Franz Adam Beyerlein
Jena oder Sedan?
Franz Adam Beyerlein

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VI.

»Und unser Bündel ist geschnürt,
Und alle Liebe drein.
Ade, die Trommel wird gerührt,
Es muß geschieden sein!«
      (Hoffmann von Fallersleben.)

Ende März las Reimers, als er vor dem Essen aus Langeweile im Militärwochenblatt blätterte, daß Oberleutnant Güntz, sein Duzbruder, am 1. April von der Artillerie-Prüfungs-Kommission zum Regiment zurücktreten würde. Den Roten Adlerorden 4. Klasse hatte der Freund obendrein beim Ablauf des Kommandos erhalten.

Er ließ sich sogleich von der Kasinoordonnanz eine Postkarte geben und schrieb darauf: »Alter, lieber Kerl, ich freue mich, daß du zurückkommst. Gruß! Dein Bernhard.«

»Sie sehen ja so verzückt aus, Reimers,« sagte der kleine Doktor von Fröben im Vorbeigehen, »mindestens als hätten Sie 'nen Orden bekommen!«

»Nö, ich nich,« antwortete Reimers heiter, »aber Güntz.«

»Donnerwetter, Tatsache?« fragte Fröben.

Er sah in das Wochenblatt, und als er die Karte liegen sah, bat er: »Gestatten Sie, Reimers, daß ich die Gelegenheit benutze, zu gratulieren?«

»Gern,« versetzte der, und der muntere Doktor schrieb mit seiner kritzlichen Schrift, in der er sich als Inhaber eines akademischen Grades gefallen zu 198 dürfen glaubte: »Gestatte mir zu gratulieren: P. R. A. Doktor von Fröben«.

»Was sind das für kabbalistische Zeichen?« erkundigte sich Reimers.

Fröben entrüstete sich: »Erlauben Sie! Kabbalistische Zeichen! Teufel auch! Die amtliche Abkürzung unserer Rangliste für den Orden ist's!«

Und im Weitergehen setzte er, in scherzhaftem Bedauern sein rotblondes Köpfchen wiegend, hinzu: »Werter Herr, in manchen Dingen, und nicht gerade in den unwichtigsten, sind Sie doch recht wenig unterrichtet. Im Ernst! Es ist doch wirklich nötig, sich auch in solchen Dingen auszukennen.«

Reimers sah dem spaßhaften Kerlchen lächelnd nach. Sonst hätte er ihn vielleicht mit diesem Wissensdrange, der so sonderbaren Gegenständen nachjagte, geneckt, heute war er zu froher Laune.

Güntz kam wieder! Dieser liebe, alte, pedantische Güntz, der ihm grausam so manchen Star gestochen hatte! Wenn er sich ehrlich prüfte, war ihm der Freund vorher fast aus dem Gedächtnis verschwunden gewesen, und plötzlich bildete er den Gegenstand einer wahren Sehnsucht. Mochte er nur kommen mit all seiner Nüchternheit! Er, Reimers, gab gern wieder ein paar Illusionen dran.

Der junge Offizier ertappte sich dabei, daß er die Tage, die noch bis zum 1. April fehlten, zählte.

Er hätte diese Ungeduld kaum für möglich gehalten.

Denn gerade während des verflossenen Winters hatte er sich im Regiment besonders heimisch gefühlt, wohl aus der Freude heraus, aus der Fremde in die Heimat zurückgekehrt zu sein. Er selbst gab sich freier und freundlicher, und die Kameraden schienen ihm 199 herzlicher entgegenzukommen. Kein Winter noch war ihm so schnell und froh verflossen.

Allerdings besann er sich jetzt, seine meisten Abende zu Hause über den Büchern verbracht zu haben. Er trieb mit neuem Eifer die Studien zum Examen für die Kriegsakademie, die nur durch seine Krankheit unterbrochen worden waren.

In den militärwissenschaftlichen Disziplinen fühlte er sich überall wohlbeschlagen. Nur eine Sprache, das Russische, machte ihm noch Schwierigkeiten. Er bedurfte eigentlich eingehenderer Kenntnisse darin nicht, aber er hatte es sich in den Kopf gesetzt, wie das Französische auch diese Sprache vollständig zu beherrschen, ehe er das Examen ablegte. Deshalb hatte er sich den Vergnügungen der Kameraden möglichst ferngehalten, und er mochte es vielleicht auf diese Art übersehen haben, daß er doch nur in einer recht losen Fühlung mit den anderen stand. Am Ende hatten ihn auch die zeitweiligen Begegnungen mit dem Oberst über seine Vereinsamung hinweggetäuscht.

Plötzlich kam ihm dieses Gefühl der Verlassenheit wieder zum Bewußtsein. Aber zugleich war alles wieder recht, da Güntz nun wiederkam. Das war dann neben dem Vater der Bruder, von dem er weder durch Rang, noch durch Altersunterschied getrennt war, dem er antworten konnte, wie es ihm gerade ums Herz war, und den er getrost aufsuchen durfte, wenn ihn etwas bedrückte. –

Im Offizierkorps wurde die Rückkehr Güntz' kaum besprochen. Es war wahrhaftig nichts Außergewöhnliches daran. Daß einer von einem Kommando zurückkam oder abkommandiert wurde, kam jedes Jahr ein paar Mal vor. 200

Dafür bemächtigte sich der Damen des Regiments eine gewisse Aufregung. Eine Frage, die bisher während der Abwesenheit des Oberleutnant Güntz, gewissermaßen als Doktorfrage hatte gelten können, war plötzlich sehr brennend geworden und verlangte gebieterisch eine Antwort.

Nämlich – Güntz hatte in Berlin geheiratet. Eine Gouvernante! Soviel man wußte, nicht einmal ein besonders hübsches Mädchen. Er hatte zwar den Konsens bekommen, also mußte gegen die Familie der Braut nichts vorgelegen haben, aber gegen den persönlichen Verkehr mit der jungen Frau, der nun bevorstand, – gegen den Verkehr mit »dieser ehemaligen Angehörigen der dienenden Klasse«, sträubten sich die meisten Damen ein wenig.

Die Majorin Lischke, die freilich unbestritten ihrem Manne das meiste Geld zugebracht hatte, liebte es sogar, von einer »Dienstperson« zu sprechen, der gegenüber man doch »etwas Vorsicht walten lassen müßte.«

Frau von Gropphusen dagegen war ganz natürlich der gegenteiligen Ansicht und fragte sie malitiös: »Warum sagen Sie nicht gleich ›Dienstmädchen‹, gnädige Frau? Und wenn Sie Vorsicht für geboten halten, würde ich mir an Ihrer Stelle Knöpfe an die Taschen nähen lassen, damit Ihnen nicht unversehens das Portemonnaie abhanden kommt.«

Darauf war die Majorin aufgestanden und hatte nur höchst gelassen gesagt: »Frau von Gropphusen, auf Ihren Ton kann ich nicht eingehen! Ich halte ihn für unter meiner Würde.«

Die Gropphusen wußte auch sofort, was die Glocke geschlagen hatte, und war eilfertig aufgestanden.

Wer das Schlachtfeld behauptet, ist bekanntlich Sieger. Der Triumph der Majorin war unzweifelhaft. 201

Einen Tropfen Wermut bedeutete es allerdings in den Siegesbecher, daß die kleine Leutnant Möller, geborene Keyl, ein richtiges Schäfchen, mit ihrem hellen Stimmchen ausrief: »Was hat sie gesagt, als sie rausging? ›Bande!‹ hat sie gesagt?!«

Das rosige Mäulchen war ihr vor Entsetzen offen geblieben, und es blieb offen, so daß man die weißen Mauszähnchen zwischen den hübschen Lippen sehen konnte, bis die ältere Schwägerin, Frau Oberleutnant Keyll, geborene Möller, es ihr mit einem mahnenden »Aber Minnie!« schloß. –

Schließlich wandte sich Frau Lischke an ihren Gatten. Sie legte ihm die Zweifel der Damen dar und ersuchte ihn, beim Oberst um Verhaltungsmaßregeln anzuklopfen.

»Du!« meinte der Major, »ich will's tun, aber gerne tu' ich's nicht. Denn weißt du, Falkenhein kann in gewissen Dingen saugrob werden!«

»Saugrob?« versetzte die Gattin. »Mein Bester, das ist immer noch sanft gegen deine Leistungen! Und gleich noch eins! Wenn du dich einmal über Außerdienstliches mit ihm unterhältst, dann denke auch an diesen bockbeinigen Reimers, der sich den Winter über ganz unerlaubt von allen gesellschaftlichen Veranstaltungen ferngehalten hat. Sag' dem Oberst, ich fände das nicht schicklich für einen jungen Offizier.«

Lischke war im allgemeinen nicht schüchtern, auch nicht Vorgesetzten gegenüber, aber der Auftrag seiner Gattin verursachte ihm doch ein unbestimmtes Unbehagen, so daß er nur stockend seine Anfrage vortrug.

Der Oberst ließ ihn ruhig ausreden. Dann begann er mit etwas nervöser, bebender Stimme: »Mein lieber Major, sagen Sie Ihrer verehrten Frau Gemahlin 202 meinen Gruß und teilen Sie ihr folgendes mit: Leutnant Reimers bereitet sich zum Examen für die Kriegsakademie vor. Seine Absagen werden Ihnen daher vielleicht verständlich sein, und mich, mein lieber Major, würde es geradezu gewundert haben, wenn Reimers auf jeder Hopserei, die Ihre verehrte Frau Gemahlin als Patronin oder sonstwie arrangiert hat, erschienen wäre. Es mag Kommandeure geben, die anderer Ansicht sind als ich, – ich für mein Teil will, solange ich die Ehre habe, das Regiment zu kommandieren, solche Festlichkeiten nur für diejenigen jungen Herren als obligatorisch betrachtet wissen, deren gesellschaftliche Erziehung noch einer Nachhilfe bedarf. Und daß das bei Leutnant Reimers nicht der Fall ist, wird hoffentlich dem Scharfblick Ihrer verehrten Frau Gemahlin nicht entgangen sein. Das ist meine dienstliche Ansicht über diesen Fall, mein lieber Major, meine persönliche aber, die ich indessen Ihrer verehrten Frau Gemahlin zu verschweigen bitte, geht dahin, daß diese öden Bälle und Tanzereien der Teufel holen soll.«

Falkenhein hatte sich allmählich warm geredet; er schöpfte Atem und fuhr immer erregter fort: »Was nun gar den Fall der Frau Oberleutnant Güntz betrifft, so bitte ich Sie, lieber Major, Ihrer verehrten Frau Gemahlin ganz gehorsamst mein Erstaunen zu Füßen zu legen. Wenn das Kriegsministerium an dem jungen Mädchen kein Härchen auszusetzen gefunden hat, dann haben sich die Damen gefälligst zufrieden zu geben! Am Ende fürchten sie, daß die ehemalige Gouvernante sie an Weisheit übertrifft? Ja? Das könnte schon passieren.«

Er stand von seinem Stuhl auf und ging ein paar Mal auf und ab.

»Himmelkreuzdonnerwetter!« brach er endlich los. 203

»Ich begreife gar nicht, daß ich mir über solche Frauenzimmergeschichten fast den Mund wund rede! Lehrt doch Eure Frauen Ordre parieren, nicht mucken und mucksen!«

Lischke war sehr kleinlaut geworden. Das tat dem gutmütigen Falkenhein nun wieder leid, und er verabschiedete ihn mit einem freundlichen Händedruck.

»Nichts für ungut, mein lieber Major!« sagte er dabei. »Wess' das Herz voll ist, der soll sich den Ärger getrost herunterschimpfen. Also: sagen Sie Ihrer verehrten Frau Gemahlin meinen gehorsamsten Gruß und bestellen Sie ihr das Nötige. Aber in zarter Form, bitte ich!«

Lischke murmelte sein »Zu Befehl, Herr Oberst!« verbeugte sich und verließ das Zimmer.

Der Oberst aber wandte sich zu seinem Pult zurück und pustete aufatmend vor sich hin.

Auf der Tischplatte lag ein Falzbein, ein ziemlich langes, flaches Stück Olivenholz. »Gruß aus Capri« war darein gebrannt.

Das ergriff er.

Er ließ es durch die Luft pfeifen und brummte dabei etwas zwischen den Zähnen.

Frau von Gropphusen und Oberst von Falkenhein schienen verwandte Seelen zu sein. Sie begegneten sich wenigstens in ihren Ausdrücken.

»Bande!« sagte auch der Oberst.

* * *

Reimers holte Güntz vom Bahnhofe ab.

Ein wenig dick fand er ihn, den lieben Kerl. Kein Wunder übrigens, wenn einer jahrelang dem Frontdienst ferngeblieben war. 204

»Du wohnst doch einstweilen im ›Adler‹?« fragte er ihn.

Güntz schüttelte den Kopf: »Keine Spur. Zu Hause.«

»Ja, aber wo denn? Hast du denn schon eine Wohnung?«

»Selbstredend. Waisenhausstraße siebenundfünfzig. Neben dem Oberst. Die kleine Villa, in der der lange Klettin gewohnt hat. Auf Reitschule ist der kommandiert, nicht?«

»Ja gewiß. Aber das Dings ist doch neu gebaut. Du kennst es ja gar nicht. Wie konntest du da nur gleich mieten?«

»Na, wenn ich mir doch die Pläne habe schicken lassen! Sei man beruhigt, mein Sohn! Ich tappe nicht blind in die Welt hinein. Ich könnte dir sagen, wie hoch, wie breit, wie lang selbst das Klosett ist. Heydrich, mein trefflicher Bursche, ist wahrscheinlich schon beim Aufbauen.«

Im Gehen faßte der Oberleutnant den jüngeren Kameraden scharf in die Augen.

»Du, Reimers,« bemerkte er zufrieden, »du siehst übrigens tadellos gesund aus! Afrikareisender! Boerenkämpfer! Festungsgefangener! Was ist dir nun davon am besten bekommen?«

»Vermutlich alles Dreies«, antwortete Reimers. »Eins heilte allemal das andere.«

»So, so? Siehst du wohl, daß ich nicht allein ein Illusionsmörder bin! Das wirst du mir aber alles erzählen müssen. Ja, willst du?«

»Dir, Güntz, ja.«

»Das ist recht. Und noch eins: wie tut jetzt wieder die Garnisonsluft?« 205

»Leidlich. Aber du! Wie wird dir's hier schmecken, nach Berlin?«

».Ich denke, – gut. Sonst –. Na, wir werden ja sehen.«

Eine Zeitlang gingen die Freunde schweigend nebeneinander her. Güntz setzte gerade wieder zum Sprechen an, da unterbrach ihn Reimers.

»Nun laß mich mal fragen!« sagte er. »Vor allem: wie geht's deiner Frau Gemahlin, und wo hast du sie gelassen?«

Güntz sah ihn lächelnd an.

»Mein Sohn,« antwortete er, »mir gegenüber bitte ich mir ein einfaches »deine Frau« aus. Also: es geht ihr gut, und sie ist augenblicklich bei ihrem Bruder. Der ist nämlich Pastor im Thüringischen. – Und nach meinem Buben fragst du nicht?«

»Ja, – hast du denn einen?«

»Selbstredend. Ein dicker Bub' und kugelrund! Zehn Wochen alt. Und du sollst ihn mir taufen helfen.«

»Güntz! Das hättest du mir doch mitteilen müssen!«

»Was mein Sohn?«

»Daß du Vater bist.«

»Warum? Kommt es jetzt nicht zeitig genug? Übrigens hat es im »Militärwochenblatt« gestanden. Folglich deine Schuld! – Willst du aber nun eigentlich Pate sein?«

»Mein Gott, natürlich ja. Herzlich gern.«

»Dann also, bitte, nächste Woche Sonnabend, nachmittags fünf Uhr. Anzug Überrock.«

Reimers brach in ein fröhliches Lachen aus.

»Sag 'mal, Güntz,« rief er belustigt, »seit wann redest du denn so 'nen Telegrammstil? Sind in Berlin die Worte so teuer?« 206

Ganz unbegründet brauste da der Zurückgekehrte auf: »Teuer? – Pö! Billig, billig! Kriegst hunderttausend für den Pfennig!«

Sein offenes, freundliches Gesicht hatte sich verdüstert und trug einen ingrimmigen, verbissenen Zug.

»Na,« meinte er schließlich, »wir sehen uns ja noch; oft, recht oft, hoffe ich. Bis dahin, alter Junge!« – –

In der Tat wurde Reimers ein häufiger Gast des Güntzschen Ehepaares. Er glaubte zuweilen, zu häufig zu kommen und am Ende zudringlich zu erscheinen.

»Du, Güntz,« fragte er dann, »sag' mir offen: bin ich euch nicht lästig?«

Der Oberleutnant rappelte sich aus seinem bequemen Stuhle in die Höhe und fuhr auf: »Wieso?«

»Ich meine, ich komme zu oft zu euch.«

Güntz besah sich seine Cigarre und erwiderte: »Nein, durchaus nicht, mein Alter. Denn, wenn das der Fall wäre, würde ich mich aber auch keinen Augenblick genieren, dir's zu sagen.«

Und es blieb dabei, daß Reimers jeden Sonntag mittag und jeden Mittwoch abend in der gemütlichen Villa, Waisenhausstraße 57, aß.

Frau Kläre Güntz, eine kleine Dame mit einem hübschen, frischen Gesicht und klaren, gescheiten Augen, pflegte das ihren jour fixe zu nennen.

»Siehst du, Dickerchen,« sprach sie zu ihrem Manne, »ich bestrebe mich, in allem der Frau Major nachzueifern.«

Sie zog die Achseln hoch und fuhr scheinheilig fort: »Namentlich wenn man nur Gouvernante gewesen ist, kann man gar nicht genug aufmerken. Ach, das ist schwer! Manchmal verzweifle ich fast daran, 207 daß ich jemals so vollkommen wie Gustava Lischke sein werde.«

Sie seufzte drollig und nickte ihrem bequemen Gatten kreuzvergnügt zu.

Der drohte ihr: »Subordination, Kläre! Respektwidrigkeiten dulde ich nicht!«

Dann fuhr er behaglich lächelnd fort: »Gustava! Je, wer der Guste Krause gesagt hätte, daß sie mal Gustava heißen würde! Wenn der gute Papa Krause sie hätte Gustava rufen sollen!!«

Er wandte sich zu Reimers: »Wir sind nämlich Nachbarskinder, Gustava und ich. Aber diese Bekanntschaft verleugnet sie jetzt. Mein alter Herr – Gott hab' ihn selig! – war Baumeister, Gustavas Papa aber Butter und Eier en gros. Mein Gott, ehrenwert, höchst ehrenwert! Aber das ist ja jetzt die allgemeine Mode: das Maul voll nehmen. Gustavas Papa ist also jetzt ›Großkaufmann‹.«

Mit einiger Mühe richtete er sich auf, um die Asche von der Cigarre abzustreifen. Darnach fiel er wieder faul in seinen Liegestuhl zurück. Langsam, wie mit sich selbst sprechend und zwischen den einzelnen Sätzen seine Cigarre auskostend, fuhr er mit leichtem Spott fort: »Großkaufmann! – darunter stelle ich mir ungefähr einen Handelsherrn vor, – Hamburg, Bremen –, der in seinen Speichern über die Schätze der neuen und der alten Welt gebietet –, Thee, Kaffee, Seidenballen, Baumwolle, köstlichen Tabak – (das sprach er mit besonderer Betonung) – na ja. Papa Krause aber herrschte über Butterfässer und Eierkisten, und seine Handelsverbindungen reichten allenfalls bis Galizien.«

Er hatte sich allmählich in eine zornige Bitterkeit hineingeredet. Nun schlug er sogar die Hände über 208 dem Kopf zusammen und rief: »Gustava! Gustava!! – Wenn du jetzt nicht dabei wärst, Kläre, würde ich ein kräftiges Wort aussprechen, das die ganze Schweinerei in das rechte Licht setzen würde. Denn, Gustava ist leider nur ein Symptom, und nur eines! Aber das sage ich dir, Kläre, wenn du so wirst wie diese, dann – dann –«

»Na, was passiert dann Grusliches?« neckte die junge Frau.

Güntz wurde ruhiger. Er lächelte verschmitzt und antwortete: »Dann mache ich von dem Recht der körperlichen Züchtigung Gebrauch, das ich mir aus dem alten, guten Gesetzbuch reserviert habe.«

Kläre lachte hell auf.

»Übrigens,« meinte sie, »so schlimm wie du sie machst, Dicker, sind die Damen wirklich nicht.«

Der Oberleutnant winkte ab: »Geh, Kläre, geh! Ich bin doch dabei gewesen, wie sie dir als die reinen Ölgötzen gegenüber gesessen haben, und dich angestiert haben, ob du etwa aufgesprungene Hände hättest von der ›Dienststellung‹ her, vom Gläserspülen, Kinderwäsche waschen und so!«

Kläre wurde kribbelig. »Na« –, meinte sie, »sollen sie mich etwa gleich beim ersten Anblick vor lauter Freundschaft und Liebe aufessen?«

»Darauf kommt's ihnen auch nicht an,« versetzte der Gatte. »Ich sage dir, wie die Frau Regimentsadjutant Kauerhof ihnen zum allerersten Male in den Wurf kam, – bis dahin eine gänzlich unbekannte Größe x oder meinetwegen y –, da sind sie über sie hergefallen mit Umarmungen und Küssen, als ob sie liebende Schwestern wären. Das gab ein ganz gräßliches Geleck und Geschmatz vom ersten Augenblick an. Freilich ist Frau Kauerhof auch eine 209 geborene von Lüben, Tochter eines Oberst und Abteilungschefs im Kriegsministerium, und du, meine Kläre –, pfui, schäme dich! –, warst Gouvernante!«

Immer zappeliger geberdete sich die junge Frau.

»So laß dich doch einmal überzeugen!« wehrte sie. »Es ist geradezu eine fixe Idee bei dir geworden, daß ich nicht mit der gebührenden Achtung aufgenommen werde. Und ich kann doch nur stets wiederholen, daß mir alle Damen ausnahmslos sehr höflich und liebenswürdig entgegengekommen sind. Und im allgemeinen finde ich sie eben, aufrichtig gesagt, ganz erträglich. Meinen Sie nicht auch, Herr Leutnant Reimers?«

Reimers war den Auseinandersetzungen des Ehepaares gefolgt. Er faßte die Sache, wie es seine Gewohnheit war, ernsthaft und gründlich auf und konnte Güntz nicht so Unrecht geben. Andererseits war der dicke Oberleutnant offenbar in Berlin ein wenig radikal geworden, zuweilen schüttete er das Kind mitsamt dem Bade aus.

Deshalb antwortete er: »Gewiß, gnädige Frau haben Recht. Aber das müßte ich lügen – sympathisch sind auch mir die meisten Regimentsdamen nicht sonderlich. Sie kommen mir fast alle recht eingebildet und oberflächlich vor.«

Güntz brummte: »Gänse sind es, eine Herde dummer Gänse!«

»Pfui, Dickerchen!« tadelte Frau Kläre.

Aber er höhnte aus seinem Liegestuhl heraus: »Hat dich eine umarmt wie die Kauerhof? Hat dich eine geküßt? Ist auch eine herzlich und offen zu dir gewesen?« –

Kläre erwiderte etwas gereizt: »Weißt du, ich will gar nicht, daß mir jemand um den Hals fällt, 210 der mich noch gar nicht kennt. Das hielte ich für eine Geringschätzung! Und gerade ist auch eine herzlich und lieb zu mir gewesen, sehr herzlich und lieb sogar!«

»Pö! Wer denn?«

»Frau von Gropphusen!«

»Hab' ich mir's nicht gedacht? – Richtig, die nehme ich aus, – sie ist keine Gans, aber ein verrücktes Frauenzimmer.«

»Dicker, sei nicht garstig! Was hat dir die arme Frau getan?«

Güntz stand jetzt wirklich aus seinem Stuhle auf. Er ging auf und ab, um die Steifheit aus den Gliedern zu vertreiben, und grollte: »Getan? Mir? – Natürlich nichts. Aber sie ist hysterisch durch und durch. Dabei bleibt's!«

Kläre nahm sich der angegriffenen Frau mit warmem Eifer an: »Meinetwegen sollst du ja Recht haben, aber das hat wohl auch seine Gründe.«

»Gewiß, gewiß!« antwortete Güntz. »Der Herr Gemahl ist – verzeih' den harten Ausdruck, Kläre! – ein richtiger Schweinhund. Aber hysterische Frauenzimmer sind mir nun einmal ein Greuel!«

»Mir tut Frau von Gropphusen nur leid.«

»Mir ja auch! Aber sie soll dich nicht womöglich anstecken!«

Die junge Frau sah voll und offen zu ihrem Gatten auf.

»Mich steckt sie nicht an,« sagte sie einfach.

In diesem Augenblick ließ sich, durch mehrere Türen gedämpft, ein leises Weinen vernehmen.

Frau Kläre horchte auf und huschte sogleich aus dem Zimmer.

Die Männer blieben allein zurück und sahen nachdenklich vor sich hin. Keiner von beiden sprach. 211

Endlich begann Reimers: »Ich finde, Güntz, du übertreibst. Unvernunft und alberne Vorurteile gibt's nicht bloß in Offizierskreisen, und jedenfalls kommst du mit dem Kopfe erst recht nicht durch die Wand.«

»Nein,« versetzte der Oberleutnant, »aber wenn der Karren meiner Ansicht nach in den Dreck fährt, dann höre ich eben auf mitzuschieben.«

Er nahm seine Wanderung durch das Zimmer wieder auf, und allmählich erhellten sich seine Züge.

Glücklich lächelnd blieb er vor seinem Gaste stehen.

»Immerhin,« begann er von neuem, »die Gropphusen soll nur getrost zu Kläre kommen, wenn es ihr Freude macht. Ich glaube, gegen Hysteriebazillen ist meine Frau immun. Nicht?«

Ehe noch Reimers antworten konnte, kam Kläre zurück. Sie trug den Knaben in einem Steckkissen auf dem Arm und wiegte ihn, ein wenig errötend, hin und her.

Güntz beantwortete sich selbst seine Frage: »Jawohl, sie ist immun.«

Das Kind hatte sich eben an der mütterlichen Brust voll und satt getrunken; es dehnte sich in der Wollust der Sättigung und neigte das Köpfchen seitwärts zum Schlafe. Und die junge Mutter schmiegte das winzige Händchen des Knaben an ihre Wange und segnete seinen Schlummer mit einem leisen Kusse.

Der Vater stand von ferne. Er wagte nicht, das zarte junge Geschöpf mit seinen starken Händen zu berühren; es mußte dabei zerbrochen werden, meinte er. Aber er fühlte eine große Kraft in seinen Händen und in seinen Armen, groß genug, die beiden liebsten Menschen, sein Weib und sein Kind, wenn es sein mußte, hoch emporzuhalten, so daß kein Ungemach zu ihnen hinaufreichte. 212

Erhaben und rührend zugleich wirkte das Bild von Mutter und Kind auf ihn ein, und wie eine Flutwelle strömte ihm ein hohes Glücksgefühl ins Herz.

Gegen seine Ergriffenheit ankämpfend, schalt er: »Kläre, hab' ich dir nicht schon mehrmals verboten, vor unserem Gaste den Buben zu produzieren?«

Aber die junge Frau antwortete zuversichtlich:

»Oh, ich weiß, Herr Leutnant Reimers sieht so ein reizendes Kind wie Bubi ganz gern. Nicht wahr?«

Natürlich beeilte sich Reimers, das zu bestätigen.

Güntz indessen, der schreckliche, pedantische Mensch, ging der Sache auf den Grund und sagte: »Jetzt bin ich doch neugierig, was ein Königlicher Leutnant an einem Dreizehnwochenkind Schönes entdeckt, – sofern es nicht sein eigenes ist. Denn Väter sind großenteils Narren, wenn es sich um ihre Kinder handelt. Besonders um ein so hübsches und kluges, wie es hier mein Sohn ist. Also, Reimers, Hand aufs Herz: warum siehst du nach deiner Behauptung dieses Wickelkind gern? Was dünkt dich schön an ihm?«

Reimers überlegte eine Weile. »Daß es noch ein Kind ist,« erwiderte er dann.

»Hol's der Teufel!« brach Güntz los. »Das klingt wieder mal recht duselig-sentimental. Du weißt, mein Lieber, das ist mir zuwider. Bist du denn wirklich nicht glücklich, ein Mann zu sein? Ein Mann, der weiß, was er will, und der kann, was er will? Alles, was er will! Wenn er sich nicht gerade darauf versteift, den Mond vom Himmel zu holen! Dieses unbewußte Hindämmern da scheint dir beneidenswert? Ich danke dafür!«

Das Kind schien gerade in diesem Augenblick ein Unbehagen zu empfinden. Es strampelte unter der Decke mit den Füßen und begann kläglich zu schreien. 213

»Sieh mal!« fuhr der Vater fort. »Der kleine Mann ist durchaus nicht so leidlos, wie du denkst. – Schaff ihn hinaus, Kläre! Er brüllt uns die Ohren voll. – Aber hoffentlich soll er mal anders denken, als du, mein lieber Reimers!«

Während die Mutter den kleinen Schreihals hinaustrug, trat der junge Offizier zu dem älteren Kameraden hin und reichte ihm die Hand.

»Du hast recht, Güntz,« sagte er. »Das war soeben eine Entgleisung meines unbewußten Ich. Man muß dieses törichte Ding immer scharf an die Kandare herannehmen.« –

Reimers fühlte sich in der Gesellschaft des Güntzschen Ehepaares über alle Maßen wohl. Die Sicherheit und Klarheit, in der diese beiden Menschen lebten, teilte sich ihm unwillkürlich mit und wirkte als ein nützliches Gegengewicht, wenn der Flug seiner Begeisterung allzu hoch ins Wesenlose entflatterte.

Er hatte geglaubt, in der langen Zeit der Trennung dem Freunde entfremdet zu sein, aber in Wahrheit waren sie einander nur näher gerückt. Was Reimers zu überschwenglich empfand, war durch die Jahre gedämpft worden, und Güntz war, vor allem durch das Glück seiner Ehe, wärmer geworden und eher geneigt, einmal auf eine kleine Strecke von dem nüchternen Erdboden sich aufzuschwingen.

Sie waren beide der Garnison längere Zeit fern geblieben und durften sich zutrauen, von außen ein unbefangenes Urteil über das Regiment mitzubringen.

In den meisten Fällen entdeckten sie eine vollkommene gegenseitige Übereinstimmung. Nur urteilte Güntz schärfer und schonungsloser.

Um so glücklicher war Reimers darüber, daß auch der Freund an seiner Verehrung und 214 Wertschätzung Falkenheins teilnahm. Ja, der trockene, nüchterne Mensch übertraf zuweilen in Lob- und Ruhmessprüchen den jüngeren Kameraden.

»Das ist ein Mann!« sagte er. »Kopf und Herz, Augen und Mund am rechten Flecke! Mit einem Wort: ein ganzer Kerl, ein Mann!«

Es war die beste Zensur, die Güntz auf seiner Skala hatte. Das Gegenteil davon hatte bis zu seiner Verheiratung »ein Weib« gelautet, – später, als Ehemann, erklärte er, daß unter den Weibern die eine Gerechte, natürlich seine Kläre, genüge, das ganze Sodom des Geschlechtes zu erhöhen, und er setzte fortan an die unterste Stelle seines Maßstabes einen Ausdruck, den er von Berlin mitgebracht hatte – »Nulpe«.

Wie er sich denn ein gut Teil der Berliner Schnoddrigkeit angewöhnt hatte! Die Schwächen der einzelnen Offiziere kamen schlecht in seinem Munde weg.

Reimers war zwar auch der Meinung, daß man gegen die Fehler der Vorgesetzten und Kameraden nicht absolut blind zu sein brauchte, aber was der Freund sich da gestattete, das ging entschieden manchmal zu weit. Er hielt mit dieser Ansicht nicht hinter dem Berge.

»Junge,« erwiderte dann Güntz, »wem soll ich denn das Herz ausschütten als dir? Glaubst du, daß es mir etwa Freude macht, so eine Menge Vorgesetzte und Kameraden nicht ehrlich als das respektieren zu können, was sie vorstellen sollen – als Offiziere? Mit ihrer werten Menschlichkeit hat das gar nichts zu tun. Für mich ist die Frage: füllen sie ihren Offiziersberuf aus? Wer das nicht vermag, ist für mich ein Schädling.« 215

Reimers wandte ein: »Früher hast du milder geurteilt.«

»Mag sein!« verteidigte sich der Freund. »Aber wenn man sich da außen den süßen Gewohnheitsschlaf tüchtig aus den Augen gerieben hat, sieht man eben klarer und schärfer. Übrigens – Beispiele beweisen. Stuckardt wird nächstens Major. Hältst du ihn für fähig, eine Abteilung zu führen?«

»Nein, er hat schon mit seiner einen Batterie unheilvolle Dinge angestellt. Er bleibt auch kein Jahr Stabsoffizier, sicherlich.«

»Warum wird er's dann erst? Ich sage dir, er hätte nicht einmal Hauptmann werden sollen. Weiter: Gropphusen?«

»Nun ja, der! Der hat seinen Beruf verfehlt.«

»Warum ist er dann noch da?«

Güntz lachte grimmig vor sich hin. Es sah so aus, als ginge ihm ein boshafter Gedanke durch den Kopf.

»Was meinst du denn, das er hätte werden sollen?« fragte er.

»Maler,« antwortete Reimers.

Der andere zog eine Grimasse: »Möglich. Ich denke, er ist zwei Jahrhunderte zu spät auf die Welt gekommen. Schade drum!«

»Wieso?«

»Er hat so ungemein viele Berührungspunkte mit Ludwig dem Fünfzehnten. Par nobile fratrum! Die beiden hätten sich gut verstanden! – Aber drittens: mein verehrter Chef, Hauptmann Mohr. Was denkst du von dem?«

»Dem sitzt ja schon das Messer an der Kehle! Ich wette, er fliegt nach dem Manöver.«

»Und er säuft, seit ich ihn kenne!« 216

Der Oberleutnant pustete heftig und fuhr mit einem schweren Seufzer fort: »Ich sage dir, Reimers, es macht keine Freude, unter so einem Manne Dienst zu tun! Die Geschichte hängt mir nachgerade eklig zum Halse heraus.«

Reimers nickte. »Ich kann dir's nachfühlen, Alter. Und dabei beneidet dich das halbe Regiment darum, daß du bei der fünften Batterie bist.«

»Pö!« lachte Güntz. »Da siehst du ja gerade die Bande! Faulenzen wollen sie unter einem Saufaus! Das ist ihnen das liebste, das erstrebenswerteste! Dahin wollen sie, wo es am wenigsten Dienst gibt! Einer wie der andere! Und da sagst du, ich ginge zu weit! Die andern mögen tun und lassen, was sie wollen, aber ich, ich will wissen, wozu ich da bin. Wenn ich mal einen Beruf habe, dann soll er mich auch ausfüllen. Als bloße Dekoration bin ich mir zu gut!«

Reimers gab sich Mühe, den Freund zu beruhigen, aber der Oberleutnant redete weiter: »Du kannst mir glauben, ich war ehrlich entsetzt, als ich in die Batterie kam. Wie vor den Kopf geschlagen war ich! So eine Verlodderung, wie sie da herrscht, hältst du schlechterdings nicht für möglich. Ich fragte mich, wie solche Zustände bei der Abteilung und beim Regiment unbekannt bleiben konnten. Aber da haben sie ein richtiges, ausgebildetes System, für die Besichtigungen in aller Eile etwas zurecht zu schustern, so 'ne Art Potemkinsche Dörfer zu bauen. Und Ehre, wem Ehre gebührt! Man muß zugeben, dann nimmt sich alles vom verehrten Chef bis zum letzten Kanonier höllisch zusammen, so daß die Sache wirklich leidlich klappt. Da scheint sogar eine Art Disziplin in die Gesellschaft zu fahren, aber in Wahrheit ist's ein regelrechter Kompromiß: man nimmt sich ein paar Tage zusammen und 217 erwirbt dadurch den Anspruch, hinterher desto toller zu faulenzen. Und in diese Wirtschaft muß ausgerechnet ich hineinkommen! – Lieber Junge, du weißt, wie wenig greifbare Resultate ganz natürlich ein Offizier im Frieden erzielen kann, aber nun noch Brief und Siegel drauf, daß man ganz und gar für die Katz seine Pflicht tut! Junge, das ist mir zu viel! Das halt' ich nicht aus! Und das weiß ich: wenn das so fortgeht, dann ziehe ich den Rock aus, so lieb ich ihn habe.«

Er sah mit einer wehmütigen Trauer an dem Dunkelgrün seines Überrocks hinunter und lief verzweifelt im Zimmer auf und ab. Dann schloß er mit einem ingrimmigen Hohn: »Jetzt ist noch meine einzige Hoffnung, daß bei meinem lieben Hauptmann ja bald das Delirium zum Ausbruch kommen muß!«

Reimers gab zu bedenken: »Du wirst mir doch aber einräumen, daß gerade bei dieser Batterie außergewöhnlich ungünstige Umstände mitsprechen. Laß dich versetzen, Alter! Provoziere einen Zank mit Mohr! Gegen den bekommst du allemal Recht. Jeder weiß, daß er sich nicht beherrschen kann, wenn er sein Maß voll hat. Geh zu Madelung, oder noch besser, komm zu uns, zu Wegstetten!«

»Das wäre eine Idee,« meinte Güntz, »aber es ist doch nichts damit. Denn im Vertrauen: Falkenhein ließ es durchblicken, im Herbst werde ich Hauptmann und wahrscheinlich, eigentlich sicher, Mohrs Erbe.«

Reimers sprang freudig auf.

»Aber, lieber Alter, dann ist ja alles gut!« rief er. »Du bringst die fünfte schon ins Lot! Du bist gerade der rechte dazu! Und dein Verdienst ist dann um so größer, je toller es jetzt da hergeht. Wetter ja! Wird das eine zweite Abteilung! Madelung, Güntz, 218 Wegstetten! Die besten Batteriechefs des ganzen Korps'! Ohne Schmeichelei, Alter!«

Aber der Oberleutnant stimmte nicht in seinen fröhlichen Ton ein. »Lieber Kerl,« erwiderte er, »du meinst es gut. Aber ich will dir gestehen, mir ist da draußen ein Seifensieder aufgegangen, als wären wir alle ein wenig auf dem Holzwege mit unserem ganzen militärischen System, als ob auch Madelungs und Wegstettens und schließlich auch meine Arbeit falsch, eine vergebliche Mühe sein würde.«

Er hielt plötzlich inne; sein freundliches Gesicht war sorgenvoll und düster geworden.

»Wieso?« fragte Reimers betroffen.

Der andere seufzte und antwortete: »Lieber Junge, da muß nun ich einmal dir sagen: ich hab' mir's noch nicht recht überlegt. Ich will erst wieder versuchen, mich an den Frontdienst zu gewöhnen, und recht genau zusehen dabei. Aber ich verspreche dir: wenn ich mir selber klar geworden bin, sage ich dir's offen und ehrlich, was mir jetzt noch etwas verworren durch den Kopf geht.«

Reimers fühlte einen krampfhaft festen Druck der Hand des Kameraden, und es war ihm, als ob es feucht in den Augen des Freundes schimmerte.

Leise fuhr Güntz fort: »Junge, lieber Junge, es ist ja nichts weiter dabei, wenn einer erkennt oder vielmehr zu erkennen glaubt, daß er sein Leben einer unfruchtbaren, verfehlten Sache geopfert hat. Was liegt an einem? Aber es ist auch möglich, daß ich mit meinen Befürchtungen Recht behalte, und – das darf ich mir gleich gar nicht ausdenken.«

»Welche Befürchtungen meinst du?«

»Ich kann mir nicht helfen, ich muß jetzt manchmal an eine schlimme Zeit denken.« 219

»An welche Zeit?«

»An die Zeit vor Jena.«

Reimers fuhr zusammen. Das Unglückswort traf seinen Stolz wie ein Peitschenhieb. Er richtete sich straff auf und fragte: »Warum nicht vor Sedan?«

Der andere blieb ganz ruhig und antwortete: »Sedan – Jena? – Vielleicht hast du Recht, vielleicht ich. Niemand weiß es.« –

Güntz vermied es nach diesem Gespräch, in der Unterhaltung mit dem Freunde ähnliche Fragen zu berühren. Wenn Reimers ihn bat, sich näher darüber auszulassen, antwortete er ausweichend: »Ich habe dir gesagt, ich muß mich erst selbst prüfen. Vorher mag ich nicht ins Blaue hinein reden.«

Aber allmählich gab er sich immer ruhiger und gleichmäßiger; die anfängliche Bitterkeit seiner sarkastischen Bemerkungen milderte sich, und es gewann beinahe den Anschein, als ob es nur flüchtige Grillen gewesen wären, die ihn nach der Rückkehr von Berlin geplagt hatten.

* * *

Am Osterfest vollzog sich für die Garnison ein kleines Ereignis.

Oberst von Falkenhein nahm in der Charwoche einen kurzen Urlaub, um seine Tochter aus der Neuchateler Pension in sein Haus zurückzuführen. Nach dem Feste sollte Fräulein Marie »in die Gesellschaft« eingeführt werden.

Reimers überlegte, ob es schicklich wäre, schon an einem der Feiertage den schuldigen Besuch bei Falkenhein abzustatten. Gerade zum Feste hatte er dazu mehr als genug Zeit. Die unverheirateten Herren hatten sich für das Fest fast sämtlich beurlauben lassen. 220 Er war am Ostermontag tatsächlich der einzige Mittagsgast im Kasino.

So entschloß er sich, gleich an diesem Tage den Besuch zu machen.

Er war nicht im geringsten neugierig auf die junge Dame. Falkenheins Mariechen, – das war damals vor drei Jahren, vor der Pensionszeit, ein hübsches, ein wenig zartes Mädel gewesen. Ein dicker, ganz hellblonder Zopf hatte ihr den Rücken hinuntergebaumelt, und wenn man sie grüßte, war sie jedesmal ganz dunkelrot geworden, und hatte zierlich und ganz geschwind ihren Kinderknix gemacht.

Nun, zart war sie noch als siebzehnjährige junge Dame, und das schmale Gesicht war auch noch von demselben ganz hellblonden Haar umrahmt. Fast schien die Fülle der lockeren Flechten zu schwer auf dem länglichen Kopfe zu lasten. Schöne, klare graue Augen hatte sie außerdem, und ganz besonders fiel Reimers das feine, gerade Näschen auf, an dessen Zucken man sogleich erkannte, ob etwas die kleine Dame innerlich bewegte oder nicht. Ihre Würde als Obersttöchterchen trug sie mit einem niedlichen Stolze zur Schau. Sie bereitete den Thee mit der Gewandtheit einer erfahrenen Hausfrau und leitete das übliche Gespräch mit einer etwas altklugen Sicherheit.

Falkenhein ließ kein Auge von seinem Kinde. Zuweilen lächelte er vor sich hin, wenn sie diesem ersten Gaste gegenüber so unbefangen wie möglich die Honneurs machte, denn er kannte ihre geheime Besorgnis, ob sie wohl in ihrer neuen Rolle als Vertreterin des Hauses bestehen würde. Aber sie machte ihre Sache ausgezeichnet.

Als Reimers sich zum Gehen anschickte, lud ihn der Oberst zum Abendbrot ein. 221

Der Leutnant nahm mit freudigem Danke an. Er war sicher, daß ihm darnach die Freude an einer von jenen Unterhaltungen zu teil werden würde, die in ihm die Verehrung für den Kommandeur stets noch mehr anfachten und aus denen er ein tausendmal lebendigeres Wissen zu schöpfen meinte, als aus der trockenen Weisheit der Bücher. –

Die Gewohnheiten des Falkenheinschen Haushaltes schienen durch die Ankunft der Tochter nicht verändert zu sein. Wie immer wurde eine einfach besetzte, kalte Platte gereicht.

Wie immer kam auch erst beim Essen »Tante Amalie« zum Vorschein. Die alte Dame spielte beinahe eine komische Rolle. Ihr Gatte, ein Jägerleutnant, war einer der »Vermißten« des großen Krieges. Der herbe Schmerz über den Verlust, den die Ungewißheit über das Schicksal des Gebliebenen noch verdoppelte, hatte damals ihren Geist leicht getrübt. Sie lebte seitdem nur noch der harmlosen Leidenschaft, soviel als möglich zu lesen, und wendete fast ihre ganze armselige Witwenpension den Leihbibliotheken der Residenz zu, die ihr nach und nach ihre sämtlichen Bände schicken mußten. Was in den Büchern stand, war der guten Seele gleichgültig, und es kam ihr auch nicht darauf an, nach einer gewissen Zeit ein Buch zum zweiten Male zu durchlesen. Daneben war sie ein wenig gefräßig geworden, und wenn sie sich auch sonst von jedem Verkehr zurückzog, – bei einer Mahlzeit fehlte sie nie. Angeblich führte sie ihrem Vetter Falkenhein den Haushalt, in Wahrheit hatte aber der Oberst die Bedauernswerte aus Barmherzigkeit aufgenommen. Unter Umständen war es ja auch wirklich nützlich, sie im Hause zu haben, gerade seitdem für Marie eine Art Ehrendame gebraucht wurde. 222

Reimers hatte sie bereits in ihrer neuen Funktion kennen gelernt.

Als er eingetreten war, hatte Fräulein von Falkenhein mit einem Hinweis auf die halboffene Tür des Nebenzimmers gesagt: »Tante Amalie hat leider Migräne, sie würde sich sonst gewiß freuen, Sie zu empfangen, Herr Leutnant.« Darauf war in dem Nebenraume ein zustimmendes Räuspern laut geworden, und ab und zu hatte man auch Seiten umwenden hören.

Bei Tische stand Tante Amalie ganz richtig Rede und Antwort, wenn man eine Frage an sie richtete, aber sobald sie sich gesättigt hatte, kehrte sie zu ihren Büchern zurück.

Das war immer so gewesen, wenn Reimers bei Falkenhein gebeten war, und jedesmal, wenn die alte Dame sich entfernt hatte, war dann die Zeit gekommen, daß der Oberst bei der Zigarre die Schätze seiner Erinnerung und Erfahrung vor seinem jungen Freunde ausbreitete.

Aber an diesem Ostermontag kam es ein wenig anders.

In Gegenwart eines jungen Mädchens konnten sich die beiden Männer unmöglich über so eingehende, spezifisch militärische Fragen unterhalten, wie sie es sonst wohl gewohnt waren.

Trotzdem empfand Reimers keine Langeweile.

Fräulein Marie wollte nach Tante Amalies Abgang wieder ihre drollig-würdige Allerweltskonversation beginnen, aber der Oberst fiel ihr ins Wort.

»Bürschchen,« sagte er, »laß nun mal diese glatte Rederei beiseite! Für andere kannst du sie getrost beibehalten, aber Leutnant Reimers schätzt sowas nicht sehr, soweit ich ihn kenne. Und ich kenne ihn, glaube 223 ich, recht gut. Denke mal, Kleine, er ist einer meiner besten Offiziere im Regiment!«

Darauf sah die kleine Dame den Leutnant mit großen Augen an. »Wenn das Vater sagt, Herr Leutnant,« meinte sie treuherzig, »dann gratuliere ich.«

Der Oberst lachte hellauf, und von da an floß das Gespräch munter und zwanglos hin. Das junge Mädchen wußte von ihren kleinen Erlebnissen gut zu erzählen und stellte gescheite Fragen. Im Vertrauen erkundigte sie sich auch ein wenig bei dem Gaste nach den Regimentsdamen.

Dabei fragte Falkenhein plötzlich: »Sagen Sie, lieber Reimers, Sie verkehren doch nebenan bei Oberleutnant Güntz? Nicht wahr?«

»Jawohl, Herr Oberst.«

»Natürlich, Güntz war ja schon früher Ihr Freund. Wissen Sie, die Frau hat mir nämlich ganz ausgezeichnet gefallen, liebenswürdig, offen, gescheit, – und da wir einmal Nachbarn sind, möchte ich ganz gern, daß meine Marie sich ihr ein bißchen anschlösse. Aber die Leutchen scheinen sehr zurückgezogen leben zu wollen!« –

»O, nicht im allgemeinen, Herr Oberst! Nur die übliche, oberflächliche Geselligkeit mögen Güntz' nicht recht.«

»Ich auch nicht, und Sie auch nicht, nicht wahr? Ich glaube Sie zu verstehen, mein lieber Reimers.« –

Am nächsten Tage machten Oberleutnant Güntz und Frau Kläre einen Besuch beim Oberst, und in der Folge entwickelte sich zwischen den Nachbarhäusern ein reger Verkehr. Marie Falkenhein holte eine Erinnerung aus der Pensionszeit noch einmal hervor und begann heimlich für Frau Kläre und ihren »süßen Buben« herzhaft zu »schwärmen«, und 224 die Frau Oberleutnant schloß das liebe junge Ding, das die Mutter so früh hatte verlieren müssen, aufrichtig in ihr Herz.

Von dieser Zeit an veränderte sich die gesellschaftliche Stellung der ehemaligen Gouvernante beträchtlich, und die Frau Majorin Lischke lud die »reizende Frau Oberleutnant Güntz« sogar zu ihrem ganz intimen Kaffeekranz ein. Aber Frau Kläre entschuldigte sich, sie stille ihren Knaben noch immer und könne daher nie länger als zwei Stunden von Hause fort.

Als später die Abende wärmer wurden und ein Verweilen im Freien gestatteten, kam es fast von selbst, daß die Nachbarn zusammen an einem Tische, in einer Gartenlaube, zu Nacht speisten. Man stellte feste Normen auf, was an diesen Abenden aufgetischt werden durfte: kalte Küche und Bier. Nur je eine Maibowle wurde gestattet, und die Bewohner von Waisenhausstraße 55 wechselten in der Besorgung der Speisen und Getränke peinlich genau mit denen von Nummer 57 ab.

Falkenheins ließen aber Tante Amalie zu Hause.

»Die Rechnung wird sonst ungerecht,« meinte der Oberst mit gutmütigem Spott.

Reimers dagegen ging stets frei aus. Er konnte es nicht durchsetzen, auch seinerseits zu dem Abendbrot beizutragen, und als er einmal triumphierend eine Trüffelleberwurst auf dem Tisch niederlegte, erzielte er nur einen Verweis seitens der beiden Herren, »wegen Nichtbefolgung eines dienstlichen Befehls«, und von Frau Kläre die Bemerkung: »Mein Gott, Herr Leutnant, Trüffelleberwurst in dieser Hitze! Ich bitte Sie, überzeugen Sie sich: sie hat gelitten.«

Im Regiment wurden diese »Intimitäten« 225 allgemein ungünstig aufgenommen. Man fand, ein so vertraulicher Verkehr untergrabe notwendigerweise die Autorität des Kommandeurs. Trotzdem bemühte man sich allgemein eifrig um die Gunst der Frau Oberleutnant Güntz, und der Besitzer der kleinen, von den Güntz' bewohnten Villa erhielt mehrmals anonyme Schreiben des Inhalts, er könne auch um einen beträchtlich höheren Preis Mieter für das Grundstück bekommen. Seltsamerweise war der Biedere aber mit der Rente, die ihm sein Besitz abwarf, vollauf zufrieden.

So erlebte Güntz die Genugtuung, daß seine Frau eine der beliebtesten Regimentsdamen wurde, wenigstens wenn man die Häufigkeit der Besuche und die Zärtlichkeit der Besucherinnen als Maßstab annahm.

Und bereits neckte er sein Weib mit einer neuen Entdeckung: sie sei »exklusiv«, behauptete er mit einem Male, »um nicht zu sagen hochnäsig und stolz«.

In der Tat war Kläre nur zwei Damen näher getreten. Neben Marie Falkenhein verkehrte sie nur noch mit Frau Hanna von Gropphusen, – ihr Gatte drückte sich aus, »Kläre würdige Frau von Gropphusen ihres Umgangs«.

Diese Frau war ein reines Rätsel. Alles an ihr war sprunghaft und ungleichmäßig. Zuweilen ließ sie sich wochenlang nicht blicken, dann stellte sie sich wieder Tag für Tag ein, und man merkte ihr es an, daß sie am liebsten für immer geblieben wäre. Das eine Mal war sie von einer nervös überhasteten Lebhaftigkeit, das andere Mal konnte sie minutenlang schweigend dasitzen und düster vor sich hinstarren.

Der Oberleutnant flüchtete zuletzt geradezu vor ihr. Er meinte: »Das Frauenzimmer ist mir unheimlich. Weißt du, was ich denke, Kläre? –« 226

Und geheimnisvoll raunte er der Aufhorchenden ins Ohr: »Die hat mal mit Gropphusen zusammen einen Mord begangen, und dieses blutige Band knüpft die beiden nun aneinander, obwohl sie sich spinnefeind sind wie Hund und Katze.«

Aber Kläre erklärte solche Scherze für sehr unangebracht.

»Was weißt du,« schalt sie ganz ernsthaft, »was das arme Weib mit sich herumträgt! Ein Mord mag da allerdings vorgekommen sein, aber dann hat ihn höchstens Gropphusen an der Seele der armen Frau begangen. Mach' deine Witze also über was anderes, Dicker!«

Die glückliche junge Frau empfand ein heißes Mitleid für das unglückliche Weib, das immer von einem ungeheuren Unheil gehetzt zu werden schien. Mehr als einmal hatte ein schwesterliches Gefühl sie gedrängt, die andere nach ihrem Leid zu fragen, nicht aus Neugier, sondern um der Gequälten Erleichterung zu schaffen, aber sie las in den finsteren, hoffnungslosen Augen, daß dieser Kummer allein, ohne Vertraute, getragen werden mußte. So ließ sie Hanna Gropphusen ruhig gewähren. Sie hörte geduldig zu, wenn die nervöse Frau ihr in kurzen, sich jagenden Sätzen von tausenderlei erzählte, unablässig, wie um eine andere, geheime Stimme zu übertönen, und sie unterbrach schließlich mit keiner Frage mehr das dumpfe Schweigen, in dem sie ihr dann wieder, den kleinen häuslichen Verrichtungen des Nähens und Besserns zusehend, fast durch Stunden hindurch gegenübersitzen konnte. Gerade in der Beobachtung dieser harmlosen, friedlichen Tätigkeit schien Frau von Gropphusen sich gleichsam zu erholen. Ihre Züge verloren dann die unheimliche Starrheit, die 227 Spannung, die darüber gelegen hatte, wich, und sie atmete, wie von einer grausamen Last befreit, tief und seufzend auf.

»Bei Ihnen ist es so wunderbar ruhig, Frau Kläre,« sagte sie zuweilen. »Das tut wohl.«

Der Oberleutnant schüttelte den Kopf über ihr wunderliches Gebaren, aber eins söhnte ihn stets wieder mit ihr aus, – daß sie seinen Buben so rückhaltlos als ein ganz einziges Kleinod bewunderte. Die Mutter konnte ihr keinen größeren Liebesdienst erweisen, als ihr zuweilen den Knaben auf den Schoß zu legen. Hanna sah dann mit einer Art verehrender Andacht auf das Kind herab, das durchaus kein Engelsköpfchen aufwies, sondern einen ganz gewöhnlichen, dicken, runden Säuglingsschädel auf dem festen Körperchen trug. Ihr strenggeschnittenes, schmales Antlitz leuchtete in einer verklärten Schönheit, so daß Güntz einmal seiner Frau ins Ohr flüsterte: »Weißt du, Kläre, was der Gropphusen fehlt? – Ein Kind!«

In seiner offenherzigen Art konnte er sich nicht versagen, leicht scherzend sie anzureden: »Gewiß wünschen sich gnä' Frau auch so einen prachtvollen Buben, nicht wahr?«

Da fuhr Hanna Gropphusen wild in die Höhe. Die Hände, die das Steckkissen hielten, bebten vor Aufregung, kaum daß Frau Kläre ihr den Knaben abnehmen konnte, und ganz weiß im Gesicht stieß sie hervor: »Ich? Ein Kind? – Um Gottes willen! Nie! Nie!!«

Und wieder schrie sie: »Ein Kind? Nein, nein! Nie! Nie!!«

Dabei nahmen ihre Augen den Ausdruck eines furchtbaren Entsetzens an. Sie hielt die Hände vor 228 ihr Gesicht, als wollte sie etwas ganz Abscheuliches von sich stoßen.

Güntz trat erschüttert zurück und schlich sich leise aus dem Zimmer, den Knaben, der ein lautes Jammergeschrei erhoben hatte, vorsichtig tragend. Kläre schlang den Arm um die Zitternde und sprach ihr beruhigend, wie einem Kinde, zu.

Frau von Gropphusen ließ sich zu einem Sessel führen. Sie hörte den milden, tröstenden Klang der Worte, ohne ihren Sinn zu verstehen, und saß regungslos in dem Polster.

»Weinen Sie doch, liebe, arme Frau von Gropphusen!« bat Kläre, vor ihr knieend und sie stützend.

Die Gropphusen strich ihr mechanisch das glattgescheitelte Haar aus der Stirn, immerfort mit ihrer schlanken, schmalen Hand, die kalt wie Eis war.

»Nein, Kindchen,« sagte sie, »das hilft auch nicht. Damit kommt man auch nicht zur Ruhe.«

Plötzlich stand sie auf und sprach in einem erzwungen ruhigen Tone: »Verzeihen Sie, liebe, liebe Frau Kläre, daß ich Ihnen Unruhe verursacht habe! Es ist wirklich nicht recht von mir, mich so wenig zusammen zu nehmen. Ich bitte Sie, seien Sie mir nicht böse und bitte, vergessen Sie auch, was geschehen ist!«

Sie machte sich hastig fertig. Ihre Hände zitterten noch, als sie vor dem Spiegel das Hütchen mit den Hutnadeln feststeckte.

»Ich will Sie lieber begleiten, liebe gnädige Frau,« erbot sich Kläre.

Hanna Gropphusen aber hatte schon wieder ein Lächeln gefunden. Es stand zu ihrem weißen Gesicht in einem gräßlichen Gegensatz. 229

»Nein, nein, Frau Kläre!« wehrte sie ab. »Ich finde schon allein.«

Noch einmal bat sie: »Verzeihung, nicht wahr?« – und ging.

Güntz hatte unterdessen den kleinen Schreihals nicht beruhigen können. Er war froh, als ihm Kläre den ungebärdigen Sohn abnahm.

»Was hatte sie denn?« fragte er.

Kläre zuckte die Achseln. »Sie sagt es nicht,« antwortete sie, »vielleicht kann sie es auch nicht sagen, weil es zu schwer, zu furchtbar ist.«

»Du hast sie ein bißchen allein gelassen?«

»Nein, sie ist fort.«

Der Oberleutnant blickte aus dem Fenster. Kläre, mit dem Buben auf dem Arm, trat neben ihn.

»Sieh!« sagte er, »da geht sie: jung, schön, reich, elegant, chik –. Hat sie nicht alles, was zum Glück gehört?«

Und kopfschüttelnd setzte er hinzu: »Armes, armes Weib!«

Er gelobte sich insgeheim, keine wohlfeilen Bemerkungen mehr über die Gropphusen zu machen. Eins aber mußte er noch vorsichtshalber seiner Frau ans Herz legen.

»Nicht wahr, Kläre,« mahnte er, »den Buben gibst du ihr möglichst selten zu halten?« –

* * *

Mit dem vorrückenden Frühling schien Hanna von Gropphusen neuen Lebensmut zu gewinnen.

Sie hatte eine Passion, der sie leidenschaftlich ergeben war, in der sie jedes Frühjahr wieder neu auflebte, – das Tennisspiel.

Als Tochter eines Generals, der seine Pension und die weit beträchtlicheren Zinsen seines 230 Privatvermögens in Wiesbaden verzehrte, hatte sie sich mit den besten Spielern des Festlands und Englands messen können. Sie war sogar aus mehreren Turnieren als Siegerin hervorgegangen.

In der kleinen Garnison hatte sie natürlich keinen ebenbürtigen Partner finden können, und der einzige, der ihr als ein ernst zu nehmender Gegner erschien, Reimers, war ein ganzes Jahr lang notgedrungen dem Spielplatz fern geblieben. Um so mehr freute sie sich auf die kommenden, schönen Tage.

Anfangs hatte sie Kläre Güntz bewegen wollen, mitzuspielen, aber die junge Frau weigerte sich standhaft.

»Liebe gnädige Frau,« meinte sie, »ich bin vielleicht zu pedantisch, aber ich betrachte eben alles, was ich vorhabe, sehr gründlich von allen Seiten. Namentlich auch vom ästhetischen Standpunkt aus. Und sehen Sie, da halte ich die schnellen Bewegungen des Tennis für mich, wie ich nun einmal bin, rundlich und klein, für sehr unvorteilhaft.«

Güntz stand dabei und rief lachend aus: »Gottlob! Endlich mal eine Eigenschaft von dir, Kläre, die nicht absolut vorzüglich und ausgezeichnet ist!«

Er wandte sich an Frau von Gropphusen und fuhr fort: »Sie müssen wissen, gnädige Frau: was meine Gattin da eben sehr kunst- und wortreich ausgedrückt hat, das heißt auf deutsch: ich bin zu eitel, bei etwas mitzumachen, das mir nicht gut steht.«

»Meinetwegen auch so,« gab die junge Frau errötend zu. »Aber ich sehe Ihnen zuweilen zu, gnädige Frau, wenn Sie gestatten.«

Und zu ihrem Gatten gewendet neckte sie: »Wenn du nicht etwa mitspielen willst, Dickerchen. Wiederum vom ästhetischen Standpunkt aus.« – 231

 

Reimers liebte das Tennisspiel.

Man befand sich gerade in der Zeit des Bespanntexerzierens, in der man oft vier Stunden des Vormittags auf dem Exerzierplatze zubrachte, stets zu scharfem Aufmerken gezwungen und auch körperlich dadurch angestrengt, daß während der Dauer der Übungen der gewöhnliche Exerziertrab vorgeschrieben war. Nachmittags wurde dann nicht minder fleißig am unbespannten Geschütz exerziert, um für die bevorstehende Schießübung wohlgerüstet zu sein. Da war das Tennisspiel gerade der rechte Sport, leicht genug, um auch noch nach starken Anstrengungen ausgeübt zu werden.

Ein wenig Energie gehörte natürlich dazu, die Nachmittagsfaulheit zu überwinden. Dann riß einen der Eifer des Spiels schon von selbst fort.

Regelmäßig waren Frau von Gropphusen und er die letzten, die den Spielplatz verließen. Es kam vor, daß die letzten Bälle nur mühevoll in der hereinbrechenden Dämmerung zu erkennen waren.

Hanna Gropphusen fand, daß ihr Gegner während seiner Abwesenheit sich wesentlich vervollkommnet hatte; er war in Kairo bei Engländern, den unbestrittenen Meistern des Sports, in die Schule gegangen, während sie selbst, bloß mit minderwertigen Spielern spielend, von ihrer früheren Fertigkeit eingebüßt hatte. Jetzt hielten sie sich wohl gerade die Wage.

In diesem Gefühle spielte Reimers leichter und freier. Die gewonnene Sicherheit hatte ihm mehr Ruhe verliehen, und er sah jetzt zum ersten Male, was seinen Augen früher über dem Eifer zu lernen entgangen war, – wie schön Hanna Gropphusen war.

Wenn er sie bei den Geselligkeiten des Winters, von ihrem geheimen Kummer bedrückt. trübe und 232 teilnahmlos in das bunte Treiben um sie herum starrend, gesehen hatte, war sie ihm zuweilen älter erschienen, als es vierundzwanzig Jahre für eine Frau erwarten ließen, die mindestens äußerlich jeder Sorge entrückt war. Jetzt aber, im blühenden Frühling, im Licht der wärmenden Sonne, in der Lust des Spiels, schien sie wie in einem Jungbrunnenbad neu aufzuleben. Sie hatte nicht nur die kalte Müdigkeit des Winters von sich abgestreift, auch jene Weichheit des Sichgebens, die jungen Frauen eigentümlich ist, war von ihr gewichen. Dafür hatte ihre ganze Art wieder die graziöse Herbheit des Mädchentums angenommen. Mit rücksichtsloser Nichtachtung der Gefahren, die ihr durch eine allzu kühne Drehung oder Beugung des Körpers erstehen konnten, gab sie sich dem Sport hin, und ihre flinken Bewegungen waren von der sorglosen Ausgelassenheit, vor der die wissenden Frauen sich hüten.

Ihr Tenniskostüm, das sie, natürlich ohne Korsett, nur mit einem schmalen Gürtel, trug, war sehr fair: eine helle Bluse, ein mausgrauer Rock, in den Hüften sehr eng anliegend und nicht einmal bis zu den Knöcheln herabreichend, grauseidene Strümpfe und weiße, absatzlose Schuhe von dänischem Leder.

Die Regimentsdamen fanden diesen Anzug »indezent«, aber keine hätte sich besonnen, sich ähnlich oder am liebsten ganz genau so zu kleiden wie Frau von Gropphusen, wenn es ihr nur eben so gut gestanden hätte.

Frau Regimentsadjutant Kauerhof, die geborene von Lüben, hatte es ein einziges Mal unternommen, in einem gleichen Kostüm zu erscheinen, nur daß der Rock von marineblauer Farbe war.

Man wußte nicht, woran es lag, – der Rock 233 war sogar eher etwas länger als bei der Gropphusen, aber das Ganze sah weit bedenklicher aus als bei jener. »Ordinär« fand es Frau Oberleutnant Keyl I. Und doch war Frau Kauerhoff eine schöne Erscheinung, groß, noch schlank zu nennen, eben nur von der Fülle junger Blondinen. Diese gerade merkte man allerdings besonders in der lockeren Bluse; die Blicke der jungen Leutnants verweilten mit einer geradezu unanständigen Beharrlichkeit darauf, und auch unterhalb fanden sie eine interessante Tatsache heraus: die Waden der Frau Regimentsadjutant begannen ganz dicht oberhalb der Knöchel.

Es waren derbe Waden.

Daß weiterhin die Kauerhof in dem weißen Schuh eine ganz kolossal breite Patte hatte, das konstatierten die Damen mit absolut reiner, sittlich einwandfreier Befriedigung, – bezüglich des übrigen aber bat eine Abordnung Frau von Wegstetten, die rangälteste der tennisspielenden Damen, mit der Frau Regimentsadjutant ein vertrauliches Wort zu reden.

Da aber tauchte eine Schwierigkeit auf: die Frau Hauptmann weigerte sich beharrlich, den diskreten Auftrag auszurichten. Man verdarb es nicht ohne weiteres mit einer Dame, deren Papa im Kriegsministerium der Abteilung für persönliche Angelegenheiten vorstand.

So wäre die Angelegenheit vielleicht zur Freude der jungen Herren unentschieden geblieben, wenn nicht ein glücklicher Zufall den Oberleutnant und Regimentsadjutant Kauerhof am Tennisplatze vorübergeführt hätte.

Er geleitete seine Gattin ritterlich nach Hause und führte sie wortlos vor den Spiegel. Die gesteifte Bluse war zerknittert, wohl auch etwas von Schweiß 234 durchfeuchtet, und die Schuhe, die neu ganz hübsch knapp gesessen hatten, waren ausgetreten.

»Liebe Marion,« sagte Kauerhof, »ich habe nichts dagegen, wenn du dich auf Bällen so tief dekolletiert zeigst, wie du willst, denn du bist schön –«

Er küßte sie auf die Bluse und fuhr fort: »Aber ich bitte dich doch, so wie jetzt, dich den Leuten nicht zu zeigen.«

Marion war errötet und antwortete: »Du hast recht, Männe. Nun weiß ich, weshalb heute Fröben und Landsberg so um mich herum waren.«

Plötzlich zog sie ein Mäulchen und trotzte: »Aber Frau von Gropphusen geht doch genau so.«

Darauf erwiderte ihr der Gatte ruhig: »Mein Kind, quod licet Jobi, non licet bovi.«

Er hatte nämlich das Gymnasium besucht.

Marion rümpfte die Nase und fragte argwöhnisch: »Du, was heißt denn das?«

Und Kauerhof übersetzte galant: »Wenn zwei dasselbe tun, ist es doch nicht dasselbe. Du bist schöner als die Gropphusen, Marion, aber sie ist magerer als du.«

Denn galant mußte man auch nach der Ehe gegen eine Frau sein, die eine geborene von Lüben und die Tochter des Abteilungschef im Kriegsministerium war, der die persönlichen Angelegenheiten bearbeitete. – –

Fortan trug Frau von Gropphusen das chike Tenniskostüm wieder allein. Keine ahmte es ihr nach. Und sie trug es mit einer herausfordernden Grazie, die die anderen Damen immer neidischer machte.

Das Urteil, das Frau Oberleutnant Keyl I eigentlich über das Kleid der Kauerhof gefällt hatte, ging nun auf das der Gropphusen über: es war »ordinär«. 235

Nur die kleine Leutnant Möller, geborene Keyl, das unverbesserliche enfant terrible des Regiments, die sich auf deplazierte Bemerkungen geradezu kapriziert zu haben schien, schwärmte: »Ach nein, ich finde Frau von Gropphusen ganz richtig zum Küssen entzückend in ihrem Kostüm. Wenn ich ein Mann wäre, würde ich mich ganz sicher in sie verlieben. Und ich – ich möchte mich ganz furchtbar gerne auch so anziehen.«

Betrübt sah sie an sich hinab. Sie trug auch beim Tennis sehr, sehr lange Röcke. Denn sie hatte, genau wie ihr jüngerer Bruder, Oberleutnant Keyl II, etwas gekrümmte Beine. –

Reimers war des leichten Getändels und des Flirtens, dem andere Kameraden den größten Teil ihrer Zeit und Ausdauer widmeten, vollständig ungewohnt. Er dachte deshalb gar nicht daran, seine Bewunderung für Frau von Gropphusen sonderlich zu verbergen.

Es kam nicht selten vor, daß er die leichtesten Bälle versäumte, weil ihn gerade eine Bewegung oder eine Stellung seiner Gegnerin schön dünkte. Ihre Füße, die auch in den unvorteilhaften Sportschuhen fein und schmal blieben, schienen, den Flügeln einer streifenden Schwalbe gleich, den Boden nur zu fächeln, und im kühnsten Sprung, der bei anderen grotesk ausgesehen hätte, legte sie die geschmeidige Grazie einer Katze an den Tag.

Reimers fragte sich erstaunt, wo er früher wohl seine Augen gehabt hätte, daß ihm diese Augenweide entgangen war. Er glaubte, nie etwas Schöneres gesehen zu haben.

Hanna Gropphusen aber schalt, wenn er in naivem Staunen zu ihr herüberschaute. 236

»Herr Leutnant,« rief sie, »Sie sind unaufmerksam, Sie müssen mehr auf den Ball acht geben!«

Aber wenn sie seine bewundernden Blicke auf sich gerichtet sah, stieg ihr eine feine Röte ins Antlitz, über die vom Eifer des Spiels belebten Wangen hinweg bis in die weiße Stirn, in der sich eine einzige frühe Falte seltsam genug ausnahm.

»Sehen Sie, Herr Leutnant,« sagte sie an einem Maiabend, »nun sind wir wieder die letzten.«

Die Sonne war eben untergegangen. In der Luft schwebte der leichte Dämmerungsdunst, der vom Flusse her sich ausbreitete, von den letzten Strahlen des Tages noch rötlich gefärbt.

Frau von Gropphusen hatte den rechten Fuß auf einen Gartenstuhl gestützt und knüpfte einen losen Senkel ihres Schuhes.

Reimers wartete mit ihrem Racket in der Hand.

Der Anblick der sich niederbeugenden, in sich zusammengeschmiegten Frau war trotz der ungewöhnlichen Stellung von einer vollendeten Harmonie.

Er sagte, einfach und überzeugungsvoll, aber ohne jeden leidenschaftlichen oder werbenden Ton in der Stimme: »Sie sind wunderschön, gnädige Frau!«

Hanna von Gropphusen beugte sich tiefer auf ihre Nestelei. Sie wollte etwas erwidern, das ebenso natürlich wäre wie seine Worte, aber sie fand nichts, nichts als die gräßliche Phrase: »Ich bitte Sie, Herr Leutnant, fangen Sie nicht an zu schmeicheln!«

Ihre Stimme klang ein wenig heiser dabei.

Dann gingen sie nach der Stadt zu, erst den Fußpfad an der Wiese entlang, deren entfernteste Fläche zum Spielplatz hergerichtet war, dann die kurze Strecke Landstraße bis zu den ersten Häusern, schweigend, Seite an Seite. 237

Über Reimers lag es wie ein starker Bann. Es war ihm unmöglich zu sprechen. Er hörte die flüchtigen raschen Schritte neben seinen langsameren, er hörte das Rascheln des seidengefütterten Rockes im Rhythmus dieses Schreitens, und wenn der warme Abendwind nach dem Flusse zu strich, atmete er einen schwachen Duft ein. Er mußte an die schlanken, schönen Arme denken, die er im Sonnenlicht durch den dünnen Mull des Ärmels hatte schimmern sehen; von ihnen, von der köstlichen, glatten, weichen Haut dieser Arme, ging wohl dieser zarte Duft aus. Er verspürte plötzlich das Verlangen, diese schönen Arme zu küssen.

Frau von Gropphusen vermied es, ihren Begleiter anzusehen. Nur einmal schaute sie verstohlen zu ihm auf, mit einem scheuen, fragenden, zweifelnden Ausdruck. Zufällig wandte sich Reimers gerade zu ihr. Die Blicke begegneten einander und lösten sich langsam wieder von einander los.

Am Gartentor küßte er ihr zum Abschied die Hand. Sie schrak ein wenig zusammen und sagte mit einem mühsamen Versuch zu scherzen: »Mein Gott, was ist uns jetzt passiert? Im wärmsten Maiwetter haben wir alle beide eiskalte Hände.« –

Reimers eilte verwirrt nach Hause.

Um ein halb neun Uhr war er bei Güntz zum Abendessen geladen. Es war Mittwoch, »sein« Tag. Vor geraumer Zeit schon hatte es acht Uhr geschlagen, und er mußte sich noch umkleiden. Denn der Oberst, der sicherlich von drüben kam, liebte es gar nicht, seine Offiziere in Zivilkleidern zu sehen, wenn es sich nicht um eine Jagd oder eine andere sportliche Angelegenheit, eben Tennis z. B. handelte.

In seiner Wohnung fand er alles handgerecht bereit gemacht: frisches Wasser im Waschbecken, ein 238 Frottierhandtuch, Wäsche, die mittlere Überrockgarnitur, Stiefeln, Taschentuch, ein Paar neugewaschene Handschuhe.

»Haben Herr Leutnant sonst noch Befehle?« fragte Gähler.

Reimers antwortete: »Nein, ich danke.«

Darauf zog sich der Bursche mit einer markierten Stellungnahme zurück. Der Leutnant brauchte beim Umziehen keine Handreichungen.

Reimers sah sich um: es fehlte nichts. Er konnte mit Gähler zufrieden sein. Selbst die angerissene Flasche Rotwein stand auf dem Tisch neben der mit perlfrischem Wasser gefüllten Karaffe. Ein Glas Wasser mit einem Schuß Rotspon darein war das beste Mittel, um den Durst zu löschen, den man vom Tennisplatze mitbrachte.

Hastig goß er ein Glas von der Mischung hinunter. Das kühlte wundervoll. Er bereitete sich noch ein zweites und trank es langsamer aus. Das Wasser war so kalt, daß die Wände des Glases anliefen. Aber es schien ihm, als sei die helle Glut, die ihm in der Kehle, in der Brust, im Kopfe, überall brannte, nicht dadurch ausgelöscht.

Er machte sich geschwind daran, sich umzukleiden. Es fehlten nur noch wenige Minuten an ein halb neun. –

Er war fast fertig und brauchte nur noch den Überrock anzuziehen – da verschwand plötzlich alles, was um ihn war und was er vorhatte, in eine weite unendliche Ferne. Er fühlte sich losgelöst von Raum und Zeit.

Mechanisch ließ er sich in einen Sessel nieder; er stützte den Kopf in die hohlen Hände und schloß die Augen. 239

Er dachte an Hanna Gropphusen, – wie wunderschön sie war, wie einzig wunderschön, – an den Blick, den sie zu ihm aufgeschlagen hatte, und an die Frage, die in ihren schönen, scheuen Augen geschrieben stand. Er meinte, diese Frage deuten zu können. »Soll ich wirklich noch einmal glücklich sein? Darf ich's wirklich hoffen? Und wärst du es, der mir das Glück brächte?« hatten die scheuen Augen gefragt. Aus einem unermeßlichen Abgrund von Unglück und Verzweiflung heraus hatten sie gefragt.

Wie unglücklich war diese Frau!

Und wie wunderschön! – –

Die Tür ging. Gähler trat ein.

Reimers fuhr auf: »Was wollen Sie?«

»Herr Leutnant verzeihen,« stammelte der Bursche, »ich glaubte, Herr Leutnant wären fertig.«

Er hatte Mütze und Säbel in der Hand.

»Schön! Gut! Geben Sie her!«

Der Leutnant vollendete in Eile seinen Anzug und lief nach der Waisenhausstraße.

Man setzte sich eben zu Tisch, als er den Garten betrat. In der Laube von wildem Wein war alles wie an den anderen Abenden. Die Menschen waren dieselben und die Stimmung, eine freie, herzliche Fröhlichkeit nach ehrlich getaner Pflicht. Aber Reimers kam sich dieses Mal wie ein Fremder vor. Er, der sonst der munterste unter den fünf Tischgenossen gewesen war, blieb diesen ganzen Abend still und versonnen. – –

Seine Leidenschaft für Frau von Gropphusen wuchs mit jedem neuen Tage. Er gab sich keine Mühe sie zu bekämpfen. Gewiß war die geliebte Frau die Gattin eines anderen, eines Kameraden, aber er glaubte ihr selbst in Gedanken mit keinem Wunsche 240 zu nahen, und wenn das einmal geschehen sollte, fühlte er sich stark genug, sich zu bezwingen.

In der Tat fiel kein Wort zwischen den beiden, das nicht ebenso gut Dritte hätten vernehmen können. Selbst bei der Begrüßung oder beim Abschied gab es keinen bedeutsamen, innigeren Druck der Hand, nur die Blicke tauschten heimliche Geständnisse aus, redeten von einer großen, heißen Liebe, klagten ein furchtbares, tiefstes Leid und spendeten süßesten Trost, umarmten und liebkosten sich.

Und wenn es nur anging, standen sie sich auf dem festgestampften Kies, durch das dünnmaschige Netz getrennt, gegenüber. Die Frau wußte, daß sie dem Geliebten in ihrer Schönheit ein herrliches Fest rüstete, und der Mann hing mit verehrenden Augen an dem edlen Spiel ihrer wundervollen Glieder.

Natürlich bemächtigte sich der Garnisonklatsch des willkommenen Opfers. Die Gropphusen hatte seit dem Flirt mit Major Schrader einen ganzen Winter lang keinen Anlaß zum Gerede gegeben. Um so geschäftiger waren nun die bösen Zungen an der Arbeit.

Es dauerte nicht lange, so richteten einzelne von den jüngeren Herren halb scherzhafte, mehr oder weniger unzarte Bemerkungen an Reimers.

Der kleine Dr. von Fröben drohte mit dem Finger, und gestattete sich bloß ein beziehungsreiches: »Ja, ja. Stille Wasser sind tief!« Landsberg indessen gratulierte ihm geradezu.

»Sie sind glücklich,« sagte er mit der Miene eines Jammertropfes, »ich –?«

Und er erging sich in plumpen Lobpreisungen der körperlichen Vorzüge Frau von Gropphusens, »dieses eminent rassigen Weibes«, wie er sie nannte.

Reimers wies ihn grob zurück. 241

Im Grunde öffneten ihm solche Anzapfungen nur die Augen darüber, wie jungenhaft zurückgeblieben er gegenüber den anderen in seiner ganzen Weltanschauung war.

»Sie sind ein merkwürdiger, jugendlich-unwirklicher Mensch,« hatte ihm vor kurzem einmal der Oberst gesagt. Reimers glaubte es fast selbst. Über ein Frauenzimmer, dessen Huld man gekauft hatte, dachte man allenfalls so wie Landsberg, nicht aber über eine Frau, der man gesellschaftliche Ehren erwies. Er wußte wahrhaftig nicht, ob Frau von Gropphusens Brust hoch oder tief ansetzte, – er wußte nur, daß die Frau schön war.

Am liebsten hätte er dem ekelhaften Landsberg eine Maulschelle heruntergehauen, aber das hätte nur einen Skandal gegeben. und den mußte er um der geliebten Frau willen vermeiden.

Jedenfalls zog er sich ein wenig von ihr zurück. Niemals sollte sie seinetwegen leiden. Er hielt sich zeitweilig vom Tennisplatz fern und wenn er da war, spielte er nicht mehr ausschließlich mit ihr.

Hanna Gropphusen war dann wie niedergeschmettert. Sie verstand ihn nicht. Was tat es, daß die Klatschmäuler über sie herfielen? Ungerechterweise noch dazu? Sie war es gewöhnt und hatte eine derbe Haut, durch die die Stiche von solchem Geschmeiß nicht hindurchdrangen. Und er war ein Mann. Deshalb wollte er sich von ihr wenden? Von ihr, die sich zu seinen Füßen hätte niederwerfen und betteln mögen: »Laß mir deine Liebe! Ich lebe ja nur durch dich!«

Ein krampfhaftes Schluchzen stieg ihr in der Kehle empor. Um sich nicht davon überwältigen zu lassen, mischte sie sich unter den dichtesten Schwarm, in die lebhafteste Unterhaltung. Sie gab sich laut und 242 lärmend, nur um ihn fühlen zu lassen: »Ich bin doch noch da!«, und wie eine wilde Sehnsucht überkam es sie, sich ihm um jeden Preis bemerkbar zu machen, selbst auf die Gefahr hin, ihm wehe zu tun, ja gerade deshalb, um ihm wehe zu tun.

Sie kokettierte dreist mit den Herren und sagte mit einer tonlosen, zitternden Stimme Abscheulichkeiten, die sich ungeheuerlich in ihrem Munde ausnahmen.

Eines Abends waren sie noch zu dritt auf dem Spielplatz, sie, Reimers und Landsberg, an den sie in dieser schrecklichen Zeit ihre unnatürlich lebhaften Worte mit Vorliebe richtete. Gerade weil sie wußte, daß er Reimers verhaßt war. Übrigens fühlte sich der Tropf dadurch nur geschmeichelt.

Man ruhte vor dem Nachhauseweg noch ein wenig aus.

Landsberg hatte sich im Gras der angrenzenden Wiese gelagert und sah beharrlich geradeaus.

Reimers empfand diese liegende Stellung als eine Flegelei und schaute finster zu dem Kameraden hinüber. Unwillkürlich folgte er der Richtung seiner Blicke.

Hanna von Gropphusen hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und achtlos die Beine übereinandergeschlagen. Bis zum Knie hinauf waren sie in den grauen Strümpfen sichtbar.

In Reimers quoll eine ungeheuere Wut empor. Er wollte den schmutzigen Burschen in die Höhe reißen und ihn ohrfeigen.

Da hatte auch Frau von Gropphusen Landsbergs Blicke bemerkt. Sie wandte sich verächtlich ab und ordnete langsam ihr Kleid.

Reimers stand auf. Er mußte etwas zerbrechen, 243 zerstören, zerschmeißen. Wirbelnd schwang er das Rakett in der Hand, um es dem Buben an den Schädel zu werfen, – plötzlich ließ er es sinken. Es hatte einen Ruck im Handgelenk gegeben. Das Rakett entfiel ihm.

»Was haben Sie?« fragte Frau von Gropphusen.

»Nichts,« gab er rauh zur Antwort. »Ich wollte mich nur verabschieden, gnädige Frau.«

Er verbeugte sich steif. Es war ihm dunkel vor den Augen, und er sah nur verschwommen, daß die Frau aufgestanden war.

Einen Augenblick blieb sie stumm. Dann erwiderte sie mit unendlich sanfter Stimme: »Aber begleiten Sie mich heute nicht nach Haus, Herr Leutnant?«

»Wie gnä' Frau befehlen!«

Landsberg verabschiedete sich eilig und gedrückt, die zwei gingen langsam hinter ihm drein.

Am Abendhimmel hingen schwere Regenwolken, und zuweilen strich ein Windstoß über das Feld.

Reimers schritt schnell aus.

Einmal unterbrach Hanna Gropphusen das schweigende Nebeneinandergehen: »Sie haben sich die Hand verletzt?«

»Ja – nein –, ich weiß nicht.«

Als sie am Gartentor der Gropphusenschen Villa anlangten, war es fast ganz finster geworden.

»Zeigen Sie mir Ihre Hand!« bat die Frau leise.

Reimers hielt sie wortlos hin. Das Handgelenk war dick geschwollen.

Plötzlich neigte sich Hanna darüber und hauchte einen flüchtigen Kuß über die wehe Stelle. Als sie sich wieder aufrichtete, liefen ihr Tränen über die Wangen. 244

Reimers beugte sich ein wenig. Er faßte ihre herabhängenden, kühlen, weißen Finger und küßte sie – lange.

»Hanna!« schluchzte er dabei.

Sie strich ihm sanft über die Stirn und nickte traurig.

Dann ging er.

Ganz von fern schaute er zurück. Alles lag im Dunkel. Ein Blitz zuckte am Horizont entlang. Da unterschied er eine undeutliche Gestalt, die sofort wieder in der Finsternis versank. – –

Der Oberstabsarzt urteilte: »Es ist nichts Gefährliches, lieber Reimers. Sie haben sich übergriffen. Eine feste Bandage und Arnikaeinreibung! Dienst können Sie getrost tun, Tennis spielen natürlich einstweilen nicht.« –

Damit war es ohnehin zu Ende. Der Abmarsch in die Schießübungen stand bevor.

Von den Kameraden erfuhr Reimers, daß auch Frau von Gropphusen nicht mehr auf den Spielplatz komme. Sie sei nicht wohl, hieß es, wolle ins Bad. Die Herren lächelten dabei. Sicher dachten sie für sich: »Aha! Es hat einen Krach gegeben!«

Ihm war das gleichgültig. Er wußte es besser.

Aber auch die vier Tischgenossen aus der Waisenhausstraße schienen mit dieser Wendung der Dinge gar nicht unzufrieden zu sein.

Wenn er früher zu spät gekommen war und sich entschuldigte: »Ich habe mich beim Tennis verspätet,« da hatten sie allesamt eine fatale Art von Zugeknöpftheit zur Schau getragen, die erst ganz nach und nach vom Tische gewichen war, zuweilen auch gar nicht.

Mit einem Male traten sie ihm wieder mit der alten, offenen Herzlichkeit entgegen. Seine 245 Handverletzung schien überhaupt niemand ernst zu nehmen, man hielt sie wohl für einen geschickten Vorwand.

Er redete dawider, was er konnte, er zeigte die Geschwulst, – sie hatte allerdings bereits wieder abgenommen –, aber nirgends fand er Glauben.

Das Allerseltsamste kam zuletzt.

Frau Kläre hatte mit Marie Falkenhein ein wenig im Garten promeniert und mochte wohl durch den Buben abgerufen sein. – so traf Reimers die Tochter des Obersts allein.

Er verabschiedete sich ehrerbietig.

Da sah ihm das junge Mädchen mit den klaren grauen Augen voll ins Gesicht und sagte: »Es freut mich aufrichtig, Herr Leutnant, daß Sie so entschlossen dem häßlichen Gerede ein Ende gemacht haben. Es tat mir um Frau von Gropphusen und auch um Ihretwillen leid, garstigen Dingen zuhören zu müssen und nichts dagegen sagen zu können.«

Reimers verneigte sich. Er vergaß fast vor Staunen, Frau Kläre Adieu zu sagen.

So warm und herzlich hatte Marie Falkenhein ihm das gesagt, und so ehrlich und gut hatte sie ihn dabei angeschaut, daß er fast ein wenig Rührung verspürte.

Es kam ihm in den Sinn, daß der Mann, der das junge Mädchen einmal als Weib heimführte, ein stetes, ruhiges Glück finden würde. Es lag eine sichere Bürgschaft dafür in ihrem festen Blick.

Aber über den unberührten, klaren Augen des Mädchens sah er die gramvollen der unglücklichen Frau, die er liebte.

Er sah die schweren Tränen über die blassen Wangen herabrollen und sah, wie sie unbeweglich im flüchtigen Licht des Blitzes stand und darnach in der schwarzen. nächtlichen Finsternis versank. 246

 


 << zurück weiter >>