Alice Berend
Die Reise des Herrn Sebastian Wenzel
Alice Berend

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8

Herr Sebastian Wenzel hatte Mühe und viel Verdruß mit seinen neuen Uhren.

Jeden Abend zog er sorgfältig alle hintereinander auf und stellte ihre Zeiger gleich. Aber am nächsten Morgen lief jede ihren eigenen Weg. Bis auf die, die stehengeblieben waren. So mußte er sie wieder stellen und richten. Am Mittag, wenn die Fabriken pfiffen und andre die Arbeit beiseite legen konnten, mußte er aufs neue die Uhren zur Hand nehmen. Schließlich hielt keine von ihnen auch nur eine Stunde gleichmäßig Schritt. Sie waren die verkörperte Unpünktlichkeit.

So konnte sie Herr Wenzel nicht in seinem ordentlichen Haushalt haben. Das war klar.

Er ließ alle fünf zum Uhrmacher hinüberbringen.

Das Schild dieses Uhrmachers hatte Herr Wenzel von seinem Fenster aus stets vor Augen; Heinrich Siebenlist, Uhrmacher und Goldschmied, war ihm ein geläufiger Spruch.

Zum erstenmal betrat er nun den Laden. Der Uhrmacher wickelte die Uhren aus und erfuhr dabei, daß es Familiengeschenke seien. Während er in ihren Eingeweiden herumstocherte, sagte er lächelnd: »Was für zärtliche Verwandte der gnädige Herr hat.« Er brauchte diese Werke nicht lange durch die Lupe anzublinzeln, um zu wissen, daß sie ihm als Besitztum des in der ganzen Straße als pünktlich bekannten Herrn Wenzel eine kleine Jahresrente tragen würden.

Einstweilen bat er, alle Uhren in Pension nehmen zu dürfen, um sie mit neuen Federn zu versehen.

Herr Sebastian Wenzel war einverstanden. Er war zufrieden, die Quälgeister für eine Weile los zu sein.

Aber nun machten ihm die Barometer noch Sorge.

Es war jetzt klares Frostwetter. Aber gerade das Barometer, das immer auf: Schön Wetter, gestanden hatte, war nun ungeduldig geworden und zeigte jetzt: Regen und Wind. Das andre war beharrlicher. Es meldete stets: Veränderlich. Damit hatte es nicht unrecht. Veränderlich ist alles.

Sebastian schraubte früh und spät an seinen Wetterpropheten herum.

Dies hier war ein noch schwierigeres Problem als das Richten der Uhren. Aus einer geheizten Parterrewohnung heraus das Wetter zu regeln ist keine leichte Aufgabe.

Aber die Uhren kamen zurück. Gegen ein kleines Vermögen hatte Herr Wenzel sie wieder eingelöst. Doch er sollte ihrer nicht froh werden.

Herr Siebenlist hatte Federn eingesetzt und alle Schlagwerke in Ordnung gebracht. Sie liefen und schlugen alle, ganz wie es ihnen Spaß machte. Mit der Mitteleuropäischen Zeit hatte das gar nichts zu tun.

Herr Wenzel ließ sein Gegenüber zu sich bitten. Stellte ihn inmitten der schlagenden Uhren und sah ihn drohend an.

Heinrich Siebenlist lächelte.

»Was wollen Sie, werter Herr? Die Uhren sind altmodisch. Ganz werden sie sich unsrer Zeit nicht mehr anpassen. Aber nach und nach gewöhnt man sich an ihre Eigenheiten.«

Er nahm eine der Uhren in die Hand, die als Glaskugel in einem Elfenbeinring saß.

»Sehen Sie dieses niedliche Dingelchen«, sagte er. »Wenn die Zeiger auf zwölf stehen und sie drei schlägt, ist es genau zwanzig Minuten vor acht. Das muß man eben wissen.«

Er hob eine andere auf, die im Leib eines Bronzepferdes ruhte.

»Diese hier«, sprach er weiter, »ist ein solides altes Werk. Wenn sie fünf zeigt und neun schlägt, ist es gerade fünf Minuten über neun.«

»Hören Sie auf«, rief Sebastian, der erblaßt war.

Es war ihm jetzt klar, daß seine Verwandten ihn mit diesen Geschenken ins Irrenhaus bringen wollten.

Schweigend winkte er Heinrich Siebenlist zu, sich zu entfernen.

Dieser sagte: »Ja, ja, die Nerven.« Verbeugte sich und ging.

Sebastian sank in seinen Fensterstuhl und sah gedankenlos zu, wie Heinrich Siebenlist drüben unter dem Schild hinweg in seinen Laden sprang.

Nach einigen Augenblicken des Ausruhens klingelte er heftig. Als die Haushälterin erschien, sagte er:

»Nehmen Sie diese fünf Uhren und zwei Barometer und werfen Sie sie sofort in den Müllkasten.«

Das Mädchen zuckte zusammen.

»Wohin?« fragte sie unsicher.

»In – den – Müllkasten!« schrie Herr Wenzel, jedes Wort betonend.

»Ich dachte nur«, stotterte das Mädchen.

»Sie haben nichts zu denken. Dazu habe ich Sie nicht in Dienst genommen. Fort mit den Sachen.« Herr Wenzel erhob sich. Groß und hager. Er glich einem drohenden Ausrufungszeichen.

Das Mädchen packte rasch die Siebensachen zusammen und verschwand.

Sie wunderte sich nicht. Einmal, weil sich wundern der Anfang der Weisheit ist und sie gar keine Anlage zu dieser Tugend hatte, und zweitens, weil sie sich klar war, daß die Menschen je älter, je närrischer werden.

Sie schraubte die Sachen auseinander, wickelte sie sorgsam in Seidenpapier und legte dann alles auf den Boden ihres Koffers. Dort lag schon manches andre. Denn bekanntlich geht nichts im Weltenraum verloren. Alles findet seinen Platz.

Als der Hausherr am Abend fragte, ob sein Befehl ausgeführt sei, antwortete sie mit einem festen: »Ja.«

Diese Tage hatten Herrn Wenzel recht angegriffen und ihm großen Mißmut hinterlassen.

Er fuhr erschreckt zusammen, wenn es klingelte. Im Gewimmel der Straße, im Halbdunkel des Treppenraums glaubte er das Gesicht eines Verwandten auftauchen zu sehn.

Das Essen schmeckte ihm nicht mehr. Und das in einer Zeit, wo die Fenster der Delikatessenläden leckerer denn je waren.

Da lagen Kaviarfäßchen auf Eis neben zartem, rosigem Räucherlachs. Prachtstücke von Puten hingen an Schnüren, aufgereiht wie Perlen, und Trüffeln aus Perigord, um sie zu füllen, waren auch da.

Bei ihm in der Speisekammer standen in blanken Porzellankruken: Weißkraut in Rheinwein, Früchte in Rum, in fein polierten Holzgefäßen ruhten Fleisch und Heringe unter Salz, hingen von der Decke geräucherte Gänsebrüste, gewickelte Schinken.

»Was ist das Leben ohne Appetit«, sagte Sebastian Wenzel trübselig zu seinem Freund.

»Ja, Appetit ist alles«, erwiderte Exzellenz und lächelte, »nicht allein beim Essen. Sie sollten einmal einen Arzt aufsuchen.«

»Meinen Sie?« Herr Sebastian Wenzel sah erschreckt und beunruhigt aus.

Amalie Zwink, die gerade hinzukam, fragte besorgt und kurzatmig: »Was hat denn unser lieber Freund?«

Sie versuchte sich hüftenlos zu setzen, und als es ihr gelungen, schnellten ihre blanken Vogelaugen neugierig von einem zum andern. Aber keiner der Männer hatte Mitleid mit ihr. Das Schweigen dauerte an.

»Man muß sich nicht um seinen Kummer kümmern«, rief Fräulein Zwink aufs Geratewohl.

Auch das prallte bei den Nachdenklichen ab.

»Ist Ihre Podagra schlimmer, lieber Freund?«

Exzellenz schüttelte schweigend den Kopf.

Das Fräulein drehte sich zu Herrn Sebastian um.

»Ist wieder etwas mit Ihren Uhren geschehen, lieber Herr Wenzel?«

»Der ganze Plunder liegt im Müllkasten«, rief Sebastian grob.

»Wie?« fragte Fräulein Zwink höflich. Ein starres Lächeln verriet, daß ihr unheimlich zumut war.

»Unser Freund ist nicht ganz gesund«, sagte der General.

»Ach so«, flüsterte Fräulein Zwink und rückte vorsichtig von Sebastian ab, der, das spitze Kinn auf der Brust, vornübergebeugt vor sich hinstarrte.

»Wo fehlt's denn?« tuschelte Amalie der Exzellenz zu und riß die Augen auf.

»Am Appetit«, flüsterte dieser zurück.

Herr Sebastian Wenzel hob den Kopf.

»Exzellenz meint, ich müsse einen Arzt aufsuchen.« Er sah hilfesuchend nach der kräftigen Freundin. Vielleicht hatte sie wieder ein heilendes Fläschchen im Hinterhalt.

»Zum Arzt wollen Sie gehn? Das ist das einzig Richtige, wenn Sie sich nicht gut fühlen.« Amalie Zwink wurde freudig erregt. Endlich kam wieder ein bißchen Spannung in das Leben.

»Zu wem wollen Sie gehn? Wann werden Sie gehn? Ach bitte, fragen Sie dann auch gleich, ob man an zu starkem Durst leiden kann, ohne zuckerkrank zu sein«, fragte und bat sie so schnell, als ihr möglich war.

»Ich werde es mir überlegen«, sagte Sebastian, erhob sich und ging.

Frauen sind das Roheste und Gefühlloseste, was die Erde trägt, dachte er, während er seine Wohnungstür zuschlug.

An diesem Abend mundete ihm nicht einmal eine zarte, tadellos gebratene Gänseleber ...

Vor dem Schlafengehen blickte er lange in den hohen Spiegel, der seine ganze Figur zurückwarf.

Er nickte sich ernsthaft zu.

Er war entschlossen, sich zum Arzt zu führen.


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