Alice Berend
Die Reise des Herrn Sebastian Wenzel
Alice Berend

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17

Die Plakate, die Herrn Sebastian Wenzel vom Reisebüro bis an das Mittelmeer gelockt hatten, schmückten auch hier die Wände. Blauer als blau blieb ihr Himmel, röter als rot gab die untergehende Sonne dem freundlichen Mädchen das Lächeln zurück.

Nichts ist so geduldig wie Papier. Am wenigsten Himmel und Meer. Herr Wenzel bekam einen neuen Beweis davon. Seit zwei Tagen war der Himmel schmutziggrau, so weit man ihn sehen konnte. Das Meer wälzte und wand sich brüllend und schäumend umher, als habe es Gift verschluckt, das es auf jede Weise wieder von sich geben wollte. Es regnete in kurzen Abständen, und ein höchst unangebrachter Wind trieb die Tropfen überallhin, wo man sie nicht haben wollte. An Spazierengehen war nicht zu denken. Es war klar, daß man sich hier wie überall mit Leichtigkeit erkälten und den Tod holen konnte. Er hatte wieder einmal recht gehabt. Das ganze Reisen war ein von Hotelwirten ins Werk gesetzter Schwindel.

Diesen und ähnlichen Gedanken gab Herr Wenzel sich hin, als er in seinem kleinen Zimmer vor den naßkalten Scheiben saß.

Draußen war nichts zu sehen als eine unendliche Weite voll Dampf und tosendem Schaum. Und der Wind spielte wilde und rasende Tänze auf dieser gewaltigen Orgel.

Herr Wenzel lernte, was Sehnsucht heißt. Er dachte an seine warme, behagliche Wohnung, an die stille und doch belebte Straße, wo an jeder Ecke ein Schutzmann stand und unnötigen Lärm untersagte und verhinderte.

Das ganze Getöse der meilenweiten Großstadt war ein Flüstern im Vergleich zu dem unerhörten Skandal, den Wind und Wasser hier ungehindert verübten.

Er schüttelte den Kopf und seufzte. Es zog am Fenster. Der Fußboden war kalt. Marietta, die seit einigen Tagen stets ›Bitt' schön, Herr Baron‹, sagte, versuchte in dem ihr nicht unbekannten Ofenloch Feuer zu machen. Aber das Holz benahm sich ebenso tückisch, wie die verwandtschaftlichen Familienbriefe. Es kroch als Qualm wieder hervor.

Herr Wenzel beschwerte sich beim Direktor. Gemessen, aber nicht unhöflich.

Dieser lächelte, als ob er die angenehmsten Neuigkeiten von Herrn Wenzel erführe. Er bat tausendmal um Entschuldigung und fand es ganz unbegreiflich, daß die vortrefflichen Heizvorrichtungen seines Hauses rauchen konnten.

In Wahrheit hatte der Ofen geraucht, solange er stand. Wahrscheinlich war er vom Schöpfer als Pfeife gedacht worden. Aber viele Dinge verfehlen ihren Zweck im Leben. Schließlich war ein Hotelwirt nicht verpflichtet, die Welt zu verbessern ...

So etwas denkt man. Aber man sagt es nicht.

Im Gegenteil. Der Direktor versprach, alles zu tun, was in seinen Kräften stand. Und auf dem Gipfel der Liebenswürdigkeit angelangt, schloß er:

»Aber heute abend ist Neumond. Sie werden sehen, werter Herr, das Wetter ändert sich.«

Höflichkeit ist die furchtbarste Waffe des zivilisierten Menschen.

Herr Wenzel bedankte sich schließlich fast beschämt für den Neumond und verließ den Direktor nach dem Takt gegenseitiger Verbeugungen.

Er kehrte in seinen Rauchfang zurück, wo sich inzwischen nichts geändert hatte. Der Wirt beugte sich wieder über seine Rechnungen. Diese Ofengeschichte war bis auf weiteres erledigt.

Der Neumond tat seine Pflicht. Das Wetter änderte sich schon in der Nacht. Der Regen hörte auf, und gewaltige Hagelschauer prasselten nieder. Herr Wenzel empfand es zwar angenehm, daß er weder Landmann noch Getreidehändler war. Aber sein Zimmer wurde doch nicht warm davon. –

Doch zwischen Sturm und Wassergetöse keimte still die Saison empor. Marietta hatte nicht gelogen.

Es war längst eine stehende Naturerscheinung – sobald das Wetter schlecht wurde, kamen die Gäste.

Der vierrädrige Glaskasten, der wassertriefend mit beschlagenen Scheiben auch gut ein Aquarium hätte sein können, ratterte mehrmals des Tages, dicht gefüllt mit feuchten Gästen, zum Tor herein.

Füße trappelten auf den Treppen und durch die Korridore. Die Klingeln arbeiteten wie auf einem Telefonamt. Schränke knarrten. Schübe rumpelten. In allen Zimmern wurde ausgepackt und der Versuch gewagt, es sich gemütlich zu machen.

Das Klavier wurde lebendig und strömte von früh bis abends Walzer- und Operettenlieder aus. Mädchengekicher schwirrte umher, als hätten sich einige Möwen von draußen in den Treppenflur verirrt.

In dem hübschen, hellen Speisesaal war ein Gesurr, als säße man neben einem großen Maschinenrad.

Dies alles war Herrn Wenzel peinlich und störend.

Einen Augenblick lang, als gerade das Brausen des Meeres, das Plätschern eines Regengusses und ein mit beiden Pedalen getretener Walzer sich zu vereinigen suchten, war er schon entschlossen gewesen abzureisen. Er brauchte seine Ruhe.

Doch gleich darauf sagte er sich, daß so viele Leute nicht ohne Grund hierherkommen. Der Aufenthalt mußte wohl sein Gutes haben. Und das Wetter konnte auch nicht immer so bleiben.

Aber natürlich muß man an solchen wenig behaglichen Tagen aufs äußerste gereizt werden, wenn einem noch dazu die Freude am Essen verleidet wird.

Und das wurde sie Herrn Sebastian. Durch Cesare, den neuen italienischen Kellner. Er war nötig, um den Gästen den Genuß des Radebrechens in italienischer Sprache zu verschaffen. Was unbedingt zu einer italienischen Reise gehört. Die ganze andre Bedienung war zur allgemeinen Zufriedenheit deutsch. Cesare hatte die für einen Kellner besonders unpassende Angewohnheit, sich mit den Fingern stets an der Nase zu beschäftigen.

Herr Sebastian Wenzel hatte das bald bemerkt.

Damit war die Freude am Frühstück für ihn vorbei. Er vermochte kein Brötchen zu essen, das Cesare gebracht hatte. Und das Gebäck war stets ausgezeichnet, frisch und knusprig. Herr Wenzel unterzog sich der peinlichen Mühe, sich in dem vollen Saal selbst ein Brötchen vom Büfett zu holen.

Cesare stand inmitten des Saales, die Knie eingeknickt in den grauschwarzen Frackhosen, den Zeigefinger in der Nase, die Serviette unter dem Arm.

Als er Herrn Wenzels Bemühen sah, sprang er pflichtbewußt hinzu, entriß ihm das Brötchen, nahm es zwischen Daumen und Zeigefinger, legte es auf einen Teller und setzte es, nachdem er im Schlittschuhlauf über das Parkett geglitten war, neben Herrn Sebastian Wenzels Tasse.

Herrn Wenzel übermannte die Wut. Er drehte sich um und ging zum Direktor.

Dieser war schon ganz rot vor – Liebenswürdigkeit.

Das Haus war voll, und jeder Gast hatte eine andere Beschwerde. Dem einen war das Bett zu kurz, dem andern zu lang. Dieser fand die Matratze zu weich, jener zu hart. In einem Zimmer störte der Wind, der durchs Fenster pfiff, im andern war nicht genug Ventilation. Ein Herr brauchte vier Kopfkissen, wenn er Schlaf finden sollte. Woher sollte man die aus der Erde stampfen? Schließlich bestand die Welt nicht aus Kopfkissen.

Jetzt kam auch noch der alte Herr, von dem Marietta behauptete, daß er steinreich sei. Sein Ofen rauchte natürlich wieder. Er ging auf Herrn Wenzel zu:

»Ihr Ofen, Herr – ich –« Herr Sebastian Wenzel richtete sich auf und unterbrach ihn. Mit Verachtung und Entrüstung sagte er langsam:

»Mein Herr, Ihre Kellner popeln.«

»Wie?« Der Direktor sah ihn verdutzt an. Er glaubte sich verhört zu haben.

»Ich sage: Ihre Kellner popeln«, wiederholte Herr Wenzel. Sein knochiges Gesicht war dunkelrot vor Zorn und Ekel.

Der Herr im Gehrock wollte immer noch nicht verstehn.

Herr Wenzel berichtete kurz vom Brötchen auf dem Teller und dem Finger in der Nase.

Nun entschuldigte sich der Direktor mit der ganzen Gewalt unwiderstehlicher Liebenswürdigkeit.

In seinem Innern zuckte es allerdings. Sollte er nun auch noch aufpassen, wo seine Kellner in ihren freien Minuten die Finger hatten? War er die Gouvernante der ganzen Welt?

Laut aber versprach er, der Angelegenheit auf den Grund zu gehen, und wenn es sich wirklich so verhalten sollte, selbstverständlich und natürlich und bestimmt den Elenden zu entlassen.

»Da ist nichts auf den Grund zu gehen«, warf Herr Sebastian gereizt ein. »Ich habe Augen im Kopf.«

Das bestritt der Direktor keineswegs, und er erwiderte noch einmal, die Angelegenheit zu aller Zufriedenheit ordnen zu wollen.

In der Tür aber sagte er, daß er dem Herrn gerade ganz ergebenst habe mitteilen wollen, daß seine Pension um eine Lire am Tag erhöht werden müsse. Das Haus war voll, er hatte das beste Zimmer –

Dies blieb das Hauptergebnis jener Unterredung.

Cesare trieb sein Unwesen ungestört weiter. Man bekommt in der Hauptsaison keinen neuen Kellner von heut auf morgen. Und ebensowenig kann man durch Jahre gepflegte Angewohnheiten sich in kurzer Zeit abgewöhnen.

Herr Wenzel hätte sich schon längst wieder beklagt. Aber wer weiß, ob der geschniegelte, aalglatte Kerl dann nicht wieder mit einer neuen Erhöhung der Pension kam. Schließlich brauchte man das Geld nicht zum Fenster hinauszuwerfen.

Sebastian stand eine halbe Stunde früher auf und erwartete den Bäcker vor der Tür. Direkt aus seinem Korb suchte er sich leichtgebräunte Knuspersemmelchen.

Es war ihm gleichgültig, wie die Leute darüber dachten. Jedermann muß vor allem das tun, was er für Recht hält.

*

Die Regelmäßigkeit in Sebastians Leben führte ihn jeden Abend noch einmal den Gang vor seinem Zimmer hinauf und herunter.

Eines Abends verspätete er sich ein wenig. Der Korridor lag schon im nächtlichen Halbdunkel. Herr Wenzel stolperte über etwas. Erschreckt blieb er stehen. Er fürchtete, auf eine Maus oder sonst irgendein Tier gestoßen zu sein. Zum Glück hatte er Zündhölzer bei sich. Bei dem Flackerschein eines Hölzchens sah er einen niedlichen, drolligen Schuh vor sich liegen. Er war aus Schlangenhaut und trug eine große goldene Schnalle und glich genau denen im Schaufenster, die er für Reklamestücke gehalten hatte.

Herr Wenzel ließ noch ein Lichtchen aufblitzen. Er überzeugte sich, daß der Gefährte des Schuhchens vor einer der Türen stand. Aus dem starken Gefühl seines Ordnungssinnes heraus hob er das Stückchen Schlangenhaut mit Absatz und Schnalle behutsam auf und setzte es bedächtig neben den andern. Über den Schuhen hing ein Damenrock am Riegel, über den Reihen kleiner Goldknöpfe wie Soldaten zur Parade marschierten. Es duftete hier stark nach frischen Veilchen.

Ein Möwenlachen zwitscherte hinter der Tür und klang gedämpft heraus.

Herr Sebastian Wenzel ging eilig weiter und war froh, als er wieder sicher in seinem Zimmer war.


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