Alice Berend
Die Reise des Herrn Sebastian Wenzel
Alice Berend

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27

Nun war der Ballabend da.

Marianne saß vor dem Spiegel und naschte aus einer großen Schokoladenschachtel, während ihr die Mutter die goldgelben Haare ordnete. Als sie im weißen Kleid bereitstand, um hinunterzugehen, steckte sie noch rasch einige der schönen Rosen in den Gürtel, die der alte Herr Sebastian Wenzel der Mutter zum Abschied gesandt hatte.

Im Saal klangen die Geigen. Auf der Terrasse wiegten sich viele bunte Lampions, die ihren Flackerschein auf das ruhige Wasser warfen. Marianne dachte an den Tag, wenn sie im Brautkleid in einen Festsaal treten würde, und überschritt mit sanftem, lieblichem Lächeln die Schwelle des weißen Spiegelsaals.

Da war Herr Wenzel schon viele Stunden Eisenbahn gefahren.

Er dachte nicht zurück. Er hatte nur einen Wunsch. Den gleichen Wunsch, der ihn auch auf der Herreise gequält hatte: Im Bett zu liegen. Ausgestreckt in seinem guten feststehenden Bett. Er sah ein, wie falsch die Behauptung ist, daß bei allen Dingen der Anfang das schwerste sei. Schon das Eisenbahnfahren fällt schwerer und schwerer, je länger man dabei ist.

Er saß nun schon eine Nacht und einen Tag zwischen hartnäckig rollenden Rädern. Alle Knochen schmerzten ihn. Er war überzeugt davon, daß man sich nach fünfhundert russischen Knutenhieben nicht zerschlagener fühlen konnte. Aber er wußte, daß man nicht davon starb. Er hatte die Fahrt einmal überstanden, es wird ihm ein zweitesmal gelingen. Aber dann sollten ihn alle Ärzte auf der Welt zusammen nicht mehr auf die Reise jagen können.

Die Nacht brach an. Der Zug rollte durch finsteres Land, denn die Lichter hinter den Fenstern der Häuser waren verlöscht. Nur dann und wann huschte ein gelber Schein im Dunkel auf.

Vielleicht tanzte man dort oder wachte bei einem Kranken. –

Wir wissen viel. Manchmal sogar, was uns bevorsteht. Aber die Dinge sehen anders aus, wenn sie da sind.

Herr Sebastian Wenzel wußte, daß er diese ganze Nacht noch rollen mußte. Ohne Unterlaß. Trotzdem ahnte er nicht, was ihn damit erwartete.

Er war allein im Kupee, und alles schien gutgehen zu wollen. Aber vor Mitternacht öffnete sich die Tür, und ein Herr und eine Dame nahmen die andere Hälfte des Abteils in Beschlag. Die Dame setzte den großen Hut ab, schlang einen Schleier um die dunklen Haare und lehnte sich mit geschlossenen Augen in eine Ecke. Der Herr hatte eine Rolle aus Tüchern im Arm, mit der er steif sitzen blieb.

Herr Wenzel beobachtete ihn streng. Wollte er die ganze Nacht mit dem Bündel über den Knien sitzen bleiben? Das hatte er doch nicht nötig.

Herr Wenzel zwinkerte ihm zu und zeigte dann mit dem Kopf nach oben. Er wollte den Mann auf die Gepäcknetze aufmerksam machen. Aber dieser rührte sich nicht. Er schien mit offenen Augen zu schlafen.

Plötzlich begannen sich die Tücher zu bäumen und zu dehnen. Und gleich darauf erscholl ein fürchterliches Gebrüll daraus hervor.

Herr Sebastian sah erschreckt auf seine Mitreisenden. Die Dame hatte die Augen aufgeschlagen, auch der Mann schien wieder bei Bewußtsein zu sein. Sie lächelten. Lächelten und sagten: »Sie ist aufgewacht.« Das Gebrüll aber nahm furchtbar zu.

Herr Wenzel wollte gerade um Aufklärung bitten, als der Mann das Bündel auseinandernahm und ein gräßlich kleines Kind zum Vorschein kam. Man sah nichts als einen winzigen Schädel, auf dem dünne Haare klebten, und einen aufgerissenen zahnlosen Mund, aus dem ununterbrochen Gebrüll hervorquoll. Doch konnte man beobachten, daß unter den Decken ein kleiner Körper zuckte.

Die Frau bückte sich und holte eine kleine Flasche mit Milch aus der Tasche, die ihr zu Füßen stand.

Was wollte sie damit? Es war doch klar, daß das Kind im Sterben lag.

Aber beide Eltern lächelten. Sie hätten sich nicht heiraten sollen, wenn sie keine Kinder haben wollten. Das war kein Verbrechen. Das mochte mancher nicht. Aber lächeln, wenn ein Kind stirbt!

Herr Sebastian Wenzel war ernsthaft erregt und entrüstet. Plötzlich verstummte das Geschrei.

Der brüllende Mund war geschlossen und saugte in kräftigen Zügen die kleine Milchflasche aus.

»Es hatte Hunger«, sagte die Dame mit einem leichten Kopfneigen zu Herrn Sebastian Wenzel und lächelte wieder. Alle drei lächelten sich an.

Die Ruhe, die sie jetzt umgab, stimmte unendlich wohltuend und versöhnlich.

Die Dame lehnte sich wieder in ihre Ecke zurück, und bald hob und senkte sich die runde Fülle unter ihrer Taille regelmäßig auf und nieder, wie es Herr Sebastian Wenzel jetzt so viele Wochen am Meer beobachtet hatte.

Der Mann saß halb schlafend aufrecht mit dem Bündel auf den Knien.

Herr Sebastian Wenzel wollte versuchen, ob er ein wenig zu schlummern vermochte.

Aber ehe noch an ein solches Gelingen zu denken war, schrillte es gell aus dem Tücherpacken hervor. Die Dame schlief ruhig weiter. Der Mann zuckte zusammen und begann das Paket hin und her schwanken zu lassen, so wie es das Meer mit dem Motorboot gemacht hatte. Dem armen Zwerg da drin mochte es gut ergehen. Bald verbreitete sich auch ein höchst unangenehmer Geruch.

Der Mann holte aus seiner Rocktasche ein kleines Gummipäckchen, das er mit einigen geschickten Handgriffen in ein Töpfchen verwandelte. Die Tücher rollten auseinander, und der kahle Schädel sowie der zahnlose Mund wurden wieder sichtbar. Aber diesmal gewann Herr Wenzel noch einen weiteren Einblick in die Familienverhältnisse seines Gegenübers. Er konnte bemerken, daß das brüllende Geschöpf ein winziges Mädchenexemplar war.

Herr Sebastian Wenzel beobachtete den Mann sehr scharf. Er kam auf Gedanken, die ihn mit der Wirklichkeit aussöhnten. Man kennt das Böse, das einem geschieht, aber man weiß nicht, wovor man bewahrt worden ist, dachte er.

Er lächelte zufrieden, obwohl das Geschrei in seine Ohren gellte.

Der Mann, der fortwährend gähnte, sah dieses Lächeln. Während er das zappelnde kleine Stück Fleisch wieder in frische Tücher zwängte, drehte er den Kopf zu Herrn Wenzel und rief:

»Sie brauchen gar nicht zu lachen. Es ist noch kein Jahr her, daß auch ich in kein Kupee stieg, in dem ein Kind war, daß ich Raucherkupee fuhr und fünfzig Zigaretten zwischen Frankfurt und Berlin rauchte. Denken Sie, ich bin mit dem Kind zusammen auf die Welt gekommen? Aber schlafen Sie einmal acht Nächte lang hintereinander nur in kurzen Unterbrechungen und wiegen Sie die übrige Zeit ein schreiendes Kind, da werden Sie vielleicht auch gähnen müssen.«

Das Kind kreischte aufs fürchterlichste. Der Mann schlug sich auf die Stirn und sagte:

»Natürlich, ich habe den Puder vergessen.« Er griff in seine andere Rocktasche, holte ein Blechbüchschen hervor und nahm aufs neue die Tücher auseinander.

Was schlaflose Nächte bedeuten, fühlte Herr Sebastian Wenzel im Augenblick aufs herbste. Der Mann tat ihm leid.

»Und die Frau?« fragte er und sah in die Ecke, wo die Wellen ruhig auf und nieder glitten.

Der Mann lächelte und folgte Herrn Wenzels Blick.

»Sie ist es doch auch nicht gewohnt«, sagte er zärtlich. »Sie glauben nicht, wie zierlich und munter sie war. Wie umworben. Eine ganze Kiste vertrockneter Kotillonsträußchen hat sie in die Ehe gebracht.«

Er schwieg wieder und widmete sich jetzt ganz den zappelnden Beinen des kleinen Mädchens, das er mit einer Puderquaste eifrig betupfte. Sebastian Wenzel sah ihm entsetzt zu.

»Sie sind schon ganz konfus, Herr!« rief er. »Die Mädchen pudern sich im Gesicht. Ich hatte zwei Schwestern, ich weiß das.«

»Nein, nein, das muß so sein«, erwiderte der andere, in den matten Ton der Übermüdung zurückfallend, und puderte weiter.

Das Kind war endlich still, und die Tücher waren wieder nichts anderes als eine gewöhnliche Deckenrolle.

Die Züge des Mannes besänftigten sich.

»Man tut es schließlich gern«, sagte er. »Es ist am Ende das größte Glück, das man hat.«

»Wie? Was meinten Sie?« fragte Herr Sebastian Wenzel. Er rückte in seine Ecke und zog die Beine an sich. Der Mann war ihm von Anfang an nicht normal erschienen. Der erste Eindruck ist immer der richtige.

Herr Wenzel bemühte sich, nicht einzuschlafen. Man wußte nie, mit wem man fuhr. Plötzliche Ausbrüche von Wahnsinn sollen auf der Eisenbahn nichts Seltenes sein.

Er bemühte sich, die Augen aufzuhalten, um damit den blassen Mann ihm gegenüber beobachten zu können.

Aber so schwer erreichbar das meiste ist, solange wir es wünschen, so leicht trifft es uns, wenn wir es nicht mehr wollen.

Auf der ganzen Reise hatte Herr Sebastian Wenzel trotz redlichen Bemühens keinen Schlaf finden können. Jetzt war es eine ungeheure Aufgabe, dagegen anzukämpfen.

Er geriet in einen durchaus unerfreulichen Zustand.

Die Augen fielen ihm zu. Gewaltsam riß er sie auf. Wie Muscheln schlossen sie sich sofort wieder. Er blinzelte zu den Tüchern hinüber. Wenn der weibliche Zwerg doch schreien wollte und das Schlafen damit zur Unmöglichkeit machte. Aber die Deckenrolle blieb, was sie schien: Ein stummes Bündel Tücher.

So geschah, was geschehen sollte.

Herr Sebastian Wenzel schlief ein. Er erwachte, weil er eine Hand an seinem Rock fühlte. Der Mann von gegenüber hatte ihn an der Schulter gepackt und rüttelte ihn.

Er wollte dem fest Schlafenden bemerklich machen, daß er den Wagen verlassen müsse. Es ist ein altes Pech, daß wir für unsere größten Freundlichkeiten oft die derbsten Püffe kriegen.

Herr Sebastian Wenzel stieß den Mann mit so ungeheurer Wucht vor den Magen, daß er beinahe zusammen mit dem lebendigen Bündel und der sich an ihn lehnenden Frau zum Wagen hinausgestürzt wäre.

»Wie fest Sie geschlafen haben«, sagte der junge Vater, als er wieder Halt gewonnen hatte. »Sie müssen aussteigen. Wir sind am Ziel. Wenigstens geht der Zug nicht weiter.«


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