Alice Berend
Die Reise des Herrn Sebastian Wenzel
Alice Berend

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25

Wo die Natur allein nicht ausreicht, muß der Mensch versuchen, ihr nachzuhelfen.

Fräulein Mathilde Laubwurzel beschloß, ihr verschönendes blaues Seidenkleid, das sie eigentlich nur für den Schrank und einige Staatsstunden mitgebracht hatte, am frühen Morgen anzuziehen, ein wenig Rot auf die Backenknochen zu legen und ganz in der Früh mit allen diesen Reizen spazierenzugehn.

Denn Morgenstunde hat Gold im Munde.

Als Herr Wenzel aus der Tür des Hotels trat, stand sie lächelnd davor und wünschte guten Morgen.

»Die Tage werden heiß«, fuhr sie dann sogleich fort. »Man muß früh aufstehen. Denken Sie, Herr Wenzel, zwanzig Grad zeigt das Thermometer neben der Küchentür.«

»Da hat man ja nichts zu suchen«, erwiderte Herr Sebastian Wenzel und drehte der blauen Dame den Rücken. Aber diese bewies rasch, daß auch sie ein beweglicher Gegenstand war.

Sie machte eine schnelle Wendung und stand ihm nun auf der andern Seite gegenüber.

»Ich habe einen Auftrag«, sagte sie und bemühte sich, ihrer Stimme den Ton einer Flöte zu geben. – »Frau Bürgermeister will im Motorboot nach einer kleinen Insel fahren und bittet Sie, mitzukommen.«

»Ich bin erst gestern im Motorboot gefahren. Ich bedaure«, antwortete Herr Wenzel und versuchte das Freie zu erreichen.

Aber Fräulein Laubwurzel neigte sich wie eine Barriere und sagte überredend:

»Die ganze Fahrt währt kaum eine Stunde, Herr Wenzel.«

»Aber was für eine Stunde. Ich kenne das jetzt!« rief Herr Wenzel zornig. »Nein, ich kann Ihnen in keiner Weise zu Diensten stehn.«

Und mit einer sprunghaften Bewegung war er entflohn.

Er war wirklich ärgerlich. Konnte diese Person sich nicht wenigstens frühmorgens still auf ihrem Zimmer verhalten!

Nach wenigen Schritten aber glättete sich seine Miene.

Auf dem weißen Landstreifen, der sich als Weg neben der Küste entlangzog, bewegte sich eine schlanke Mohnblume im Morgenwind. Sie kam näher und bald stand ein blondes Mädchen lächelnd vor Herrn Wenzel.

»Ich habe schon Muscheln gefunden«, sagte sie. »Ich warte nämlich wieder auf den Postboten. Ich bin so neugierig auf meine Briefe.«

»Nun, da warte ich mit«, sagte Herr Wenzel und vergaß im Augenblick vollständig, wie gesund und notwendig ein Morgenspaziergang war. Beide setzten sich auf eine Steinbank.

Herr Wenzel sah auf Mariannes Füße, die in weißen Schuhen steckten und ungeduldig auf den Sand pochten. Sie erschienen ihm lächerlich klein. Er dachte, wie drollig es wäre, wenn eine ganze Reihe solcher Schuhe auf dem Wandbrett seines Kleiderzimmers stünde. Wie Tauben auf der Stange würden sie aussehen.

»Da kommt Herr Stadtrat Sprechhammer«, sagte Marianne, die wartend Umschau hielt.

Im eiligen Schritt kam Herr Stadtrat die Strecke vom Hotel herunter.

»Da sind Sie ja noch«, sagte er atemlos. »Nun, kommen Sie, lieber Freund.«

»Ich wollte eigentlich –« Herr Sebastian Wenzel erhob sich unschlüssig und sah auf die Taubenfüße.

Aber Herr Sprechhammer zog ihn mit sich fort und grüßte Fräulein Marianne schnell und eilig.

»Langweilig sind solche kleinen Unschuldslämmer«, meinte er, den Kopf noch einmal zurückwendend. »Aber gestern nachmittag, mein lieber Freund. Ich war bei Ihr zum Tee. Den Masseur hatte sie mit dem Affen baden geschickt. Ich sage Ihnen, das war ein five-o'clock-Tee, wie er sein soll. Wie sind sonst die Tees der sogenannten guten Gesellschaft? Wie sind sie? Der Tee ist zu dünn, und die Frauen sind zu dick, sage ich Ihnen. Aber hier? Wahre Molligkeit habe ich genossen.«

»Das kann doch nur Molligkeit mit Gewissensbissen sein«, entgegnete Herr Sebastian Wenzel, der sehr steif und gerade ging. »Und Sie bringen sich damit um. Alt können Sie doch bei solchen heimlichen Aufregungen nicht werden.«

»Uralt, sage ich Ihnen, uralt«, antwortete Herr Sprechhammer schnell. »Das liegt bei uns in der Familie. Mein Urgroßvater würde heute noch leben, wenn er nicht als Neunzigjähriger die Treppe hinuntergestürzt wäre, als er aus dem Zimmer einer Dame fliehen mußte. – Aber wir können ja zurückgehn, wenn Sie wollen«, fügte er hinzu.

Dieser ängstliche Mensch verleidete ihm wirklich das ganze Erzählen.

»Ja, ich muß den Briefträger erwarten«, sagte Herr Wenzel.

Als sie zurückkamen, nahm Fräulein Marianne gerade einen Brief in Empfang, mit dem sie lachend davonsprang, wie ein Kind mit dem geraubten Zuckerstück.

Herr Sebastian Wenzel hatte auch einen Brief. Er war von der alten Exzellenz.

Der General schrieb, daß jetzt auch die deutsche Erde vor dem ewig blanken Spiegel Sonne stände und ihr neues Frühlingskleid probiere. Er hoffe, daß Herr Wenzel nun jenseits der Grenze sich endlich verliebt habe; denn Alter schütze bekanntlich nicht vor Torheit. Wenn dies der Fall sei, dann rate er ihm, sich die Hände der Betreffenden genau zu betrachten. Ihre Gesichter können sie jetzt machen, wie sie wollen, schrieb er. Aber an den Händen vermögen sie nichts zu ändern. Da verraten sie sich.

»Was sehen Sie nur immerfort auf meine Hände?« sagte Fräulein Marianne, als sie am Nachmittag mit Herrn Wenzel Boot fuhr. Und sie versteckte lächelnd die runden, kleinen Hände, die etwas sonnverbrannt waren, hinter sich auf dem Rücken.

»Du solltest Handschuhe tragen, mein Kind, ich sage es dir so oft«, rügte die Mutter.

Herr Wenzel dachte, daß selbst Exzellenz, der gewiegte Frauenkenner, an diesen Händen nichts auszusetzen haben würde.

Marianne lief auch heute wieder fort, um einen Brief zu schreiben.

Herr Sebastian Wenzel und Frau Wendland blieben allein auf dem Steg und merkten es nicht, daß ihre Gesichter vom Schein der untergehenden Sonne leuchteten.

Sie sprachen von Marianne.

Das junge Mädchen hatte Herrn Wenzel erzählt, daß sie zu Hause noch eine große Puppe im Schrank habe mit wirklichen Locken und mit Silberringen in den Wachsohren. Die wollte sie später einmal mit sich nehmen.

»Wohin?« hatte Herr Wenzel gefragt.

Und da hatte Marianne gelacht und war davongesprungen. Jetzt wollte Herr Wenzel von der Mutter Bescheid darüber haben.

»Gedenkt Ihr Fräulein Tochter Sie zu verlassen?« fragte er unruhig.

Frau Wendland zögerte mit der Antwort.

»Einmal wird dieser Tag schon kommen«, sagte sie dann nach einer Weile.

Herr Wenzel sah zu Frau Wendland hin, die ruhig auf das Wasser blickte, als hätte sie das Natürlichste von der Welt gesagt.

Wußte sie nicht, daß es eigentlich nur unglückliche Ehen gibt?

Wie leicht konnte sich solch ein harmloses und unerfahrenes Mädchen in einen Unwürdigen verlieben. Wird einer dieser herkömmlichen jungen Männer imstande sein, dieses kleine, übermütige Geschöpf wirklich zu beschützen? Wirklich darauf zu achten, daß es nicht in Zugluft kommt und sich erkältet, daß es, wenn es erhitzt ist, nicht kaltes Eis ißt und krank wird? Daß es Gummischuhe anzieht, wenn es bei Regenwetter ausgeht, ein Seidentuch um den feinen Hals legt, wenn der Wind bläst? Daß es nicht zu lange seebadet, nicht bis spät in die Nacht hinein tanzt oder Bücher liest, sondern rechtzeitig schlafen geht? Konnte das ein junger Mann, der selbst noch leichtsinnig und unerfahren dem Leben gegenübersteht?

Diese Fragen gingen Herrn Sebastian Wenzel nicht mehr aus dem Sinn.

Auch nachts konnte er keine Ruhe finden. Der Schlaf paßte nicht zu seinen Gedanken. Erst wenn das Meer die große unheimliche Schiefertafel wurde, auf der ein neuer Tag zu schreiben begann, sanken ihm die Augen zu. Sein Schlaf war unruhig.

Müde erwachte er. Mit schwerem Kopf und sausenden Ohren. Aber er vergaß, sich Sorge darüber zu machen. Er beunruhigte sich mehr über das zarte junge Mädchen, das wieder lachend einen Tag anfangen wird, ohne an die Zukunft zu denken, ohne zu ahnen, wie viele Gefahren im Leben lauerten.

Gegen Frau Wendland erfüllte ihn ehrlicher Zorn. Wie konnte sie nur lächelnd umhergehen, in einem Buch lesen, schwatzen oder bunte Fäden durch irgendeinen Lappen ziehn, wenn sie selber glaubte, daß ihre liebliche Tochter über kurz oder lang in eine dieser unglücklichen Ehen rennen würde. Wie war das möglich?

Mitten in ein Rezept für Leberwurst mit viereckigen Trüffelschnitten sagte er zu der lebhaften Frau Bürgermeister:

»Die Mutter einer jungen Tochter sollte nichts anderes denken und tun, als versuchen, ihr Kind vor Torheiten zu bewahren.«

»Das ist leichter gesagt als ausgeführt«, sagte die rundliche Frau mit dem lächelnden Behagen, mit dem sie alles besprach. »Meine Mutter sagte immer: Lieber eine Tüte voll Flöhen bewachen als ein junges Mädchen. Aber kommen wir auf unsere Leberwurst zurück. Morgen früh reise ich, und dann kann ich Ihnen keinen Rat mehr geben, lieber Freund.«

Herr Wenzel aber dachte, daß man in Thüringen mehr von Dauerwürsten als von jungen Mädchen zu verstehen schien. Er hörte gar nichts von der Erzählung der redeseligen Dame. Seinetwegen konnte sie ihre Würste aus jungen Mäusen machen. Das ging ihn jetzt gar nichts mehr an.

Er sah, daß dort drüben Mariannes Mutter immer noch der alten Frau von Pochhammer unnötiges Geschwätz in die Ohren schrie, statt sich nach ihrer Tochter umzusehn.

Herr Wenzel beschloß, sich möglichst viel des kleinen blonden Mädchens anzunehmen. Er ging mit ihm spazieren. Er beobachtete es von fern, wenn er nicht bei ihm war.

In ruhigern Augenblicken sagte er sich, daß uns Unruhe die Gefahren des Lebens größer erscheinen läßt, als sie sind. Es konnte wohl auch ein älterer erfahrener Mann einmal Mariannes Schicksal in behutsame Hände nehmen. Jemand, der auch gern am Fenster sitzt und die Leute beobachtet, aber doch darauf achten würde, daß das junge Ding im Winter nicht etwa zum offenen Fenster hinauslugt. Jemand, der ohnedies duftende Hyazinthen in den Doppelfenstern stehen hatte, auch schließlich in der Lage wäre, in den rauhesten Jahreszeiten Rosen zu kaufen.

Solche Gedanken kehrten häufig wieder, um sich mit neuen Bedenklichkeiten zu streiten. Sie beschäftigten ihn so stark, daß er alles andere nur zerstreut erfüllen konnte. Wenn er vom Tisch aufstand, wußte er nicht, was er gegessen hatte.

Heute entsann er sich erst viele Stunden später, daß es die früchtereiche Princesse Maleine gewesen war, die er verspeist hatte, als er sich den Kopf darüber zerbrach, was für ein Gefallen Fräulein Laubwurzel an ihm gefunden haben mochte. Daß er in nicht schlechten Lebensumständen war, mußte ihr unbekannt sein. Ihr Wohlgefallen galt also allein seiner Person.

Eigentlich war sie bedauernswert. Es mußte sehr unerfreulich sein, an jemand Gefallen zu finden, dem man nicht angenehm war.

Herr Wenzel war sehr nachsichtig gegen Fräulein Laubwurzel gestimmt, denn sie war abgereist. –

Fräulein Laubwurzel hatte sich gesagt, daß sie es gut gemeint habe mit Herrn Wenzel und seiner Einsamkeit, aber wem nicht zu helfen sei, konnte nicht geholfen werden. Gewalt wollte sie nicht anwenden. So hatte sie mitleidig ihren Koffer gepackt.

Ehe sie reiste, gab sie dem Zimmermädchen eine Postkarte, auf der ihre Adresse vermerkt war. Falls noch etwas Interessantes unter den Gästen geschah, sollte das Mädchen es ihr mitteilen. Marietta hatte die Karte nachlässig in ihre Schürzentasche gedrückt. Nachdem sie das schmale Abschiedslächeln für das nicht große Trinkgeld abgelegt hatte, zuckte sie die Schultern. So alt und lang war diese Person und konnte sich nicht selbst sagen, daß hier nichts mehr geschehen konnte. Nein, in dieser Saison wird kein Schuß fallen und kein Sarg des Nachts heimlich hinauf- und heruntergeschafft werden. Sie werden alle gehen, so wie sie gekommen sind. Und wenn die Zimmer hinter ihnen ausgefegt sein werden, wird man sie alle vergessen haben. Der alte Herr Wenzel wird noch eine Weile um Fräulein Marianne herumscharwenzeln und ihr dann eine Bonbonniere und der Mutter einen Blumenstrauß überreichen und abreisen. Und die Damen von Pochhammer werden auch nach Hause fahren. Und wenn die alte Mumie noch lebt, wird sie im Frühjahr wiederkommen, wie seit zehn Jahren. Und das Fräulein wird noch immer fünfundzwanzig Jahre alt sein. Der reiche Schlächtermeister wird ihr seine Photographie schenken und später noch einmal eine Ansichtskarte schicken. Aber sonst auch nichts. Marietta wußte Bescheid in seiner Kommode und seinen Briefschaften. Er war verheiratet und sollte bald wieder Papa werden. Er fand Fräulein Pochhammer gewiß noch zu jung, um ihr so etwas zu erzählen. Und Stadtrats? Eines morgens wird die gnädige Frau merken, daß der Herr Gemahl auf den geräuschlosen Pürschstiefeln nicht auf die Rebhuhnjagd, sondern nur einige Zimmer weiter strich, und dann werden sie denselben Abend abreisen. Ganz ohne jeden Knalleffekt wird dies ablaufen.

Dies und ähnliches äußerte Marietta, während der Rohrklopfer auf Fräulein Laubwurzels verlassenes Bett sauste und ihr Freund, der Hausdiener, das Türschloß salbte.

Marietta kannte die Menschen von außen und innen. Das menschliche Geschick war ihr kein unerforschliches Geheimnis.

Wenn Herr Wenzel so klar hätte sehen können wie dieses Mädchen.

Ihn quälten die schrecklichsten Gedanken.

In wenigen Tagen sollte ein großer Abschiedsball stattfinden. Dann werden, bis auf die Ballkleider, alle Koffer fertig gepackt dastehen, und einen Tag später wird die ganze Gesellschaft in alle Winde verstreut sein.

Durfte Herr Wenzel Marianne der kaltblütigen Mutter überlassen?

War es nicht ratsamer und beinahe Menschenpflicht, dem jungen Mädchen einen Fensterplatz in seiner Wohnung anzubieten? Aber was sollte dann mit der Mutter geschehen? Er hatte keinen Raum mehr für sie übrig. Auch würde sie sich in den Haushalt mischen, wie alle Frauen in diesen Jahren. Die kleine Marianne wird sich gewiß nicht um sein Tun kümmern, ihn alles bestimmen und anordnen lassen. Lachen wird sie zu allem, was auf den Tisch kommt. Man kocht und ißt auch wohl nicht übel bei ihm.

Über die Krebsschwanzpastete wird sich die kleine Naschkatze, die immer Schokolade knabbern muß, nicht wenig wundern.

Er sehnte sich ordentlich nach dieser Pastete, auch nach einem guten Wiener Schnitzel, das individuell und appetitlich zubereitet war.

Immer deutlicher und angenehmer stand ihm schon sein verlassenes Heim vor Augen.

Bis seine Blicke wieder auf einen goldleuchtenden Mädchenkopf fielen und Zweifel und Besorgnisse wieder da waren und er sich sagte: Daß ein Entschluß gewiß überdacht werden, aber schließlich auch gefaßt und ausgeführt werden müsse.


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