Alice Berend
Die Reise des Herrn Sebastian Wenzel
Alice Berend

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16

Und mit derselben Verwunderung erwachte er auch: Merkwürdig, daß dieser Spektakel gesund sein soll. Er hatte schon in der Schule gewußt, daß das Meer stets in Bewegung war. Aber diese Weisheit bekam eine andre Bedeutung, wenn man drei Schritt von dieser ruhelosen Flüssigkeit schlafen, essen und gesunden sollte.

In den ersten Tagen schüttelte Herr Wenzel oft verächtlich den Kopf, wenn er vor der salzigen, hartnäckig rauschenden Weite saß.

Worin bestanden im Grunde die großen Triumphe der Menschheit? Warum galt der Mensch als Herrscher der Welt? Mit aller Wissenschaft war man nicht imstande, dieses Gepolter auch nur eine Minute abzustellen.

Man gewöhnt sich an alles, und Herr Wenzel gewöhnte sich an das unaufhörliche Wassergegurgel, wenn es ihm auch unbegreiflich blieb, was daran schön sein sollte.

Aber schließlich war er nicht auf das Meer angewiesen. Es gab hier noch andres zu sehen und zu genießen. Zum Beispiel den Speisesaal, der weiß lackiert war, Spiegelwände hatte und einen dunkelroten Teppich, auf dem viele helle, zierlich gedeckte Tische standen.

Die Mahlzeiten machten Herrn Sebastian Wenzel großen Spaß. Er hatte guten Appetit. Wie man auch sonst vom Meere denken wollte, die salzige Fischluft reizte zum Essen. Man speiste an einzelnen Tischen, und die andren störten Herrn Wenzel nicht. Im Gegenteil, sie schienen ihm unterhaltsame Figuren, die den hübschen Raum noch bunter machten. Er betrachtete sie mit der alten Behaglichkeit, mit der er zu Haus auf die Straße gesehen hatte, die ihm belebt auch stets besser gefallen hatte als einsam. Er hörte gern Lachen und Stimmengemurmel, während er bedächtig seinen Fisch aß und auf die Gräten achtete.

Dann machte es ihm Spaß, daß er hier nicht einen Augenblick im voraus wußte, was er im nächsten essen werde. Auf dem französischen Menü standen nur geheimnisvolle Worte. Er konnte sein Schulfranzösisch so gut wie jeder andere. Wer sich, wie Herr Wenzel, für gute Küche interessiert, weiß vielleicht auch noch ein gut Teil Worte mehr als der Durchschnitt der Gebildeten. Aber trotz aller Kenntnisse konnte er vorher nicht ahnen, daß »Princesse Maleine« ein rätselhaftes Etwas von Maraschino, Mandeln und kandierten Fruchtsplittern war. Aber man nahm es nicht übel. »Princesse Maleine« war sogar vorzüglich.

Und so gab es viele Ueberraschungen, die man sich gern gefallen ließ.

Nur mit dem Wein wurde Herr Wenzel nicht recht vertraut; obgleich er Tag für Tag eine Zeile tiefer auf der Weinkarte stieg und bald bei der höchsten Zahl angelangt war, hatte er noch keinen Tropfen gefunden, der ihm mundete.

Allmählich kam er dahinter, daß man auf Reisen den Wein nicht an Flasche und Etikett erkennt.

Nach den Mahlzeiten ging Herr Wenzel in sein freundliches Zimmer hinauf, in dem es nach Eau de Cologne und Leder duftete. Hier ruhte er oder las die Zeitung, die ihm hier nachfolgte. Auch war er auf eine illustrierte Zeitschrift abonniert, die ihm reiche Unterhaltung brachte. Er machte seine Spaziergänge und schlief trotz des Wassergeräusches gut und fest. Es schien wirklich, als sollte sich hier Herrn Sebastian Wenzels Gesundheit auf das unerhörteste stählen.

Gerade in diesen Tagen war in der Wochenschrift das Bild eines Mannes von 113 Jahren. Eines Mannes, nicht das einer dauerhaften Frau.

Herr Sebastian Wenzel betrachtete lange das runzlige, lächelnde Gesicht, das aus einem der scharfen Mundwinkel ein Pfeifchen hängen hatte. Darunter stand, daß der Mann nie im Leben krank gewesen sei und immer Pfeife geraucht habe, von der er sich auch jetzt noch keinen wachen Augenblick trennte. »Wer lange Pfeifchen raucht, lebt lange«, hatte er schelmisch dem Berichterstatter einer Zeitung erklärt.

Draußen fiel die rote Sonne ins Meer. Sie warf durch die Scheiben auch einen rosigen Schein auf die Wangen des 113jährigen.

Herr Sebastian Wenzel sah dem Alten tief in die Augen.

113 Jahre? Warum nicht? Was einem möglich wurde, kann auch einem zweiten gelingen. Auch er war niemals krank gewesen.

Lächelnd rollte er das Heft zusammen.

Am andern Morgen kaufte er sich eine Pfeife. Es ist keine Schande, sich belehren zu lassen ...

*

Freundlich und friedlich trieben die Tage vorwärts. Mit blauem Himmel, milder Luft, reichlichem Appetit und guter Verdauung. Die andern Hotelgäste kümmerten sich nicht um den neuangekommenen einzelnen Herrn. Sie waren alle schon einige Wochen hier und zu einer einzigen Familie zusammengeschmolzen. Bald mußten sie wieder davonreisen, und so hatten sie die Jagd auf neue Bekanntschaften eingestellt. –

Eines Morgens kam Herr Wenzel in sein Zimmer, als noch Marietta, das Stubenmädchen, darin beschäftigt war. Sie tupfte mit einem roten Federwedel auf Schrank und Kommode herum, wobei sie abwechselnd in den Spiegel oder aus dem Fenster sah.

Herr Wenzel streifte sie mit einem mißbilligenden Blick, denn er wollte allein sein.

Sie tupfte weiter im Zimmer herum und sagte:

»Nun beginnt die Saison. In der nächsten Woche wird das Haus voll. Siebzig Gäste werden erwartet.«

Herr Sebastian Wenzel sah über sie hinweg zum Fenster hinaus.

Aber Marietta lächelte ihn weiter an und plauderte im Takt des Staubwedels. – »Dann gibt's Bälle, Rollschuhbahn, Feuerwerk und Wasserfeste. Dann ist Leben hier. Wirkliches Leben.«

»Alberne Zerstreuungen sind doch nichts das wirkliche Leben«, sagte Herr Wenzel zurechtweisend. Dies Geschwätz beunruhigte ihn. Ihn beschlich ein unangenehmes Gefühl der Beklemmung, als ob ein Gewitter aufzöge. Siebzig neue Gäste?

»Zerstreuungen sind doch nicht das wirkliche Leben«, wiederholte er ärgerlich.

»Was denn sonst?« sagte das Mädchen schulterzuckend, nahm Staubwedel und Tücher und ging.

Herr Sebastian verriegelte die Tür.

Marietta hatte sich an der Mündung der Treppe auf einen Stuhl gesetzt. Sie hörte das Schnappen des Riegels und zuckte noch einmal die Schultern.

In diesem Schulterzucken lag ihre Weltanschauung. Sie kannte die Menschen. Nicht aus ihren Worten, sondern aus ihren Kommodeschüben und Koffern.

In Herrn Wenzels Schüben würde sie nicht kramen, und wenn er ihr dazu die Schlüssel in die Hand gäbe, statt sie mit sich auf Schritt und Tritt herumzutragen. Sie war sicher, daß man bei ihm außer den notwendigen Sachen nichts fand als ein Päckchen wohlgeordneter Rechnungen, die bezahlt waren, und sorgfältig zusammengerollte Bindfadenendchen. Dieser Herr war mager und sauber innen wie außen.

Sie versank in Sinnen und dachte an die alte Frau Rätin, deren Schübe mit Zuckerstückchen gefüllt waren, die sie vom Frühstück beiseite schmuggelte. Und an das blonde Fräulein, das nie ganz die Augen aufschlug, und unter dessen Kopfkissen sie die wilden Liebesbriefe an einen Neger gefunden hatte. Damals wäre ihr beinahe gekündigt worden, so war sie ins Lesen gekommen. Um Mittag war noch kein Zimmer fertig gewesen.

Ein schrilles Klingeln schreckte Marietta aus ihren Erinnerungen.

Herr Sebastian Wenzel hatte geläutet. Er riegelte die Tür auf und ließ das Mädchen hereinkommen.

»Es wäre besser, wenn Sie mit dem Staubwedel so tüchtig wären wie mit dem Mund«, sagte er und zeigte auf den niedern Eisenofen, dessen kleine Türe ein Spinnennetz kunstvoll verschloß.

»Was weiß der Herr von meinem Mund?« sagte Marietta. Sie wiegte sich in den schwarzumspannten Hüften, zupfte an der weißen Schürze und sprach dann weiter:

»Soll geheizt werden?« Sie zog den Mund schief und sah zu dem Fenster, vor dem die Sonne blendete.

»Ich wünsche, daß dieser Unrat vom Ofen entfernt wird. Alles andere geht Sie nichts an«, sagte Herr Sebastian Wenzel langsam und schwer.

Unterdessen entdeckten die flinken Augen des Mädchens auf dem Tisch ein Häufchen Papierschnitzel.

– Oho, hier soll etwas verbrannt werden, dachte sie, als sie vor dem Ofen kniete und ihn mit einem Staubtuch, das an ihrem Schürzenband hing, ein wenig berührte.

Diese Menschenkennerin hatte sich nicht getäuscht.

Jene Papierschnitzel waren bis vor kurzem noch Briefe gewesen, die Herr Sebastian Wenzel heute erhalten hatte. Es waren die höflichen Dankbezeigungen der Familie für Sebastians Abschiedsgeschenk. Niemand schrieb gekränkt oder grob, wie Herr Wenzel es gefürchtet und zugleich gehofft hatte.

Hoffnung ist widerstandsfähig und Vorsicht höflich. Noch hatte keiner das Testament gesehen, womit Sebastian gedroht hatte. Diese Briefe wollte Herr Wenzel aus der Welt schaffen.

Sobald er allein war, ging er ans Werk. Er breitete ein Zeitungsblatt vor dem Ofen aus und kniete nieder. Bedächtig errichtete er in dem schwarzen, rußigen Loch einen kleinen Scheiterhaufen aus Streichhölzern, schüttete die Papierstückchen darüber und steckte das Ganze in Brand.

Aber die Wenzelschen Dankesworte und Namen krochen als Qualm wieder aus dem Ofen heraus und erfüllten das ganze Zimmer.

Herr Wenzel schlug räuspernd und hustend mit einem Handtuch durch die Luft, um sie zum Fenster hinauszutreiben. Doch auch in dieser Gestalt ließen sie sich nicht so leicht davonjagen. Sie wirbelten immer aufs neue um ihn herum, brachten ihn zum Niesen und Speien, stachen ihm in die Augen.

Eilig wusch sich Sebastian seine berußten Hände und verließ das Zimmer. Er hustete auch draußen noch lange Zeit und dachte verzweifelt: ich wäre nicht der erste, der der Hinterlist seiner Familie zum Opfer fällt.

Erst als er lange am Meer gesessen hatte, wurde er ruhig. Zum erstenmal tat ihm der Blick auf die unbegrenzte Weite wohl. Sie beruhigte, sie bewies, daß es große Entfernungen auf der Erde gibt.

Inzwischen kniete eine weiße Schürze vor dem schwarzen Ofenloch. Der Stiel des Staubwedels durchbohrte den Scheiterhaufen. Einige der Papierfetzchen kamen unversehrt wieder ans Tageslicht. Feste Finger zogen sie hervor.

– Dank – Überraschung – Geldsumme – Freude – niemand von uns mißgönnt Dir Deinen großen Reichtum. –

Das sagten die geretteten Stückchen, wenn man sie geschickt zu behandeln verstand.

Der Ofen wurde geschlossen, der Rauch verzog sich.

Über die Korridore und Treppen aber schlich die Kunde von dem großen Reichtum des mageren Herrn Sebastian Wenzel aus Deutschland.


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