Alice Berend
Die Reise des Herrn Sebastian Wenzel
Alice Berend

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13

Dieser Ausgang und die verschiedenen Eindrücke hatten eine angenehme Müdigkeit hervorgerufen.

Herr Wenzel fühlte sich ungemein wohl, als er wieder im Hausrock und in Hausschuhen am Fenster saß.

Gegen Abend begann ein Regen prasselnd gegen die Scheiben zu schlagen. Selbst als die Vorhänge zugezogen waren und die Lampe angezündet war, hörte man das schwere Fallen der Tropfen.

Der neue Koffer stand im Schlafzimmer, gegenüber von Sebastians breitem Bett.

Herr Sebastian Wenzel lag unter der warmen Decke, die Zehenspitzen wohlig an einer Wärmeflasche.

Draußen rauschte der Regen nieder. Herr Wenzel blinzelte nach dem Koffer. Wenn er nun auf Reisen wäre? Bei solchem Wetter durch die Straßen einer fremden Stadt fahren müßte!

Er löschte das Licht aus. Ganz und voll genoß er das Behagen, bei Regenwetter geborgen im Bett zu liegen und auf die fallenden Tropfen, das Gurgeln der Dachrinne zu horchen. Lächelnd schlief er ein, um endlich wieder einmal die traumlose Ruhe des Zufriedenen zu finden.

Wer kann mehr von einer Erholungsreise verlangen, als daß sie schon ungeplant so erquickend und stärkend wirkt.

Sebastian schlief noch, als seine Wirtschafterin ihn bereits um die ganze Welt reisen ließ. Was sollte sie anders tun, wenn sie dem hohen Ansehen, das ihr Herr in der Straße genoß, nichts nachgeben wollte. Man hatte den großen, schönen Koffer gesehen, und in jedem Laden bestürmte man sie bei ihren Morgeneinkäufen mit Fragen. Wohin und wann der reiche Herr verreise. Sie wußte nichts, aber man kann nicht verlangen, daß sie das zugab. Unwissenheit wird jeder zu verbergen suchen. Sie antwortete daher auf die Frage: Wohin? kurz und entschlossen: Um die Welt. Sie hatte neulich im Lichtbildtheater »Die Reise um die Welt in achtzig Tagen« gesehen und an diese hielt sie sich. Durch sie konnte sie auch wissen, wie lange ihr Herr fortbleiben werde: So ungefähr achtzig Tage. Der Tag der Abreise war schwer zu bestimmen. Sie sagte ausweichend: Nun, nicht gleich heute oder morgen. Für eine solche Reise muß man sich vorbereiten.

Ihr schwebten bei diesen Worten die beiden Gänsebrüste, die noch in der Speisekammer hingen, vor Augen. Sie dachte: Ehe diese nicht gegessen sind, reist er keineswegs.

Sie war ein einfacher Mensch und wußte nicht, daß das einzige Beständige in der Welt die Veränderung ist und daß Herrn Wenzel längst alles Fleisch zuwider war.

Als Sebastian angenehm ausgeruht erwachte, fielen seine Augen sofort auf den Koffer. Da stand er wartend im Morgenlicht. Groß und gelb wie ein Löwe.

Auf nüchternen Magen soll man keine Entschlüsse fassen. Sebastian sagte das sich und dem Koffer, von dem etwas Lauerndes ausging.

Im Frühstückszimmer waren die Fenster vorsichtig geschlossen, aber es war etwas von der herben Morgenkühle, die einer Regennacht folgt, zurückgeblieben.

Sebastian strich seine Brötchen wieder einmal mit der ruhevollen Behaglichkeit des Ausgeschlafenen. Die Feuchtigkeit der Luft erinnerte ihn an das blaue und rote Meer vor den Scheiben des Reisebüros. Vielleicht sollte er sich wirklich hinauswagen in die bunte Welt. Wenn er damit Kräfte und Gesundheit stärken konnte. Schließlich mußte wohl etwas dahinterstecken, daß alles auf Reisen ging, was reisen konnte.

Immerhin brauchte man sich nicht damit zu übereilen. Vorgetan und nachgedacht ...

Unter solchen Gedanken rüstete er sich zum Morgenspaziergang und schritt zum Haus hinaus. Was auf seinem Weg alles in ihm vorging, kann niemand wissen. Aber als er wieder zurückkam, betrat er Heinrich Siebenlists Laden und forderte ein Fernglas. Heinrich Siebenlist wäre der Wunsch nach einer Uhr lieber gewesen, weil sich an den Einkauf einer Uhr immer Konsequenzen, oft unabsehbare, knüpfen. Aber er lächelte doch, öffnete einen Glasschrank und legte eine große Anzahl gelber und schwarzer Futterale auf den Ladentisch.

Wieder zog Herr Wenzel den Duft guten Leders ein, für den er nicht unempfindlich war.

Heinrich Siebenlist schälte die Gläser rasch aus ihren Hüllen.

»Soll es ein gutes Opernglas sein oder ein vorzüglicher Feldstecher?« fragte er.

»Nein, kein Opernglas. Ein Glas – um möglicherweise einen Sonnenuntergang scharf beobachten zu können.«

»Ja, so, dann weiß ich sofort, was der Herr braucht. Hier ist das allein Richtige.« Er riß aus einem Futteral, von dem sich ein meterlanger Riemen ins Weltall schlängelte, ein hohes schwarzes Glas heraus. Es glich zwei aneinandergewachsenen Zylinderhüten mit gläsernen Deckeln. Etwas Feierliches ging von diesem hohen schwarzen Gegenstand aus.

»Ein vorzügliches Glas. Schärfer als scharf. Sie sehen damit die untergegangene Sonne dreiviertel Stunde länger als mit unbewaffnetem Auge. Mein Ehrenwort.« Unaufhörlich pries Siebenlist dieses Glas. Ganz unnötigerweise, denn es hatte Herrn Wenzel sofort gefallen. Er kaufte es.

»Glückliche Reise«, dienerte Siebenlist, als er die Ladentür öffnete.

»Glückliche Reise«, sagte der nachbarliche Barbier, der in diesem Augenblick aus dem Laden trat, um dem schnellen Frühlingswind einige Haarflöckchen mitzugeben.

Herr Sebastian Wenzel war ganz bestürzt. Hatte er jemandem gesagt, daß er reisen werde? Wollte er denn reisen? Kopfschüttelnd kam er nach Haus.

Er klingelte nach seiner Wirtschafterin.

»Haben Sie in der Straße das Gerücht verbreitet, daß ich verreisen will?« fragte er streng.

Die Wirtschafterin legte eine breite Hand auf die flache Brust und sagte beteuernd: »Davor hüte mich Gott. Als ich davon hörte, sagte ich: ›Das ist Klatsch.‹ Solange ich bei meinem Herrn bin, ist so etwas nicht bei ihm vorgekommen. Ich glaube es nicht. Und ich weiß am besten Bescheid.«

»Schon gut.« Herr Wenzel winkte ab, und der Hausgeist verschwand.

Sie weiß am besten Bescheid, wiederholte sich Herr Wenzel verärgert. Vielleicht irrt sich diese hochweise Person doch einmal.

So knüpften Zufall, Nachbarn, Widerspruch, die bewährten Handlanger des Schicksals, Schlinge auf Schlinge.

Noch etwas andres kam dazu. Alles im Leben hat seinen Geruch. Für Herrn Wenzel war es von großem Einfluß, daß Reisen mit Lederduft verbunden zu sein schien.

Der Sattler an der Ecke, dem das Abladen, des gutgearbeiteten Koffers nicht entgangen war, erlaubte sich einige Reisenecessaires und Reisebrieftaschen zur gefälligen Ansicht zu senden. Sie erfüllten die Zimmer mit scharfem Geruch von Juchten und Saffianleder. Draußen regnete es wieder, und so vertrieb sich Sebastian die Zeit damit, ein wenig in den hübschen Sachen zu kramen und sich alles genau anzusehn. Einiges gefiel ihm recht gut, und er kaufte es sich. Es konnte nicht schaden, dergleichen im Haus zu haben.

Gegen Abend, als der Regen versiegt war, machte sich Herr Wenzel noch auf einen kleinen Weg, um sich in der Apotheke etwas Baldriantee zu kaufen, für eine möglicherweise schlaflose Nacht. Auch hier wurde ihm glückliche Reise gewünscht. Zugleich machte ihn der Inhaber auf seine reizenden kleinen Reiseapotheken aufmerksam. Herr Wenzel nahm eine zur Hand. Kleine, niedliche Flaschen schmiegten sich an dunkelgrünes Leder. Kleine Lederlappen verdeckten Wundpflaster und andere nützliche Mittel. Die Notwendigkeit eines solchen Besitzes leuchtete Herrn Sebastian Wenzel ein. Auf jedem Spaziergang konnte diese kleine lederne Apotheke von ungeahntem Nutzen sein.

So war der ganze Tag mit unbeabsichtigten Einkäufen hingegangen. Durch das lange Auswählen in der Apotheke war Herr Wenzel bedeutend später als sonst heimgekehrt und zur Ruhe gekommen. Er brauchte keinen Baldrian und schlief sofort fest und lächelnd ein. In seinem behaglich durchwärmten Zimmer duftete es wie in einem reichhaltigen Sattlerladen.

Die verordnete Reise bekam ihm einstweilen vorzüglich. –

Am andern Morgen regnete es wieder.

Herr Sebastian Wenzel war einerseits zufrieden, daß sein Spaziergang ausfallen mußte. Er entging damit den vielen Gute-Reise-Wünschen, auf die er nichts erwidern wollte. Andererseits hatte er so viel von schweren Rückfällen bei Grippe gehört, daß ihn dieser häufige Wechsel der Witterung beunruhigen mußte. Schließlich hatte ihm der Arzt, der zwanzig Patienten am Tage besuchte, wohl nicht ohne Grund die Reise verordnet.

Es klingelte draußen, und der alte General kam herein. Noch sorgfältiger gekleidet als sonst und mit heiterstem Gesichtsausdruck.

»Lieber Freund!« rief er. »Alle Welt spricht von Ihrer Reise, und ich weiß nichts davon. Wenn Sie sich nicht beeilen, komme ich Ihnen zuvor.« – Er lachte froh auf.

»Sie reisen?« Sebastian sah ihn mit großem Interesse an, wie wenn er eine äußerliche Veränderung wahrzunehmen suchte.

»Ja, denken Sie, mein Neffe, der unser Familiengut jetzt hat, war hier und bedrängte mich ehrlich und herzlich, den kurzen Rest meines Lebens dort zu verbringen, wo ich geboren bin. Der gute Junge! Ich lasse mir das nicht zweimal sagen. Ich reise morgen.«

Sebastian fühlte bei diesen Worten aufrichtige Mitfreude.

Das ist sehr menschlich, es würde niemand anders gehn. Man wird wieder an das Gute in der Welt erinnert, von dem vielleicht auch für einen selbst etwas abfallen kann.

»Und Sie? Wohin reisen Sie?« fragte Exzellenz.

»Eigentlich war ich noch gar nicht entschlossen.« – Herr Sebastian Wenzel zog ein Notizbuch hervor; er zeigte Exzellenz die Worte, die er unter den Füßen der zu dem Sonnenuntergang lächelnden jungen Dame gefunden hatte.

»Ah, das ist an der italienischen Riviera. Das ist recht von Ihnen. Da werden Sie es herrlich haben, lieber Freund.«

»Aber – man ist so vielen fremden Menschen ausgesetzt«, seufzte Sebastian. »Keine Riviera der Welt wird mich dazu bringen, mit Frauen schönzutun. Ich kann mich auch nicht in längere Unterhaltungen mit ihnen einlassen, und das wird doch überall verlangt.«

»Seien Sie unbesorgt, Herr Wenzel.« – Exzellenz lachte das Lachen seiner Reisefreude. »Tun Sie immer nur, was Ihnen paßt. Schweigsamkeit wird respektiert. Glauben Sie es mir.«

Exzellenz sah lächelnd auf die Straße hinaus, wo der dünne Strichregen auf glänzende, sich fortbewegende Regenschirme niederschoß.

Auf dem Land ist es auch bei Regen schön. Da duftet die feuchte Erde, dachte er bei sich.

Herr Sebastian Wenzel hob den Kopf.

»Liegt eigentlich nicht ein Widerspruch darin, wenn ich reise«, sagte er aus seinem Grübeln heraus. »Um einer Gefahr zu entgehen, stürze ich mich in tausend andere? Um meine Gesundheit zu stärken, das heißt mein Leben zu verlängern, wenn möglich, setzte ich mich jedem Eisenbahnzusammenstoß aus. Mein Magen muß wieder die Kost annehmen, die ihm vollständig Fremde zubereitet haben. Von der niemand wissen kann, was sie enthält, die ich auf gut Glauben hinnehmen und verzehren muß, obwohl ich die Gewinnsucht und den Egoismus der Menschen kenne.«

Er sah fragend in das freundliche Faltengesicht ihm gegenüber.

»Man muß sich Glück zutrauen«, erwiderte Exzellenz. »Wer Pech haben soll, bricht sich die Nase, wenn er auf den Rücken fällt. Und wer Glück hat, stürzt aus einer Höhe von tausend Metern herunter, ohne auch nur die Feder seiner Taschenuhr zu verletzen.«

»Ja, sehen Sie – bei mir ist noch etwas Besonderes. Ich fühle die bösen Blicke von vielen hinter mir. Man wird wünschen, daß mir etwas zustößt – aus Erbgelüsten.«

Exzellenz lachte wieder vergnügt auf. Herr Wenzel sah ihn betroffen an. Hier lag doch wirklich kein Grund zum Lachen vor.

»Entschuldigen Sie mich. Die Freude macht mich närrisch. An Ihrer Stelle setzte ich mich hin und schriebe an die gesamte Familie ein Schreiben, in dem ich ihr mitteilte, daß ich auf Reisen ginge und vorher aus Ordnungssinn mein Vermögen einem guten Zweck verschrieben hätte. Damit sind Sie alles los: Ihre Gedanken und die Gedanken der anderen.«

»Das ist vorzüglich!« rief Sebastian erfreut und erregt. »Das werde ich tun. Ich werde Sie sehr vermissen, Exzellenz«, fügte er dann nachdenklich hinzu.

Der alte General erhob sich und humpelte zum Tisch, wo er seinen neugebügelten Zylinder abgestellt hatte.

»Ja, morgen reise ich, mein Lieber. In meinem Alter hat man nicht viel Zeit zu verlieren«, sagte er.

»Ich möchte Sie zur Bahn begleiten«, meinte Herr Wenzel. »Es wird gut für mich sein, da ich doch auch reisen soll, wenn ich kurz vorher das ganze Getriebe einer Abreise einmal mitmache.«

Exzellenz nahm lächelnd Herrn Sebastian Wenzels Freundlichkeit an. Sie verabredeten sich auf morgen.


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