Alice Berend
Die Reise des Herrn Sebastian Wenzel
Alice Berend

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3

Wie die Ameise nichts weiter sieht als ihren Bau und den schmalen Weg, auf dem sie im geschäftigen Hin und Her die großen, schweren Winzigkeiten herbeischleppt, so hatte auch Sebastian Wenzel nichts anderes gekümmert als das, was ihn selbst anging. Alles, was nicht im engsten Zusammenhang mit ihm selbst stand, war ihm gleichgültig. Bei unsinnigen Wünschen hatte er sich nicht aufgehalten. Unmögliches war ihm lächerlich.

Die sanften, rosenduftenden Sommerabende freuten ihn, weil er die Lampe sparen durfte. Der verlorene Ton eines Liedes, den der Wind zu ihm trug, weckte kein schmerzliches Verlangen nach den Wundern Ägyptens, den Geheimnissen Indiens, den Seen Japans, sondern er sagte sich, daß man es gut haben könne, auch ohne teure Reisen.

Er hatte auch seine Sehnsucht. Aber sie schwebte nicht im blauen Dunst. Einfach und ehrlich, wie er selbst, schritt sie neben ihm. Nur an den Sonntagen – im Sommer in einem Vorstadtgärtchen, im Winter in der verräucherten Stube eines Bürgerbräus – konnte sie einmal über die Stränge schlagen. Dann wünschte er sich in das kleine eigene Heim, das er stets vor Augen hatte: einen Klubsessel aus Juchten und einen automatischen Staubreiniger.

Ihm graute vor den möblierten Zimmern, in denen er wohnen mußte. Wo der Staub von Generationen in den Ecken lag, wo die scharfen Lehnen der Stühle gerade da aufhörten, wo sie den Rücken stützen sollten, wo man nie wußte, wieviel verliebte Mädchen schon auf dem abgenutzten Sofa gesessen hatten. Ein eignes Bett hatte sich Sebastian von seinen ersten Ersparnissen gekauft.

Ein eignes Heim, das war seine Sehnsucht. Drei Zimmer und eine saubere, appetitliche Küche mußte er haben. Ohne Frau, lärmende Kinder und unreinliche Hunde. Schon wenn man die Tür aufschloß, sollte man den Geruch guter Bratensoßen spüren.

Die andre Hälfte seiner Sehnsucht war: Gut und in Ruhe essen zu können. Nicht mit der Uhr in der Hand die Mahlzeiten einzunehmen und statt des ausgekochten Suppenfleisches oder der Fleischklöße, von denen außer der Wirtin nur Gott wußte, woraus sie bestanden, köstliche, sorgfältig zubereitete, lecker aufgetragene Speisen vorgesetzt zu bekommen.

In jedem übrigen Augenblick modelte er an diesem Plan. Im Laufe der Jahre war die Wohnung schön mit Möbeln aus allen Holzarten der Tischlerkunst ausgestattet gewesen. Über dem blanken Herd in der Küche zog sich jahrelang eine Borte aus krähenden Hähnen, jetzt sollte sie aus Sonnenblumen sein. Dann und wann unterstützte Sebastian seine Sehnsucht durch den Besuch eines fertiggestellten Neubaus, wo er die leeren, hellen Zimmer mit den neuen Dielen und Fenstern andachtsvoll durchschritt.

Dieser Blick in die Ferne trug ihm so reichlich Freude, daß er keine kostspieligen Vergnügungen brauchte. Schmucklos gingen seine Tage durch den wundervollen Wandel der Jahreszeiten. Doch keiner war ohne Freude. An jedem fand sich die Möglichkeit zu einer kleinen Ersparnis, die er nicht vorausgesehen hatte. –

Von einer Minute zur andern stand Sebastian Wenzel vor dem Ziel seiner Wünsche.

Früher als er erfuhr es die schwarzgekleidete Verwandtenschar. In schweigenden Gruppen verließ sie das Zimmer des Notars, wie tags zuvor das Grab der Tante. Alle Mienen waren wirklich so, wie man sie von trauernden Hinterbliebenen verlangt.

Eine der Schwestern flüsterte zur andern: »Sebastian, der mit Pfennigbruchteilen rechnet. Und plötzlich – dieses Vermögen, er kann vor Schreck den Tod haben.«

Sie sah nicht sehr besorgt dabei aus.

»Immerhin ein schöner Tod«, antwortete ihr Gatte.

»Und kein gewöhnlicher«, fügte ihr Schwager hinzu. –

»Wenigstens kann ich mich unter meinen Bekannten keines ähnlichen Falls erinnern.«

Sebastian starb nicht und nahm keinerlei Schaden an seiner Gesundheit.

Eine Sehnsucht, die man stets mit sich führt, mit der man sich die Zähne putzt und die Nägel schneidet, wirft nicht so leicht zu Boden, wenn sie sich erfüllt, wie vielleicht die Verwirklichung eines Traumes, dem man bei Tage nicht in die Augen zu sehen wagt.

Auch war Sebastian geübt in zäher Willenskraft. Sie brauchte er allerdings, um sich an das Neue zu gewöhnen. Das war nicht so leicht, wie die vielen denken mögen, die ihre freien Stunden dazu benutzten, von Millionen und ihrer angenehmen Verwendung zu träumen.

Zuerst hatte Sebastian weit mehr das Empfinden, daß ihm etwas abhanden gekommen sei. Wenn er auf dem Weg zu den langen Besprechungen mit dem Notar die Uhr hervorzog und lächelnd feststellte, daß es Zeit genug sei, um zu Fuß zu gehen und damit zehn Pfennig zu sparen, erinnerte er sich enttäuscht, daß dies nicht mehr dringend nötig sei. So ging es ihm häufig im Laufe des Tages.

Langsam lernte er die Freude am Ärger.

Es begann beim Notar, dem ersten Menschen, mit dem er stets in heftigen Wortwechsel geriet. Mit seinen Verwandten war er sanft und allmählich auseinander gekommen. Seinen Zimmerwirtinnen war er der friedlichste Mieter. Er hatte sich immer gesagt: Bescheidenheit verbilligt. Mit seinen Kollegen wechselte er nur wenige höfliche Worte.

Aber dieser Notar! Sebastian war noch nicht zehn Minuten mit ihm zusammen, so stieg ihm der Zorn blutrot zu Kopf. Und doch war noch niemand so untertänig, hochachtungsvoll Sebastian Wenzel begegnet wie dieser Mann. Aber gerade das machte Sebastian mißtrauisch. In der Wenzelschen Familie galt von jeher der Spruch: Große Liebenswürdigkeit will etwas. Und man selbst hatte sich bescheiden vor jedem Überfluß dieser Eigenschaft gehütet.

Der Hauptgrund des Zwistes war, daß Sebastian das Geld der Tante als preußische Staatsanleihe anlegen wollte, dem einzigen Papier, zu dem er Zutrauen hatte.

Der Rechtsvertreter rang die Hände.

»Aber verehrter Herr, Sie bringen sich um dreißigtausend Mark im Jahr. Das ist eine Verschwendung, die man nicht mit ansehen kann!« schrie er. »Sie sind ein heilloser Verschwender.«

Sebastian Wenzel fuhr zusammen. Verschwender hatte ihn noch niemand gescholten. Er wurde unruhig. Und immer wieder verließ er grübelnd das Zimmer, ohne zu einem Schluß gekommen zu sein. Dabei war er sich klar, daß ihm jeder Besuch teuer berechnet wurde.

Zum erstenmal bedauerte Sebastian, niemand zu haben, mit dem er sich aussprechen konnte. Er überlegte. Im Büro war ein Kollege, dem wohl zu trauen gewesen wäre. Er hatte viele Kinder und Sorgen und kannte das Leben. Nach reiflichem Bedenken wartete Sebastian Wenzel eines Abends auf diesen Mann vor dem Tor, durch das er selbst Jahre hindurch ein- und ausgeschritten war.

Müde kam der Erwartete die ausgetretenen Stufen herunter. Auf seinem schlaffen Gesicht, das ein grauschwarzer Bart bewucherte, zuckte das trostlose Hinundherrechnen des bedrängten Familienvaters.

Sebastian Wenzel sprang auf ihn zu und bat ihn um einige Augenblicke Gehör. Der andere folgte ihm in der stillen Freundlichkeit des Übermüdeten. Es war ihm zu viel Anstrengung, diese Bitte abzuschlagen.

Sie gingen in Sebastian Wenzels enges Mansardenzimmer, dessen verschlissene Vorhänge zu beben begannen, als die Männer sich über die Papiere beugten und fünf- und sechsstellige Zahlen durch den Raum flogen. Der müde Familienvater rechnete. Er kam zu dem gleichen Schluß wie der Rechtsanwalt.

»Sie haben allerdings bedeutend weniger, sind aber dafür sicher wie der liebe Gott«, sagte er. »Denn ich glaube, eher fällt der Himmel ein als der preußische Staat.«

Das war als treuer Beamter zu einem treuen Beamten gesprochen. Und wirkte. Sebastian Wenzel wurde es klar, daß er fest bei seinem Willen beharren mußte.

Er stand auf und sagte: »Ich danke Ihnen.« Der andere blieb sitzen, obwohl er unruhig zu sein schien.

Dann sagte er leise:

»Werter Kollege, wenn Sie – mir hundert Mark leihen könnten!«

Auch das war Sebastian Wenzel noch nicht geschehen. Wer ihn kannte, wußte, daß ihm schon der Pfennig heilig war. Aber die Hunderttausende lagen noch in der Luft.

Sebastian sah in die matten, unruhigen Augen des Wartenden, und ohne daß es ihm bewußt geworden war, hatte er dem andern einen blauen Schein gegeben ...

Sein ganzes Leben lang wunderte er sich darüber. Am stärksten am folgenden Morgen. Er fühlte sich beunruhigt. War mit dem Geld auch schon der Leichtsinn der Reichen über ihn gekommen?

Er legte den langen Weg zum Notar wieder zu Fuß zurück. Sein Gefühl sagte ihm, daß er etwas einzusparen habe.

Aber bei dem Notar blieb er standhaft bei seinem Willen.

»Sie sind der größte Verschwender, der mir je begegnet ist«, sagte dieser zum Abschied.

»Niemand kann aus seiner Haut«, erwiderte Sebastian kühl.


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