Alice Berend
Die Reise des Herrn Sebastian Wenzel
Alice Berend

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10

»Was nützt das Reden«, sagte Herr Wenzel traurig zur Exzellenz. »Alle diese Aufregungen werden mich unter die Erde bringen. Mein Appetit ist schon wieder verschwunden.«

»Nur Mut, mein Lieber«, erwiderte der General. »Ich an Ihrer Stelle würde heiraten. Ein hübsches junges Mädchen. Das wird Ihre lieben Verwandten fernhalten. Schließlich gehört für Sie nicht mehr dazu als ein bißchen Mut.«

»Mut!« rief Sebastian verächtlich. »Wenn es darauf ankäme. Aber Sie kennen die Frauen nicht.«

»Nein, ich kenne sie nicht. Ich liebe sie nur. Man sagt, beides ließe sich nicht vereinen. Aber Sie, Herr Wenzel, kennen sie auch nicht. Schwestern und Cousinen sind keine Frauen.«

»Und Amalie Zwink?« höhnte Sebastian.

»War einmal eine«, erwiderte der andere.

Sebastian lachte ein rostiges Lachen.

»Sie stimmen mich immer wieder heiter«, sagte er dankbar. »Lachen soll doch außerordentlich gesund sein, las ich neulich.«

»Sicherlich«, sagte der General. »Aber heute hab ich noch etwas Besseres für Sie.«

Er stand auf und humpelte zum Bücherbrett, holte ein Buch, kam zurückgeschlurft und reichte es Sebastian.

Dieser sah erstaunt auf das Titelblatt. »Die Kunst, jung und gesund zu bleiben«, las er halblaut.

»Etwas verspätete Lektüre für einen Fünfundsiebzigjährigen, wie? Aber Sie können noch großen Nutzen daraus ziehn.«

»Ich sah das Buch überall angezeigt«, meinte Sebastian bedauernd. »Ich glaubte, es sei Schwindel, sonst ...« Er blätterte verträumt und sehnsüchtig in dem viele hundert Seiten starken Band.

»Nicht mehr Schwindel, als schließlich alles auf dieser närrischen Kugel, die sich beständig dreht und ändert. Der es geschrieben hat, ist ein weltbekannter Arzt.«

»Ein weltbekannter Arzt. Und was rät er?« fragte Sebastian gespannt.

»Die Ehe, mein Freund. Die Ehe und den Vegetarismus.«

»Und das soll kein Schwindler sein?« rief Sebastian empört.

Der General zuckte die Schultern.

»Er begründet es sehr überzeugend.«

»Nun, mich wird ein solcher Narr nicht überzeugen«, erwiderte Herr Wenzel heftig. »Gemüse kauen soll das Leben verlängern? Lächerlich. Nichts ist stärkender als ein saftiges Beefsteak. Und was soll aus den ganzen Rinderherden werden? Und aus dem zahlreichen Geflügel? Und all das Wildbret? Soll es verwesen.?«

Mit jedem Wort erregte sich Herr Wenzel mehr. Zum zweitenmal kam er heute in Schweiß. Im Januar. Es war, als habe sich die ganze Welt gegen ihn verschworen.

»Wenn ich geahnt hätte, daß Sie sich so aufregen, lieber Freund«, unterbrach ihn der alte General vorsichtig. »Übrigens haben Sie den ersten Punkt ganz übersprungen. Die Ehe –«

»Das ist so närrisch, daß es gar nicht der Erwähnung wert ist.«

Herr Wenzel sah den Freund erbittert an, als ob dieser selbst das Buch geschrieben hätte. –

Aber schließlich, als er heimging, hatte er das dicke Buch unter dem Arm. Er konnte doch dem Freund zuliebe ein wenig darin blättern.

Schon mancher nahm ein Buch mit unter sein Dach, ohne zu wissen, was er damit tat.

Sebastian las und las. Erst um Mitternacht löschte er das Licht aus. Und das nur, weil er sich ernsthaft klarmachte, daß er selbst den Zweck des Buches aufhebe, wenn er sich des stärkenden Schlafs beraube.

Schon am frühen Morgen saß er wieder vor dem Buch.

Alles, was es über Mäßigung, die höchstmögliche Vermeidung alles Unangenehmen und ähnliche Dinge enthielt, war ihm aus der Seele geschrieben. Daß die Rücksicht auf andere gut war, aber auf sich selbst noch besser, daß jeder stündlich an sich und seine Gesundheit denken sollte, war ihm von jeher klar gewesen. Hier hatte er stets sein Bestes getan und sich seinen Anteilschein auf langes Leben vielleicht gesichert.

Aber was das Buch über die Schäden der Fleischernährung sagte – besonders bei Leuten, die mehr als fünfzig Jahre alt waren –, mußte ihm wirklich den Appetit verderben.

Herr Wenzel versuchte höhnisch und überlegen zu lächeln, als er das Buch beiseite legte, ehe er zu Tisch ging, um ein saftiges, scharfes, auf englische Weise blutendes Roastbeef zu verzehren. Allein der köstliche Duft des Bratens stärkte. Und das sollte Gift sein? Sollte zu frühem Tode führen?

Während er das Fleisch bedächtig in kleine Würfel schnitt, dachte und grübelte er über das Gelesene nach. Obgleich er wußte, daß man beim Essen möglichst untätig sein mußte, wenn es bekömmlich sein sollte.

Er wurde sich klar, daß auch alle leckern Rauchwaren, Schinken und die reiche Auswahl an Würsten in das Reich dieses Fleischverbots gehörten. Auch Hasen, Leberpastete, Kalbsmilch.

Er grübelte und sann hin und her, so daß er in Gedanken, ohne es zu merken, mehr Fleisch aß als je zuvor.

Herr Sebastian war kein gewandter Leihbibliothekleser, der die Seiten, die ihm nicht passen, zu überschlagen versteht und damit die Gabe hat, das dickste Buch in kürzester Zeit auszulesen. Herr Wenzel las ordentlich und ernst, Seite für Seite. Auch das Kapitel über die Ehe.

»Ich wundre mich nur, daß es Witwer gibt«, sagte er höhnisch zur Exzellenz, als er ihm sein Eigentum zurückgab. »Wenn die Ehe doch so unerhört gesund ist?«

»Sie sind zu frauenfeindlich, mein Freund«, antwortete der General. »Übrigens bin ich kein Verteidiger der Ehe. Eine Sache ist doch noch nicht schön, weil sie gesund ist.«

»Sie bleiben also wirklich dabei, daß ...«

»Daß die Ehe gesund ist? Allerdings.«

Exzellenz lehnte sich behaglich in seinen Stuhl zurück und sprach weiter:

»Liebe zehrt. Da muß man dauernd auf Wache stehn, um alle seine Mängelchen und Fehler zu verstecken. Der Liebende muß immer schön sein. Das verlangen Liebe und Geliebte. Eheleute gehen im Schlafrock und reden sich einander nichts mehr vor. Das gibt Zufriedenheit und Behagen; Zufriedenheit und Behagen erhalten das Leben.«

»Sprechen Sie im Ernst?« fragte Herr Wenzel unruhig.

»So ernst, wie es diese Situation erfordert«, war die Antwort.

»Und das Alleinsein? Schützt das nicht am besten vor Ärger, Aufregung und unnützen Anstrengungen?« rief Herr Sebastian Wenzel gereizt.

»Sie sehen, wohin es führt. Das geht so fünfzig, sechzig Jahre, und dann ist es aus. Man verliert den Appetit, wird unlustig, verärgert, verbittert und ist schließlich ein Mann des Todes.«

Sebastian schwieg. Erregung und Überlegenheit, Hohn und Furcht balgten sich in ihm.

Er war überzeugt davon, daß er recht hatte. Er änderte nichts an seinem Speisezettel und daß seine Anschauung von dem andern Geschlecht noch dieselbe sei, bekräftigte er, indem er selbst Amalie Zwink aus dem Wege ging.

Aber Überzeugung allein macht nicht glücklich. Man kann Behauptungen heftig bestreiten und braucht sie deshalb nicht zu vergessen. Man irrt, wenn man glaubt, daß man nur denken kann, was man will.

Sebastian quälten schwere Träume. Eine Armee von Maurern goß ihm aus Rieseneimern Kalk in die Adern, und ein Heer von Mädchen und Frauen umdrängten ihn, um geheiratet zu werden. Aber der Tod selbst kam auf einem großen Roastbeef auf ihn zugeritten, sprang auf seine Brust und zückte einen großen Bratenspieß nach seinem Herzen.

Wieder kam die Furcht vor der Nacht. Er lag wach und horchte in die Stille. Er lernte die Schritte nächtlicher Fußgänger unterscheiden. Den zufriedenen Gang des Pfeifenden, der von der Liebsten kam. Das taumelnde Schlurfen des Trunkenen. Das angstvolle Laufen eines, der nach dem Arzt rannte.

Auf schlaflose Nächte folgten keine appetitreichen Tage. Der Duft des Bratens wurde ihm widerlich.

So kam Herr Wenzel zu keiner rechten Ruhe mehr, er fühlte seine Kräfte abnehmen und ließ den Arzt kommen, der ihn von dem Apfelsinenkern befreit hatte.

»Sie sind nervös«, sagte dieser. »Appetitlosigkeit und Unlust sind die typischen Zeichen der Nervosität. Ihr Leben ist zu einförmig. Versuchen Sie es sozusagen auf den Kopf zu stellen. Gehn Sie zum Beispiel gerade zu der Zeit spazieren, zu der Sie sonst gewohnt sind zu essen. Sie werden sehn, wie hungrig Sie nach Haus kommen.«

So mußte Herr Sebastian Wenzel mittags und abends, wenn die andern heimkehrten, um sich das Essen für den Hunger zu holen, durch die Straßen marschieren, um sich Hunger für sein Essen zu verschaffen.

Das war kein Vergnügen.

»Ja«, sagte Exzellenz. »Seiner Gesundheit zu leben ist eine langweilige Krankheit. Sie sollten verreisen und sich zerstreuen. Sie grübeln zuviel.«

»Glauben Sie, daß es in der ganzen Welt eine glückliche Ehe gibt?« fragte Sebastian, tief aus seinen Gedanken heraus, statt zu antworten.

Der General legte sich Patiencekarten. Er hatte daher nicht Zeit, sofort zu antworten. Endlich sagte er, die Augen auf den Karten: »Gute Ehen? Ich glaube, das ist wie mit den Gespenstern. Alle erzählen davon, aber schließlich hat sie noch niemand in der Nähe gesehen.«

Er beschäftigte sich mit seinen Karten, dann sagte er wieder:

»Lieber Freund, quälen Sie sich nicht mit überflüssigen Gedanken, sondern reisen Sie. Fragen Sie Ihren Arzt, der wird Ihnen dasselbe sagen.«

»Der Mann hat vor dreißig Jahren studiert, er soll jetzt wissen, was mir heute fehlt, das ist doch zuviel verlangt!« rief Sebastian.

»Dann gehen Sie zu einem Studenten«, sagte Exzellenz. Er war ganz von seinen Karten in Anspruch genommen.

»Ich glaube, mit der Freundschaft ist es ebenso wie mit der glücklichen Ehe und den Gespenstern«, erklärte Herr Wenzel beleidigt und ging nach Haus.


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