Alice Berend
Die Reise des Herrn Sebastian Wenzel
Alice Berend

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30

Jeden Tag zur selben Stunde ging Herr Sebastian Wenzel durch die gleiche Tür den gleichen Weg. Zur gleichen Stunde kehrte er zurück, um sich auf denselben Stuhl zu setzen.

Sein Leben lief mit der gleichen unberührten Sicherheit dahin, mit der die Jahre durch den Kalender ziehen.

Amalie Zwinks Papagei saß schon lange stumm und ausgestopft auf dem Schrank. Die alte Exzellenz war nun sicher vor allen schönen Frauen, und weder Liebe noch Podagra konnten ihn noch quälen.

In allen Geschäften der kleinen Straße stand ein neues Geschlecht hinter dem Ladentisch. Auf Heinrich Siebenlists Schild, das sich an sonnigen Tagen in Herrn Wenzels blank geputzten Fensterscheiben spiegelte, glänzte hinter dem Namen in hellem Gold: Nachfolger. Herrn Wenzels Wirtschafterin hatte ein größeres Sparkonto auf der Bank und einen grauen Scheitel auf der Stirn. Auch sie war nun ihrer Verwandtschaft nicht ohne Bedeutung.

Als ruhiger und immer heiterer werdender Beobachter sah Herr Wenzel hinter den Scheiben dem Wechsel der Jahre und Menschen zu.

Lächelnd saß er auf seinem Platz.

Er fürchtete sich nicht mehr vor einem mageren unbekannten Gast. Er lebte vorsichtig und in nichts vermessen. Er fühlte jeden Morgen, daß er noch Jahre vor sich haben müsse.

Dann und wann trank er mit Fräulein Zwink eine Tasse Tee zusammen. Sie mochten sich eigentlich immer noch nicht leiden. Sie fand ihn zu schweigsam und er sie zu geschwätzig. Aber gerade durch diese Eigenschaften kamen sie gut miteinander aus.

Die jüngeren Verwandten, die nun auch nicht mehr jung waren, belästigten Herrn Sebastian Wenzel nicht mehr.

Sie hatten im Laufe der Jahre eingesehen, daß die glücklichen Zufälle – und in diese geheimnisvolle Kategorie rechneten sie die Erbschaften – von selbst kommen müssen.

Aber Sebastians ältere Schwester kam häufig zu ihm. Sie war außer ihm die einzige der alten Wenzelschen Garde, die noch jedem Wetter standhielt.

Als er anfänglich ihre Besuche abzulehnen versuchte, hatte sie kurz und bündig erklärt:

»Wir waren zusammen jung, mein Junge, wir sind zusammen alt. Wir gehören zusammen. Sei froh, daß sich jemand um dich kümmert.«

Mit dem alten Respekt der Jugendzeit hatte sich Sebastian gefügt. Stumm und still trotzig.

Wie einst als Kinder saßen sie sich am Fenster gegenüber und sahen hinaus. Nur waren sie jetzt dem Erdboden näher. Damals strichen ihre Blicke über die Dächer. Herr Wenzel empfand keinen Zorn mehr gegen die Schwester. Nicht einmal Mißtrauen. Er fühlte, daß ihm von anderen nichts mehr geschehen konnte. Aber er zog es vor, mit seinen Gedanken allein zu sein. Wenn man mit anderen zusammen war, mußte man denken, was diese wollten. Auch brachten andere leicht Beunruhigung von außen mit herein.

Nicht selten wollte die Schwester von irgendeinem Unglück berichten, das diesem oder jenem zugestoßen war. Aber dann unterbrach Sebastian sie ärgerlich und sagte:

»Alte Leute müssen sich nichts Unangenehmes erzählen.«

Dann holperte zwischen den welken Lippen der Schwester ein rostiges Lachen hervor, und sie rief:

»Aus dir wäre auch kein Held geworden, alter Junge.«

Aber einmal antwortete Sebastian darauf:

»Du redest, wie du es verstehst. Jeder Mensch ist ein wenig Held. Weil er sein Leben einrichten muß und doch weiß, daß der Tod auf ihn wartet.«

»Ja, ja, das mag schon sein«, hatte die Schwester geantwortet und nachdenklich auf das Treiben der Straße geblickt.

»Aber«, sagte sie nach einer Weile, »schließlich kann man nicht immer leben. Man will es am Ende auch nicht. Ich bin oft so müde des Morgens, daß ich gar nicht aufstehen möchte. Nur um wieder einen neuen Tag anzufangen ...«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Sebastian. »Jeder Tag hat doch seine kleine Freude im Hinterhalt. Eine kleine Freude, mit der niemand anderem auf der Welt etwas geraubt wird.«

Er lächelte ein freundliches Kinderlächeln. –

Daß er niemand störte, niemand mit seinem Behagen etwas fortnahm, bestärkte in ihm die Zuversicht, mit der er rechnete, ungestört auf seinem versteckten Plätzchen gelassen zu werden.

Er bezahlte pünktlich und ohne Murren seine Rechnungen. Er war der Stolz der Straße, die mit ihm und seinen Ausgaben wie mit einer kleinen sicheren Rente zählte. Alle waren stolz auf die Rüstigkeit ihres Herrn Sebastian Wenzel, den schon ihr Großvater bedient hatte.

Nicht nur einer versicherte ihm auf seinem Spaziergang, daß er jung und blühend aussähe und sicher noch eine unabsehbare Reihe rüstiger Jahre vor sich habe.

Aber eines Nachts bezahlte er, der immer ehrlich gewesen war, ohne langes Überlegen auch jene letzte Rechnung, die selbst der leichtsinnigste Schelm begleichen muß.

Sein Erbe fiel der Familie zu. Herr Sebastian Wenzel hatte mit dem Aufsetzen seines letzten Willens noch einige Jahre warten wollen.

 

Ende


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