem Kanonier um.

Vogt betrachtete sich nachdenklich den Fleck, auf dem sie so seltsam bekleidet vor ihm geweilt hatte. Als er die Augen von dem Rasen wieder in die Höhe hob, war die Schöne in den ersten Schatten der nächtlichen Dorfstraße verschwunden. – –

Am Montag der dritten Woche nach dem Ausmarsch aus der Garnison begannen die Manöver der beiden Divisionen des Armeekorps gegeneinander.

Die doppelte Anzahl Truppen scharte sich auf dem Sammelplatz zusammen und bot in dem hellen Sonnenlicht ein buntes, bewegtes Bild. 404

An diesem Tage schien der Sommer für eine kurze Frist noch einmal zurückgekehrt zu sein. So tiefblau wölbte sich der Himmel, und so heiß prallten die Sonnenstrahlen auf die Erde hernieder. Trotzdem empfand man die Hitze nicht als eine drückende, sie war durch die kühleren Lüfte des Gebirges von Dunst und Schwüle gereinigt.

Die sechste Batterie des Osterländischen Feldartillerie-Regiments war der Avantgarde zugeteilt und hielt sich marschbereit. Kanoniere und Fahrer standen, des Befehls zum Aufsitzen gewärtig, hinter den Geschützen und neben den Pferden.

Vogt wunderte sich über Klitzing. Noch niemals hatte der Freund eine solche Munterkeit an den Tag gelegt. Die Augen strahlten ihm, und die Wangen waren ihm leise gerötet. Vogt dachte bei sich, daß der Schreiber, wenn er sich so lebhaft gab, eigentlich ein ganz hübscher, stattlicher Bursche war. Er hatte sich herausgemacht beim Militär.

Nun, er war's schon zufrieden; gutmütig mit dem Finger drohend, fragte er: »Du, Heinrich, du hast doch nicht etwa schon ein paar hinter die Binde gegossen? Oder was ist denn das sonst für ein Glückstag?«

Klitzing antwortete: »Ach, du, mir ist heute – ich weiß selber gar nicht wie. Kräfte hab' ich, und wohl ist mir, und ich bin ordentlich zitterig, als ob mir heute ein großes Glück passieren müßte. Weißt du, wenn mir's nur früher mal so gegangen wäre, zu Hause, – da hätte ich ein Lotterielos gezogen und hätte sicher das große Los gewonnen!«

Vogt versetzte: »Na, denn paß nur auf den nächsten solchen Tag auf, daß du's da nicht versäumst!« 405

Der Schreiber schüttelte den Kopf.

»Ach nein,« erwiderte er, »solche Tage kommen nur einmal und dann nie wieder. Da werde ich wohl schon auf das große Los verzichten müssen und als armer Teufel sterben. Aber schön ist's doch, wenn man sich mal so froh und frei fühlt. Und nun noch die Luft und die prachtvolle Sonne dazu!«

Er nahm Vogt derb bei den Schultern und schaute ihm mit seinen glücklichen Augen ins Gesicht.

Da rief plötzlich von den Pferden her eine grobe Stimme: »Euch Kerls ist doch immer zu wohl! Was ihr nur bloß immer zu feixen habt!«

Der Gefreite Sickel schaute mit einer mürrischen Miene nach hinten und schüttelte verächtlich den Kopf. Ihm, als Fahrer, galten die Kanoniere nur halb.

Was hatte so ein Kerl für ein leichtes Leben! Er dagegen, – um was mußte er sich nicht alles sorgen? Er trat zu seinem Gespann und betrachtete kummervoll sein Sattelpferd, den »Türken«. Der Wallach stand mit hängendem Kopfe da und rührte und rüttelte sich nicht. Am Morgen hatte er nicht gefressen. Was sollte man nun auf einem kranken Stangensattelpferd machen? Er hatte den Hafer dem Hellbraunen auf seinen Händen vors Maul gehalten, aber der »Türke« nahm kein Körnchen. Da meldete er die Sache dem Geschützführer, aber es war bereits zu spät, das kranke Tier auszutauschen. Der Packwagen mit dem »Cyrus« war schon unterwegs. Der arme »Türke« mußte schon diesen Tag noch mittun.

Zum Glück ließ sich die Übung, wenigstens im Anfange, recht mild an.

Die Avantgarde setzte sich in Bewegung, ein Bataillon Infanterie voraus, dann die Batterie und hinter ihr die übrigen beiden Bataillone des 406 Regiments. Der Marsch ging in einem Talgrunde aufwärts eine mäßig ansteigende Chaussee entlang. Zu beiden Seiten zogen sich ziemlich steile Höhen hin.

Seit dem Aufbruch mochte wohl eine Stunde und mehr verflossen sein, da zeigten sich endlich die Meldereiter der Kavallerieoffizierspatrouillen. Sie kamen aber nicht von vorn, sondern seitwärts zur Linken den gestrüppbewachsenen Abhang herunter. Diesmal schienen sie es gewaltig eilig zu haben. Die Pferde waren schaumbedeckt und trieften von Schweiß.

Und sogleich bog die Spitze der Avantgarde von der Straße ab und schlug den nächsten Weg ein, der in steilen Windungen auf die Höhe zur Linken führte. Es war ein böses Stück Arbeit. Die Zugpferde lagen fast schräg im Geschirr und stapften in kleinen, schnellen Schritten mit den Hinterhufen nach, um die Last der Kanonen fortzubringen.

Wachtmeister Heppner, der neben Sergeant Wiegandt als »Schließendem« hinter dem letzten Geschütz ritt, brummte vor sich hin: »Ich sage es ja: die reine Gebirgsartillerie!«

Er trabte ein paar Schritte vor, um sich zu überzeugen, wie es mit dem »Türken« stand, bei dem seine Voraussage so pünktlich eingetroffen war. Der Hellbraune war schon über und über naß vor Schweiß und keuchte vor Anstrengung.

Heppner kraute sich den Kopf; dem armen Vieh durfte heute nicht mehr viel zugemutet werden.

Aber das Schlimmere stand noch bevor.

Güntz war mit dem Avantgardenkommandeur nach vorn galoppiert, und kaum hatte die Batterie den Abhang vollständig erklommen, so kam schon der Befehl zum Aufmarsch. Eine leicht geneigte Hochebene war dabei noch zu überwinden; hinter dem Kamm 407 sollte die Batterie so schnell als möglich in Stellung gehen.

Hintereinander kamen die Kommandos: »Trab!« und »Galopp – marsch!«

Der Fähnrich prellte mit seinem Zuge viel zu weit nach rechts, gerade nach der Stelle, wo das Gelände am jähsten abfiel, und Unteroffizier Vertler, der Führer des sechsten Geschützes, ließ es damit noch nicht genug sein und nahm einen Abstand, der wohl um das Doppelte zu groß war. Auf diesem Flecke bis zum Kamm vorzukommen, war rein unmöglich.

Heppner sah unruhig hinüber.

Schnell entschlossen übertrug er Sergeant Wiegandt seine Obliegenheiten als Wachtmeister und sprengte nach dem rechten Flügel, um die Sache irgendwie noch ins Lot zu bringen.

Aber das Unglück hatte bereits seinen Anfang genommen.

Das sechste Geschütz war aus dem Galopp in Trab und aus dem Trab in Schritt gefallen. Schließlich konnten die sechs Pferde das Geschütz keinen Zoll weiter bringen.

Der Boden war von einer glatten, harten Grasnarbe bedeckt, die den Hufen wenig Halt bot. Zitternd und schnaubend hielten die Tiere das Gewicht des Geschützes in der Schwebe, indem sie, nach vorn geneigt, stampfend mit den Hinterhufen festen Fuß zu fassen suchten. Die Kanoniere waren abgesessen und suchten, in die Speichen der Räder greifend, nachzuhelfen.

Der Wachtmeister hielt daneben und feuerte besonders den Stangenreiter an.

»Los, Sickel!« rief er. »Zeig', was du kannst! 408 Willst unser bester Fahrer sein und kommst das Bergelchen nicht rauf. Los, mach' dein Meisterstück!«

Und der Gefreite hing sich fast auf den Hals des »Türken«, um die greifende Hinterhand zu entlasten, und wirklich kam das Geschütz ein paar Zentimeter weiter. Aber da knickten die Hinterfüße des »Türken« ein, das Tier brach zusammen und glitt auf dem glatten Boden aus.

Durch diesen Ruck hatten auch die übrigen fünf Pferde ihre Widerstandskraft verloren. Sie begannen rückwärts zu treten.

»Die Bremskette vor!« brüllte Heppner.

Vogt sprang hinzu und schlang blitzschnell die Kette um die Speiche. Einen Augenblick hielt sie aus, dann gab es einen hellen, metallischen Ton, und die Kette zersprang.

Und nun rollte das Geschütz den Abhang hinunter, immer schneller und die sechs machtlosen Pferde hinter sich herschleifend. Eines nach dem anderen rutschte auf dem schlüpfrigen Rasen aus und wurde mit fortgerissen, wild mit den Hufen in die Luft schlagend oder die Beine in den Tauen verwickelt. Nur dem Vorderreiter glückte es, aus dem Sattel zu kommen; er blieb, regungslos vor Schreck, auf dem Abhang liegen. Inoslawski und Sickel tauchten in dem Gewühl der Pferdeleiber unter.

Bei diesem Anblick stieß der Wachtmeister einen gräßlichen Fluch aus. Er sprang aus dem Sattel und warf Plettau, der ihm zunächst stand, die Zügel zu. Dann lief er den Hang hinunter.

Ein Zufall hatte das Allerärgste verhütet. Am oberen Rande des Abhangs befand sich eine Mulde mit einer ebenen Sohle. Vielleicht waren früher einmal aus der Vertiefung Steine gebrochen worden. Auf 409 diesem ebenen Grunde war das Geschütz zum Stehen gekommen, so daß es vor dem Sturz in die volle Tiefe des steil eingeschnittenen Tales bewahrt geblieben war.

Aber es sah fürchterlich genug in der Mulde aus. Die sechs Pferde lagen eng aneinander gedrängt. Immer wieder versuchten sie sich aufzurichten, aber in dem dichten Knäuel hinderte eines das andere. Zwischen dem Schnauben und Prusten der rasenden Tiere hörte man das Stöhnen Sickels, der irgendwo unter einem Gaule lag. Inoslawski war durch einen Glücksfall frei gekommen und stand seitwärts, mit blöden Blicken das Unheil anstierend.

Heppner hatte sich im Augenblick gefaßt. Er rief die vier Kanoniere heran und sprang selbst als erster in die Mulde hinunter. Vertler, der Geschützführer, hielt zu Pferde am Rande der Grube und schien nicht begreifen zu können, was geschehen war.

Sofort hatte der Wachtmeister Sickel erblickt. Er lag mit dem linken Beine unter dem Leibe des »Türken« und verkroch sich hinter dem Halse des Wallachs, um nicht von den Hufen des wütend ausschlagenden Mittelhandpferdes getroffen zu werden.

»Ran, Vogt und Truchseß!« befahl Heppner. »Wir wollen ihn vorziehen.«

Sie faßten den Gefreiten unter den Armen an und suchten ihn unter der Last des Pferdes hervorzuzerren. Aber das ging nicht so leicht, und in demselben Augenblicke, als sie sich zum zweiten Male niederbeugten, machte eines der vorderen Pferde eine Drehung und riß Vogt um.

Der Kanonier fiel, verwickelte sich in den Zugtauen und konnte nicht wieder in die Höhe.

Von neuem begann die »Eidechse«, das Mittelhandpferd, auszuschlagen. Sie hatte in der 410 Hinterbacke einen klaffenden Riß, aus dem das Blut in Strömen floß, und geberdete sich vor Schmerz wie rasend. Auf dem Rücken liegend drehte sie sich hin und her. Die glattgelaufenen blanken Eisen blitzten immer näher an Vogts Kopfe vorbei und streiften ihn schließlich, so daß ihm der Helm vom Kopfe flog und das Blut unter dem kurzgeschorenen blonden Haar hervorschoß. Der nächste Schlag mußte ihm den Schädel zerschmettern.

Klitzing sah die unvermeidliche Gefahr, und plötzlich warf er sich mit seinem Körper blindlings auf die wütend dreinhauenden, eisenbeschlagenen Hufe.

Da lag der Freund, verloren, nicht zu retten, das scharfe, schwere Eisen mußte ihn tödlich treffen. Blitzschnell flog es dem Schreiber durch den Sinn, wie damals Vogt für ihn geblutet hatte. War das nicht jetzt die Stunde des Dankes? War vielleicht das sein Lebenszweck, dem anderen, Kräftigeren, das Leben zu erhalten?

Und war nicht heute sein Glückstag? Es dünkte ihn, daß er Riesenkräfte in sich hätte. O ja, er wollte diese ungebärdigen Hufe mit seinen Armen niederdrücken, bis der Freund gerettet war. Und er warf sich getrosten Mutes als ein starker Schirm und Schutz zwischen den Freund und die Gefahr.

Im nächsten Augenblick traf ihn ein wilder Schlag des Hufeisens in die Seite. Er wurde fortgeschleudert, taumelte und fiel leblos zu Boden. Sein Gesicht war leichenbleich, und Blut trat zwischen seinen Lippen hindurch.

Aber währenddessen bekam Vogt seine Füße frei und richtete sich behende auf. Doch sogleich befiel ihn ein Schwindel. Er setzte sich auf den Abhang und stützte den schmerzenden Kopf in die Hände. 411

Wiederum stieß der Wachtmeister seinen Fluch aus.

Er blickte verzweifelt von dem fürchterlichen Wirrsal auf und er sah den Geschützführer, immer noch mit stumpfsinnigen Augen in die Mulde hinabstarrend.

»Kerl!« schrie er ihn an. »So schlaf' doch nicht ein!«

Mit bewunderungswürdiger Klarheit gab er seine Befehle: »Reite, was dein Vieh läuft, und hole Arzt und Roßarzt! Lazarettgehilfen auch!«

Und sofort fügte er noch hinzu: »Und schick' die Bespannung vom fünften Geschütz hierher und melde die Sauerei!«

Denn wie für Mensch und Tier gesorgt werden mußte, so durfte auch der Dienst nicht zu kurz kommen. Das Geschütz mußte in jedem Falle möglichst schnell wieder marschfertig gemacht werden und in die Feuerlinie einrücken.

Der Unteroffizier verschwand im Galopp.

Nun machte sich Heppner von der anderen Seite an die Entwirrung des Tierknäuels.

Er befreite zunächst die Vorderpferde von den hemmenden Geschirrteilen und half ihnen auf. Sie schienen unverletzt zu sein, schüttelten sich und traten unruhig hin und her. Er ließ sie von dem Vorderreiter zur Seite führen.

Dann wandte er sich zu den Mittelpferden. Inoslawski unterstützte ihn dabei. Das Sattelpferd war heil, aber die »Eidechse« hatte in der Hinterbacke eine klaffende Wunde. Man hätte fast den Arm hinein legen können. Wolf mußte sie am Trensenzügel halten und hatte Mühe, sie zu bändigen.

Auch das Stangenhandpferd richtete sich gutwillig auf, aber gerade der »Türke«, unter dem Sickel sich in seinen Schmerzen krümmte, hatte Schaden genommen. 412 Der rechte Hinterfuß schien gebrochen zu sein. Schließlich richtete sich der Wallach auf den Vorderbeinen halb in die Höhe, und in diesem Augenblick zog Truchseß den Fahrer unter dem Sattel vor. Sickel machte einen schwachen Versuch aufzustehen, aber er fiel ohnmächtig zurück.

Der Wachtmeister wischte sich den Schweiß von der Stirn!

Zum Teufel! Das war ein schweres Stück Arbeit gewesen!

Er sah sich um: drei Mann und zwei Pferde kaput. Nun, es hätte auch noch schlimmer ablaufen können.

Am schlechtesten stand es wohl mit Klitzing. Der Schreiber lag immer noch regungslos da, und nur der beim Atmen sich bewegende blutige Schaum vor dem Munde verriet, daß noch Leben in dem starren Körper war.

Der Wachtmeister ging zu dem Bewußtlosen hin und bettete ihm behutsam den Kopf auf den Brotbeutel. Dann richtete er sich langsam wieder in die Höhe und blickte lange in das totenblasse Gesicht. Er hatte den schwächlichen Menschen nie leiden mögen. Aber Donnerwetter ja! Was der da heute getan hatte, das war anständig, das war brav gewesen!

Wollte denn aber der Schreiber gar nicht wieder aus seiner Ohnmacht aufwachen?

Heppner ließ sich aus seiner Satteltasche eine Glasflasche voll Kognak reichen und rieb dem Kanonier sorgsam die Stirn. Er versuchte, ihm einen Tropfen zwischen die Lippen einzuflößen, – alles war vergebens. Kein Zucken, kein Laut. Die Augen blieben geschlossen. 413

Und der Wachtmeister schaute ungeduldig aus, ob nicht ein Arzt herankäme.

Die anderen beiden Verletzten schienen weniger mitgenommen zu sein.

Dem Gefreiten kehrte sogleich das Bewußtsein zurück, als er den Kognak auf der Zunge spürte. Er nahm einen gehörigen Schluck und antwortete auf des Wachtmeisters Frage, wie es ihm gehe: »Zu Befehl, gut, Herr Wachtmeister. Bloß das linke Bein scheint nicht in Ordnung zu sein. Ich werde es mir wohl ein bißchen verstaucht haben.«

Vogt versuchte sogar aufzustehen, um dem Wachtmeister in der vorgeschriebenen strammen Haltung Rede zu stehen, aber er taumelte wieder zurück und erwiderte matt, es drehe sich ihm noch alles im Kopfe. Sonst sei ihm aber nichts passiert.

Von oben, vom Abhang her, tönten Hufschläge und das Klirren von Geschirrketten herab. Es war Unteroffizier Vertler und der Bespannungszug des fünften Geschützes, immer noch nicht der Arzt. Aber Vertler meldete, ein Trompeter sei auf der Suche nach ihm und einstweilen käme der Lazarettgehilfe heran.

Nun war für den Wachtmeister keine Zeit mehr, sich um die Verwundeten zu kümmern. Er vertröstete sie auf den Lazarettgehilfen und den Arzt. Auch für die Pferde ließ sich einstweilen nichts tun. Der »Türke« lag immer noch hilflos auf dem Rücken, und die »Eidechse« hatte sich endlich beruhigt. Auf drei Beinen stand sie da, den beschädigten Hinterschenkel schonend und den Kopf hängen lassend. Das Blut fing an auf der Wunde zu gerinnen und einen natürlichen Verband zu bilden. Heppner band sie in Vogts Nähe an einen Baumstumpf.

Dann ließ er das Geschütz bespannen. Der 414 »Türke« wurde aus dem Geleise geschleift, und Inoslawski vertrat mit seinem Mittelsattelpferd und mit dem Stangenpferd die Stelle des Stangenreiters. Vor ihm zogen die zwei Vorderpferde, und wiederum vor diese war die ganze Bespannung des fünften Geschützes gestellt. Heppner hieß die Deichsel vorsichtig nach der Seite wenden, wo die Mulde am flachsten anstieg. Auf seinen Zuruf legten sich die zehn Pferde gemeinsam ins Geschirr, die drei übrig gebliebenen Kanoniere halfen in den Rädern nach, und langsam bewegte sich die Last den Abhang hinauf.

Nachdem die Protze einmal erst den Rand überwunden hatte, war das Spiel gewonnen. Die lange Reihe der fünf Pferdepaare brachte das Geschütz in die Feuerlinie, und es reihte sich geschwind in die Feuerordnung ein, nicht anders, als ob ein Ausfall von Mannschaften und Pferden nur zu Übungszwecken angenommen worden wäre. Der Geschützführer half als Richtkanonier aus, und Graf Plettau übernahm Vogts Obliegenheiten. Die Bedienung des Geschützes vollzog sich nicht weniger schnell, als wenn noch zwei Mann mehr daran teilgenommen hätten, und Schuß um Schuß dröhnte gegen den Feind.

Der Steinbruch war so gelegen, daß die Schallwellen der Kanonenschläge darüber hinweg glitten. Man hörte nur wie aus weiter Ferne leise Erschütterungen.

Immer noch hatte sich Klitzing nicht gerührt. Der Gefreite war erschöpft von neuem zurückgesunken, nachdem er sich ein bequemeres Lager für den Kopf zurechtgemacht hatte, und Vogt lehnte am Abhang, den wirren Kopf in die Hand gestützt. Das Blut sickerte ihm zwischen den Fingern durch und tropfte ihm aufs Knie. Er suchte und überlegte und konnte doch nicht 415 begreifen, was sich ereignet hatte. Das Hufeisen des Gaules hatte ihm an die Stirn gepocht, – dessen vermochte er sich zu entsinnen, und es war ihm auch haften geblieben, daß darnach abermals der beschlagene Huf nach ihm ausgeholt hatte, aber von da an war ihm die Erinnerung entschwunden.

Gleitend und rutschend eilte der Lazarettgehilfe den Abhang hinunter. Drei lagen da. Zwei davon hatten die Augen offen, der dritte nicht. Zu dem wandte er sich zuerst. Er ließ ihn Äther riechen, versuchte, ihn aus der Labeflasche zu tränken und rieb ihm die Stirn. Er öffnete ihm Rock und Halsbinde und klopfte ihm die Handteller. Alles umsonst. Aber der arme Teufel atmete wenigstens noch, wenn es auch in der Brust nur noch wie ein Gurgeln und Röcheln klang.

So wandte er sich einstweilen zu den beiden andern. Er gab Vogt ein Stück Verbandwatte und hieß ihn es an die Wunde drücken. Dann setzte er ihm die Flasche an den Mund und ließ ihn trinken. Vogt nahm einen vollen Schluck. Die Flüssigkeit schmeckte säuerlich und erquickend und drang ihm prickelnd und gleichsam weckend durch die Nase in den Kopf.

Sickel lehnte energisch das Getränk ab.

»Geh mir mit deiner Suppe, Knochenbrecher!« sagte er. »Aber wenn du 'nen Schnaps hast, den nehm' ich gern.«

Der Sanitätssoldat hatte keinen.

»Wo fehlt dir's denn?« fragte er den Gefreiten.

»Hier hab' ich meinen Knacks weg,« antwortete der Fahrer, indem er auf sein Bein zeigte.

»So?« versetzte der Lazarettgehilfe. »Na, im großen Ganzen scheint dir's aber nicht schlecht zu gehen. Was ist nur bloß mit dem hier? Er wacht und wacht nicht auf!« 416

Dabei wies er auf den regungslosen Klitzing.

Sickel meinte: »Vielleicht bringt ihn kaltes Wasser zu sich. Da links unten fließt welches. Man hört's von hier aus.«

»Dann will ich mal runter,« erwiderte der Sanitätssoldat.

Er legte die Labeflasche zu Vogts Füßen nieder und kletterte durch das Gestrüpp abwärts. Man hörte dürre Zweige unter seinen Schritten knacken und die Äste der Sträucher hinter ihm zusammenschlagen. Darnach war es wieder ganz still.

In großen Zwischenräumen dröhnten ein paar vereinzelte Schüsse herüber, und irgendwo in einem Busche begann eine Amsel zu schlagen. Die Sonne schien hell in die Mulde hinein.

Vogt hob langsam den Kopf in die Höhe und blickte sich erstaunt um. Der Trank hatte ihn wunderbar erfrischt. Wo war er nur? Neben ihm stand ein Gaul und blutete aus einer klaffenden Wunde am Hinterschenkel. Nicht weit davon lag ein Kamerad, wie ein Toter hingestreckt, leichenblaß, mit geschlossenen Augen, blutigen Schaum vor dem Munde. – Das war doch Klitzing!

Er griff sich nach der Stirn, und mit einem Male teilte sich in seiner Erinnerung der verhüllende Vorhang. Er erkannte, was darnach geschehen war, als er den Huf nach seinem Schädel hatte zucken sehen. Ein dunkler Körper hatte sich zwischen ihn und das blanke Eisen geworfen, – auf den war der Schlag gefallen. Es hatte einen dumpfen, schrecklichen Ton gegeben, und dann – dann war er in die Höhe getaumelt.

Und plötzlich wußte er alles: Klitzing war es gewesen, der sich da für ihn geopfert hatte, der Freund hatte ihn vor dem tödlichen Schlage des Hufeisens 417 bewahrt und lag nun dort auf dem Rasen, bleich, bewußtlos, die Augen fest geschlossen, – vielleicht tot.

Da öffneten sich schwerfällig die Lider des Ohnmächtigen, ein matter Blick suchte in der Runde und blieb mit einem Ausdruck grenzenloser Hingebung auf Vogt haften.

Vogt stürzte zu dem Schreiber hin.

Er warf sich zu ihm nieder und nahm das blasse Gesicht in seine Hände.

»Heinrich!« rief er. »Mein guter, lieber Heinrich! Das hast du für mich getan!«

Helle Tränen liefen ihm über die Wangen, und er konnte vor Schluchzen nur immer wieder stammeln: »Heinrich! Mein guter, lieber Kerl!«

Es war, als ob Klitzing sprechen wollte. Die Lippen bewegten sich ein wenig, aber es kam kein Wort zwischen ihnen hervor. Eine kraftlose Hand hob sich zur Schulter des Freundes empor, streichelte ihn matt und fiel schwer zurück.

Von neuem schlossen sich die Augen, und die Lider blieben geschlossen, so inständig Vogt auch bat und flehte: »Heinrich, Heinrich! So sag doch, wo dir's fehlt! Daß ich dir vielleicht helfe!«

Sickel schaute den beiden Kameraden nachdenklich zu. Er dachte an den Augenblick vor dem Abmarsch, wie froh und lustig da die beiden Kanoniere beieinander gestanden hatten.

Mit einem Male drehte er den Kopf zur Seite und lauschte.

»Der Doktor kommt,« sagte er.

Gerade war der Lazarettgehilfe mit einer Blechschale voll Wasser wieder aus dem Gebüsch hervorgekommen.

»Wirklich?« fragte er. »Woher weißt du das?« 418

»Ich höre den ›Brutus‹,« antwortete der Fahrer.

Und in der Tat ließ sich ein Geräusch vernehmen, das an das unwillige Grunzen eines Schweines erinnerte. Der »Brutus«, der es auf der Lunge hatte und ewig hustete, gab solche Laute von sich, wenn er galoppieren mußte.

Gleich darauf stieg der dicke Assistenzarzt Rademacher in den Steinbruch hinunter. Ein schneller Ritt lag hinter ihm. Er war dunkelrot im Gesicht und triefte von Schweiß.

»Nun, was ist hier los?« fragte er.

Er wandte sich zuerst an den Fahrer, aber Sickel wehrte ab: »Herr Assistenzarzt verzeihen, ich habe Zeit. Der andere da braucht es nötiger.«

Rademacher beugte sich zu Klitzing nieder. Als er den roten Schaum vor dem Munde gewahrte, zog er unwillkürlich ein ernstes Gesicht. Er legte das Ohr auf die Brust und horchte lange.

»Was ist dem Mann passiert?« erkundigte er sich.

Vogt zeigte auf die »Eidechse«, die mit stumpfen Augen herüberschaute, und gab zur Antwort: »Die da hat ihn mit dem Eisen an die Brust geschlagen.«

»Sehr?«

»Zu Befehl, Herr Assistenzarzt. Er hatte sich dazwischen geworfen, daß ich nicht wieder getroffen würde.«

Der dicke Assistenzarzt blickte erstaunt auf. Das war ein Ereignis, das in der Rauheit des Soldatenlebens seltsam zart berührte. Er sah die Tränen in den gutmütigen Augen des Burschen und begriff.

»Sie waren wohl gute Freunde?«

»Zu Befehl, Herr Assistenzarzt. Und – und – wie steht es nun mit ihm?« 419

Rademacher sah unschlüssig auf den Todwunden hinab und antwortete ausweichend: »Tja –, mal abwarten.«

Noch einmal horchte er, dann stand er auf. Seiner Überzeugung nach hatte der Verletzte höchstens noch Stunden zu leben, vielleicht sogar nur Minuten.

»Ist er noch einmal zum Bewußtsein gekommen?« fragte er noch.

»Zu Befehl. Aber nur ganz kurze Zeit.«

Der Arzt zuckte die Achseln.

»Und was haben Sie?« wandte er sich an den Gefreiten.

»Das Bein hier, Herr Assistenzarzt, ist nicht ganz in Ordnung. Der ›Türke‹ dort hat mir darauf gelegen. Da werd' ich's mir wahrscheinlich verstaucht haben. Wenn es Herr Assistenzarzt einrichten möchten, dann geht's schon wieder.«

Rademacher zog dem Fahrer mit Hilfe des Sanitätssoldaten die Reithose herab. Er war schnell fertig.

»Zweimal gebrochen haben Sie den Oberschenkel,« sagte er. »Aber einrichten wollen wir's Ihnen schon.«

Sickel hörte mit offenem Munde zu.

»Dann kann ich wohl nicht mal mit entlassen werden?« erkundigte er sich.

Der Assistenzarzt lächelte: »Nein, Freundchen, seine vier bis sechs Wochen wird das wohl dauern.«

Das war dem Fahrer außer dem Spaße, und er schalt laut vor sich hin. Es hätte getrost noch weher tun können, obwohl er ohnedies die Engel singen hörte, – aber nicht entlassen werden, das war hart, das hätte nicht kommen dürfen.

Während dessen legte der Lazarettgehilfe 420 geschickt einen Verband um Vogts Stirne. Rademacher schaute nachsinnend auf Klitzing herab. Schließlich kehrte er sich weg. – Ein hoffnungsloser Fall.

Er schickte den Trompeter, der mit ihm gekommen war, nach einem Krankenwagen. Ganz in der Nähe hatte er einen auf der Straße halten sehen.

Unruhig auf und ab gehend, suchte er die Zeit des Wartens abzukürzen. Jedesmal, wenn er an dem Schreiber vorüberschritt, schaute er nach den schwer atmenden Lippen. Es war ein wahres Wunder, daß der Mensch noch lebte. Drei Rippen waren gebrochen und hatten die Lunge so schwer verletzt, daß ein starker Bluterguß stattgefunden hatte.

Endlich kamen vier Trainsoldaten mit zwei Tragbahren die Höhe herunter.

Klitzing wurde zuerst gebettet.

»Wohin soll er kommen?« fragte der vordere Träger.

Rademacher überlegte und antwortete dann: »Oben, gleich am Bergrande, ist ein Gehöft, ein Vorwerk oder sowas. Dahin! Auf meine Verantwortung.«

Die Träger setzten sich in Bewegung. Vogt schloß sich ihnen an. Der Arzt hatte auf seinen fragenden Blick zustimmend genickt.

Auch Sickel sollte eben weggetragen werden, da kamen zwei Roßärzte an, um nach den verletzten Pferden zu sehen. Der Fahrer bat: »Herr Assistenzarzt verzeihen, ich möchte nur noch zu gern wissen, was mit meinem Gaul ist.«

Rademacher hieß die Trainsoldaten warten.

Ebenso schnell wie bei dem Reiter war die Diagnose bei dem Pferde gestellt. Der Roßarzt richtete 421 sich auf und sagte zu seinem Kollegen: »Die linke Hinterfessel ist gebrochen.«

»Und was wird da, Herr Roßarzt?« fragte der Fahrer.

Der Angeredete zuckte die Achseln. »Futsch!« sagte er.

Sickel sah nach dem »Türken« hinüber. »Armer, alter Kerl!« brummte er vor sich hin.

Und er ließ sich an den Kopf des Braunen hintragen, faßte ihn zärtlich bei dem Stirnschopf und tätschelte ihm die Backe. Und der »Türke« rappelte sich mühsam in die Höhe und rieb seine Nase an dem Bein seines Reiters.

Da warf sich der Gefreite heftig auf die andere Seite und trieb die Träger zur Eile: »Nun macht, daß ihr mich wegbringt!«

Der »Türke« sah mit seinen großen Augen der Bahre nach, und als sie hinter dem Höhenrande verschwunden war, schnaubte er ängstlich.

Kurze Zeit darauf war es in der Steinbruchsmulde wieder so einsam und ruhig wie in der Zeit vor diesem Morgen, als die Amseln in dem wildwuchernden Buchengesträuch genistet hatten. Aber Gräser und Stauden waren ringsum zerstampft. Der Fleck sah wie der Schauplatz eines Kampfes aus, und inmitten des Kampfplatzes lag der Kadaver des »Türken.«

Am Spätnachmittag kamen Mannschaften mit Hebezeug und fuhren den schweren toten Gaul auf einem Karren zum nächsten Abdecker. – –

Als Vogt und die Krankenträger den Abhang erklommen hatten und das Gebäude zu Gesicht bekamen, das der Assistenzarzt gemeint haben mußte, hielten sie zweifelnd inne. Dr. Rademacher hatte von 422 einem Vorwerk oder einem Gehöft gesprochen, – das war aber ein richtiges kleines Schloß, das sie erblickten. Indessen – weit und breit war kein anderes Dach zu sehen, es mußte wohl das rechte sein.

Das Manöver hatte sich seitwärts gezogen, und die weite Hochfläche lag menschenleer da.

In dieser Einsamkeit machte der Bau einen fast unheimlichen Eindruck.

Das Schlößchen mochte vor langen Jahren einem der Edelleute, die in dieser wildreichen Waldgegend ausgedehnte Flächen besaßen, als Jagdhaus gedient haben. Von einem turmartigen, mit einer runden Kuppel gekrönten Mittelbau liefen zwei kurze Seitenflügel aus. Die Gebäude waren von einer parkartigen Anlage umgeben, deren zopfig steife Linien noch deutlich sich erkennen ließen. Aber die Hecken waren ungekürzt in die Höhe geschossen und bildeten undurchdringliche grüne Mauern, und die zierlichen, gestutzten Bäumchen von ehemals waren zu ernsten, stattlichen Baumgruppen emporgewachsen, beide zusammen mit dem Wiesengrund des Bodens einen Naturpark bildend, dessen freie, einfache Schönheit in einem scharfen Gegensatz zu der überladenen, verschnörkelten Bauart des Schlößchens stand. Rings um die ganze Besitzung lief ein kunstvoll geschmiedetes, reichverschlungenes Eisengitter, von Sandsteinsäulen gestützt, die mit verwitterten Eberköpfen geschmückt waren.

Die Krankenträger blickten durch die mit einer Grafenkrone gezierten Tür nach dem Eingang des Gebäudes. Blanke Steinplatten führten zu einer kleinen Freitreppe. Nirgends war eine Spur von Lebendigem zu entdecken. Und doch mußten Bewohner vorhanden sein. Längs der Steinplatten welkten Grashalme, die aus den Fugen des Ganges 423 gejätet waren, in der Wärme des Mittags, die Messinggriffe des Türschlosses blinkten hell wie frisch geputzt und in den blitzenden Fensterscheiben spiegelte sich die Sonne.

Es schien beinahe so, als ob das Schloß seinen Herrn erwartete.

Endlich entdeckte Vogt in der Türsäule einen Klingelzug, eben so blink und blank geputzt wie die Türbeschläge. Er zog daran, und es gab einen hellen, lauten Glockenton.

Eine geraume Zeit verfloß, ohne daß sich hinter dem Gitter etwas regte.

Schon griff Vogt zum zweiten Male nach dem Zuge, da öffnete sich die Tür über der Freitreppe, und eine alte, weißhaarige Frau trat auf die Schwelle. Sie war nicht anders gekleidet als eine alte Bäuerin der Gegend. Langsam kam sie auf dem Plattengang zum Tor heran, ein Schlüsselbund in der Hand.

Der Trainsoldat sprach sie an: »Sagen Sie, Frau, können Sie uns ein Lager geben für den Mann da und noch einen anderen? Die beiden sind hier verunglückt und können vorderhand nicht weiter transportiert werden.«

Die Alte schaute den Ohnmächtigen, der wie ein Toter auf der Trage lag, eine Weile stumm an, dann sagte sie mit einer ruhigen Stimme: »O ja, hier ist Platz genug.«

Sie schloß das Tor auf und ließ die Träger und Vogt ein.

»Wo ist der andere?« fragte sie dabei.

Der Trainsoldat antwortete: »Er kommt gleich nach.«

Die Frau nickte stumm und drehte den Schlüssel 424 wieder im Schlosse um. Dann wandte sie sich nach einem Seitenflügel.

Der Träger ging dicht neben ihr und flüsterte ihr zu: »Der hier wird Ihnen nicht lange zur Last fallen, Frau. Es ist bald mit ihm zu Ende.«

Wiederum betrachtete die Alte sinnend das todblasse Gesicht auf dem grauen Leinenkissen der Bahre. Sie zögerte und blieb schließlich stehen.

Mit einem Male drehte sie sich um und ging auf die Freitreppe im Kuppelbau zu.

»Wir können ihn auch hierhin betten,« murmelte sie.

Die drei Soldaten traten in eine hohe Halle. Durch ein gemaltes Fenster fiel ein gedämpftes, feierliches Licht von außen herein, wie in einer Kirche, und der Boden war mit polierten Steinen ausgelegt. Mißtönend kreischten die nägelbeschlagenen Stiefel darauf.

Vogt und die beiden anderen machten große Augen, aber schon hatte die Frau zwei hohe Flügeltüren zurückgeschlagen und wies in ein Zimmer. Sie selbst trat nicht mit ein.

»Ich hole nur Leinzeug,« sagte sie.

Die Träger setzten aufatmend die Bahre nieder und schauten sich erstaunt rings um.

Der Raum war ein Eckzimmer. Durch zwei deckenhohe Fenster flutete das helle Tageslicht herein. Die Fenster reichten fast bis auf den Fußboden und waren durch weißgestrichene Zwischenrahmen in eine Unmenge kleiner Felder geteilt. Der Boden war in verschiedenfarbigen Hölzern sauber gemustert, und gebeiztes Eichenholz bekleidete die Wände bis weit über Mannshöhe hinauf. An der Seitenwand stand ein breites, niedriges Lager. Eine verblichene seidene 425 Steppdecke bedeckte die Bettkissen, und oben an der Wand war ein hölzerner Betthimmel angebracht, von dem aus früher wohl Vorhänge über das Lager herabgefallen waren. Die hölzernen Falten des Schnitzwerks liefen unter einer Königskrone zusammen.

Die Alte kam mit zwei feinen, schneeweißen Leintüchern zurück.

»Da hinein soll er?« fragte der Trainsoldat, auf das Prunkbett weisend.

Sie bejahte durch ein Neigen des Kopfes und bereitete emsig das Lager. Im Augenblick war sie mit ihrer Arbeit fertig: eins der riesigen Laken als Bettuch und eins unter die Seidendecke.

Draußen schellte wieder die laute, helle Glocke.

»Der andere,« meinte der Trainsoldat.

Und die Frau verließ mit ihren leisen, huschenden Schritten das Zimmer.

Die beiden Träger machten sich nun daran, Klitzing zu entkleiden. Unter ihren geübten Händen ging es rasch und leicht von statten, und bald darauf lag der Schreiber auf dem Lager unter der Königskrone, in die seidene Decke eingehüllt.

Darauf fragte der eine: »Was machen wir jetzt?«

Der andere antwortete: »Ja, wir müssen doch jedenfalls zum Wagen zurück. Wollen den Doktor fragen, der draußen mitgekommen sein wird.«

Der erste stimmte bei.

»Du,« wandte er sich an Vogt, »du bleibst doch derweile hier? Oder bist du auch zu marode?«

Vogt schüttelte den Kopf, und die Trainsoldaten nahmen ihre Bahre auf und verschwanden, behutsam auftretend, in der Tür.

Die Freunde blieben allein zurück.

Vogt war mitten im Zimmer stehen geblieben. 426 Der Kopf war ihm schon ganz frei gewesen, aber mit einem Male wurde es ihm von neuem dunkel vor den Augen, und er mußte sich in einen der gewaltigen Armstühle setzen, die an den Wänden entlang standen.

War das nun Wirklichkeit, was er heute erlebt hatte, oder nur ein böser Traum? Das Unglück dort im Steinbruch, und dann das hochherzige Opfer des Freundes und zuletzt die königliche Pracht dieses einsamen Schlosses?

Er rieb sich die Augen, um aus dem Schlafe zu erwachen und den schlimmen Traum zu verscheuchen. Aber es wurde nicht anders: er sah schon recht. Er fühlte den Verband an der Stirn, wo ihn der Huf gestreift hatte, und dort unter dem weißen Laken lag Klitzing, immer noch bewußtlos, einem Toten ähnlicher als einem Lebenden.

Auf leisen Sohlen schlich er zu dem Lager hin. Er kniete davor nieder und drückte sein heißes Gesicht in die kühle Seide der Decke. Dann richtete er sich wieder auf und starrte unverwandt auf des Freundes Antlitz. Wollte denn der Treue gar nicht mehr aufwachen, wenigstens auf einen Augenblick, damit er ihm danken könnte?

Aber Klitzings Lider blieben geschlossen, und sein Körper rührte sich nicht. Nur der Atem ging kurz und röchelnd.

Da zerschnitt die grelle Glocke zum dritten Male die Stille, und gleich darauf trat Oberstabsarzt Andreae in das Zimmer, gefolgt von Dr. Rademacher und einem Oberlazarettgehilfen.

Er überflog die seltsame Umgebung mit einem flüchtigen verwunderten Blicke und trat sogleich an das Bett. 427

Vogt war bei seinem Eintritt aufgestanden und nahm mühsam die vorschriftsmäßige Stellung ein.

Andreae winkte ihm ab und fragte, auf Klitzing deutend: »Er ist immer noch nicht aufgewacht?«

»Nein, Herr Oberstabsarzt.«

Nun neigte sich Andreae über das Lager und horchte lange auf der Brust des Kranken. Schließlich fühlte er noch den Puls. Die Hand fiel wie leblos auf die Decke zurück.

»Sie werden leider recht haben, Kollege,« sagte er zu dem Assistenzarzt, und als ihn der Sanitätsfeldwebel fragend anblickte, fügte er, die Schultern hochziehend, hinzu: »Nichts zu machen.«

Darauf trat er zu Vogt. Er legte dem armen Burschen gütig die Hand auf die Schulter und sprach: »Herr Assistenzarzt Rademacher hat mir erzählt, daß der arme Kerl da sich für Sie geopfert hat. Sehen Sie, es tut mir herzlich leid, daß ich's Ihnen sagen muß, aber ich mag es Ihnen nicht verhehlen: Ihr Freund hat wirklich sein Leben für Sie hingegeben. Er hat nur noch ganz kurze Zeit zu leben.«

Vogt blieb krampfhaft in seiner militärischen Haltung. Sonst meinte er zusammenbrechen zu müssen. Stockend fragte er: »Wird er denn nicht noch einmal aufwachen, Herr Oberstabsarzt?«

»Das kann man nicht wissen,« antwortete der Oberstabsarzt, »ich glaube aber nicht.«

»Aber ich darf doch bei ihm bleiben?«

»Ja, das sollen Sie. Sie sind diese Nacht hier verquartiert. Sie sind ja selber wenigstens revierkrank, – und morgen, – das erlebt Ihr Freund leider doch nicht, wahrscheinlich nicht einmal den Abend. Also fassen Sie sich nur! Sie dürfen ja bleiben. Und seien Sie stolz darauf, einen so braven Kerl zum Freunde 428 gehabt zu haben! Solche Menschen sind selten, und Treue bis in den Tod, – das gibt's eigentlich gar nicht mehr. Weiß Gott, es ist jammerschade, daß wir dem Mann nicht helfen können.«

Andreae war selbst von den außergewöhnlichen Begleitumständen dieses Falles ergriffen, aber er hatte noch andere Pflichten und durfte seinen Gefühlen nicht nachhängen.

Er reckte sich in die Höhe und sprach in bestimmtem Tone weiter: »Sie, Vogt, müssen wir auch noch nachher verbinden, jetzt heißt's aber erst dem Fahrer das Bein einrichten. Kommen Sie, Kollege! Sie auch, Feldwebel! Der Kanonier bleibt einstweilen bei seinem Kameraden.«

In der Tür kehrte er sich noch einmal um und nahm mit einer aufmunternden Gebärde die Schultern scharf zurück und den Kopf hoch. »Fassung!« sollte das heißen »vernünftig sein!«

Der Kanonier war dem Arzt mit den Blicken gefolgt. Als sich die Tür geschlossen hatte, hefteten sich seine Augen auf das blasse Gesicht des lieben Freundes. Es war also wahr? Klitzing sollte sein Leben für ihn hingeben? Und niemand mehr konnte helfen?

Es stieg ihm heiß in der Kehle empor, und schließlich machte sich sein Schmerz in einem Tränenstrome Luft.

Nach diesem heftigen Ausbruch wurde er ruhiger. Er begann zu überlegen. Mußte er denn schon jetzt verzweifeln, während dort der Freund noch lebend lag und immer noch mit seinen schwachen Kräften dem Tode widerstand? Waren nicht schon viele, die die Ärzte aufgegeben hatten, neu zum Leben erwacht? Konnte nicht ein Wunder geschehen, das ihm seinen lieben Freund wieder schenkte? 429

Und er dachte nach, wie dem Schreiber zu helfen wäre. Vielleicht fehlte es dem Kranken an frischem, gesundem Blut. Er hatte davon gehört, daß des einen Blut in die Adern des anderen übergeleitet werden könnte. – Nun, Klitzing sollte sein bestes Herzblut haben, soviel nur nötig war. Er wollte es hernach dem Oberstabsarzt sagen. Manchmal kam ja ein ganz einfacher, törichter Mensch auf einen Gedanken, der den gelehrtesten Ärzten nur gerade nicht eingefallen war.

Schließlich betrachtete er wieder den Freund.

Wie blaß er da lag! Und wie schmal sein Gesicht auf dem weißen Tuche sich ausnahm! Klitzing hatte doch eigentlich ein feines, vornehmes Gesicht, und man hätte ganz gern glauben können, ein wirklich feiner Herr läge in dem schönen Bett, wenn nicht die bestaubten, häßlichen Uniformstücke daneben über der Stuhllehne gehangen hätten.

Vogt dachte zurück, wie er ihn manchmal mit dieser kränklichen Blässe geneckt hatte; er prüfte sich, ob er ihn nicht auch anderswie gekränkt hätte, und machte sich Vorwürfe über jedes rauhe Wort, mit dem er zuweilen Klitzing aufgerüttelt hatte, wenn es auch noch so gut gemeint gewesen war. Wie anders, wieviel freundlicher und liebevoller hätte er oft sein können! Und wie anders wollte er sein, wenn der Freund aller Hoffnungslosigkeit der Ärzte zum Trotz wieder genas! Vielleicht durch sein eigenes, kräftiges Blut geheilt, so daß dann jeder dem anderen das Leben gerettet hatte! –

Aber als er darnach während des Verbindens seiner Kopfwunde dem Oberstabsarzt seinen Vorschlag unterbreitete, schüttelte Andreae nur ablehnend den Kopf.

»Nein, guter Freund,« sagte er, »da hilft aller 430 gute Wille nichts mehr. Nach menschlichem Ermessen ist Ihr braver Kamerad rettungslos verloren.«

Die Ärzte verließen schließlich das Schlößchen, nachdem sie für die Zeit ihrer Abwesenheit dem Sanitätsfeldwebel die notwendigen Maßregeln anbefohlen hatten. Rademacher als Arzt vom Dienst wollte vor Nacht noch einmal Nachschau halten.

Vogt löffelte auf den Befehl des Feldwebels einen Teller Milchsuppe aus, er selbst hätte kaum an Speise und Trank gedacht. Dann aber machte sich der Blutverlust und die Erschöpfung der Nerven geltend. Er drückte sich in die Ecke eines steifarmigen Sofas, das Kopf an Kopf zu Klitzings Bett stand, und fiel in einen schweren Schlaf.

Der Klang von Stimmen weckte ihn. Er schlug die Augen auf und brauchte geraume Zeit, um sich in die Wirklichkeit zurückzufinden.

Wieder sprachen die Stimmen. Draußen im Garten mußten sich zwei unterhalten, ein Mann und eine Frau.

Vogt trat an das Fenster und blickte durch die Scheiben. Dicht an der Mauer war ein Stück Park zu Gemüsebeeten umgepflügt. Ein bärtiger Mann grub den Boden mit einem Spaten um, die alte Frau ging ihm zur Hand und zerkleinerte die zu großen Erdschollen mit einer Hacke.

»Aber Mutter, ich begreife nur das nicht,« sagte der Mann, »warum Sie ihm das Fürstenzimmer gegeben haben.«

Die Alte hörte einen Augenblick zu arbeiten auf und stützte sich auf den Stiel ihres Werkzeuges. Dann erwiderte sie mit ihrer ruhigen, einförmigen Stimme: »Sie sagten mir, daß er bald sterben würde, und die Toten sind die größten Könige der Erde.« 431

Der Bärtige blickte erstaunt auf. »Warum, Mutter?« fragte er.

Und die weißhaarige Frau antwortete in dem alten, gleichgiltigen Tone: »Sie sind frei. Sie haben keine Wünsche und keine Sorgen mehr. Niemand mehr kann ihnen etwas zuliebe oder zuleide tun.«

Der Sohn entrüstete sich.

»Mutter!« versetzte er, »wenn Sie solche Reden führen, kann man es den Bauern nicht verdenken, daß sie Sie für nicht richtig im Kopfe halten.«

Die Alte lächelte verächtlich und bückte sich wieder zu ihrer Arbeit.

Nach einer Weile fügte sie noch hinzu: »Übrigens kann die Gutsverwaltung in Wien auch gar nichts dawider haben. Wenn bei uns Platz für Einquartierung verlangt wird, müssen wir ihn geben, so gut wir ihn haben.«

Der Sohn erwiderte nichts, und beide fuhren emsig in ihren Verrichtungen fort.

Vogt sah ihnen eine Zeitlang gedankenlos bei ihrem Graben und Hacken zu. Als er sich in das Zimmer zurückwandte, fiel ihm die dumpfe Luft des lange nicht gelüfteten Raumes beklemmend auf die Brust. Der Jodoformgeruch seines Verbandes dünkte ihn unerträglich. Er riß an den beiden untersten Fensterriegeln. Die Rahmen klemmten, und er mußte alle Kraft anwenden, um das verquollene Holz auseinander zu bringen. Endlich gaben die Flügel nach, aber es öffneten sich nicht nur ein paar Scheiben, sondern das ganze, deckenhohe Fenster teilte sich und ließ einen leisen Wind ein, der im Augenblick allen Dunst aus dem Zimmer fegte.

Durch diese Öffnung erst, die wie ein Tor ins 432 Freie führte, sah Vogt das Köstlichste an diesem Zimmer: – den Ausblick.

Das Schlößchen war auf einer kleinen Erhebung der Hochebene erbaut. Diese Hochfläche senkte sich allmählich in das Tiefland hinab, aber die Täler waren scharf und schroff in das Gebirge eingeschnitten. Der Erbauer hatte sich ein kühn aus der Talwand hervorspringendes Plateau ausgesucht, um darauf sein Jagdhaus zu errichten. Nun schaute man das fast geradlinig verlaufende Tal von dieser Warte aus eine weite Strecke entlang. Die Berge, die zu beiden Seiten den munteren Lauf eines Baches begleiteten, wurden allmählich niedriger, die Talsohle gewann immer mehr an Breite und Anmut, und schließlich zeigte sich ganz am Ende des Tales ein Ausschnitt der Ebene, in deren Fernedunst der Wasserlauf sich unmerklich verlor.

Gerade dieser entfernteste Fleck Erde war von den Strahlen der untergehenden Sonne am hellsten beschienen. Zwischen den ernsten, dunklen Waldungen der Talhänge nahm er sich wie ein schöner Garten Eden aus, wie die lichte Verheißung des gelobten Landes; Fruchtbarkeit und Segen, Frieden und Glück schienen dort zu wohnen.

Nun trat die Sonne, schon ein wenig rötlich strahlend und nahe am Horizont, hinter dem diesseitigen Talvorsprung hervor. Eine Flut von Licht strömte durch die weite Öffnung in das Zimmer und umfloß wärmend und belebend den Todwunden auf dem Prunkbette.

Vogt glaubte einen Seufzer gehört zu haben und eilte zu dem Lager hin.

Aber Klitzing ruhte noch genau so starr wie vorher auf dem weißen Laken, und der Atem ging noch immer keuchend ein und aus. 433

Und doch empfand Vogt einen frohen Schreck.

Hatte sich nicht das Gesicht des Kameraden verändert? War es nicht lebensvoller geworden? Ein Ausdruck des Schmerzes schien sich jetzt in den Zügen auszuprägen, und die bleiche Farbe schien einer ganz leisen Röte gewichen zu sein. Zuweilen flog sogar ein flüchtiges Zucken über das Antlitz, die Lippen öffneten sich ein wenig, und die geschlossenen Augenlider zitterten.

Aber dann lag der Schreiber sogleich wieder starr und steif da.

Trotzdem richtete sich Vogt, wie von einer Last befreit, von dem Bett in die Höhe. Mit einem Male – er vermochte nicht zu sagen wieso – war eine starke Zuversicht über ihn gekommen, daß der Freund genesen mußte, daß er alle Krankheit und alles Leiden siegreich überwinden würde. Mit frischen Schritten ging er im Zimmer umher. Er betastete die Verzierungen des Holzbelags an den Wänden und beschaute mit hellen Augen die Pracht der Möbel und die mit nackten Engelchen bemalte Decke.

Jetzt, da er Gewißheit hatte, daß der Kamerad davon kam, daß der liebe Kerl da in dem breiten Bett unter dem hölzernen Himmel und von einer Königskrone überdacht der Gesundheit entgegenschlummerte, konnte er sich diese seltene Umgebung immerhin einmal recht genau betrachten.

Bei seinem Rundgange bemerkte er ein vergilbtes Blatt, das mit einer Zwecke an den Türpfosten festgeheftet war. Er blieb davor stehen und las die darauf geschriebenen Zeilen. Sie waren in altertümlich gekrausten Zügen geschrieben und gaben offenbar eine Notiz für den Kastellan ab, wenn er Fremden das Schloß zeigte. 434

Auf dem Zettel stand:

»In diesem Prinzensaal haben genächtigt

A. D. 1750 des Königs von Pohlen Majestät, der durchlauchtigste Herr Fridericus Augustus, Churfürst von Sachsen, zur Saujagd anwesend mit unserem gnädigsten Herrn,

A. D. 1752 der durchlauchtigste Herr Fridercus, Herzog zu Gotha, zur Jagd auf Dammhirschen mit unserem gnädigsten Grafen;

es haben gerastet dahier

A. D. 1757 Friderici secundi, des Königs von Preussen Majestät, als sie das Gebürg nach Böhmen passieret,

A. D. 1813 Seine Exzellenz, der Kaiserlich Französische General Vandamme

Vogt lachte vor sich hin. Zum Teufel! Da war Klitzing in eine vornehme Gesellschaft geraten. Zwei Könige, ein Herzog und ein General! Und er freute sich auf das erstaunte Gesicht des Freundes, wenn er ihm erzählen würde, wer da alles vor ihm in dem großen Prunkbett gelegen hatte.

Er ging zu dem Lager zurück, um sich gleich noch einmal das Schauspiel zu besehen, wie ein gemeiner Kanonier, ein armer Schreiber, in einer Königsbettstatt schlief.

Aber da war unterdessen etwas geschehen, etwas, das ihn im Schreiten plötzlich stille stehen ließ und ihn sprachlos machte, – Klitzing war erwacht.

Der Kranke hatte den Kopf zur Seite geneigt. Seine Augen standen weit offen und sahen durch das hohe Fenster hinaus. Nun streiften sie mit einem Blicke den Freund; sie schienen ihn zu erkennen und leuchteten in einer innigen Freude auf. Dann kehrten sie zu dem Bilde zurück, das sich ihnen im Rahmen des Fensters bot. Ungeblendet blickten sie in die abendliche 435 Glut der Sonne, die schon zur Hälfte unter den Horizont untergetaucht war.

Das Antlitz des Sterbenden war in einem ruhigen Glücke verklärt. Er stand auf der Schwelle des Paradieses und meinte es in jener schönen Landschaft der fernen Ebene zu schauen, die das scheidende Tagesgestirn nur mehr mit einem zartgetönten Schimmer übergoß.

Und die Erde rüstete sich, dem Scheidenden einen Abschiedsgruß zu weihen.

Der Sommer, der schon vor dem rauhen Herbste in ein wärmeres Land geflohen war, machte sich auf und kehrte auf den Flügeln eines lauen Windes über die Berge zurück. Sein Odem wärmte die erkaltenden Glieder des zur Ruhe Gehenden.

In seinem Hauche gedachten die Vögel der schöneren Zeiten des Jahres und sangen den Ohren des Müden ein sanftes Schlummerlied.

Die Wipfel der Bäume neigten sich und fächelten der todwunden Lunge ihren köstlichsten Duft.

Und die Sonne küßte die Augen des Sterbenden, und er lebte durch ihr Licht. Unverwandt schaute er in die strahlende Scheibe, bis sie sank und verschwand.

Als er sie nicht mehr sah, irrte ein Ausdruck der Angst über seine Züge. Es war, als ob er sich in der Finsternis fürchtete, als ob er etwas Entschwundenes suchte.

Da schloß er die Augen und fand das Paradies. 436

 

 


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