Henry Benrath
Die Kaiserin Konstanze
Henry Benrath

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Elftes Kapitel

Baida, 30. September 1197
Palermo, 20./26. Dezember 1197

Genau siebenundsiebzig Tage nach dem Gespräch auf Schloß Favara starb der Kaiser an der Ruhr in Messina. Am 28. September 1197, ein Mann von zweiunddreißig Jahren. Die Kaiserin erhielt die Nachricht am frühen Abend des 30. September in Baida, das sie seit Juli nur noch verlassen hatte, wenn die dringendsten Regierungsgeschäfte sie nach Palermo riefen. Sie schickte sogleich eine Gruppe von zuverlässigen Rittern nach Foligno, um ihren Sohn nach Palermo holen zu lassen, ehe ihn Philipp, der jüngste Bruder des verstorbenen Kaisers, laut schon ergangenen Auftrages, zur deutschen Königskrönung nach Aachen bringen konnte. Gleichzeitig reisten noch in derselben Nacht Eilboten nach Toulouse und Ingelheim, um Pedro und Lothar nach Palermo zurückzurufen. – –

Die Übersiedlung in den Kasr wurde für den nächsten Tag festgesetzt und der Rat der Familiaren auf den Vormittag einberufen. Der Hafen wurde gesperrt. Die Deutschen in Palermo erhielten die Weisung, sich ruhig zu halten. Es wurde ihnen volle Sicherheit gewährleistet. Als der Kanzler Pagliara tief in der Nacht das Kloster verließ, ging er voll Bewunderung für die kalte, klare Tatkraft der Kaiserin. Sie war plötzlich aufgewacht. Sie war nur noch Zukunft. Mit einem leichten Schaudern hatte er festgestellt, daß der Tod des Kaisers ein lange vorgemerkter Posten in ihrem Hauptbuche war: eine Sache, kein das Gefühl noch berührendes Erlebnis.

– Ordnen Sie die Bestattungsfeierlichkeiten an, wie sie für Kaiser üblich zu sein pflegen, hatte sie beim Abschied gesagt. Lassen Sie sich das Zeremoniell von irgendeinem der deutschen Herren erklären. Das 338 normännische ist unter allen Umständen zu vermeiden. Meine sarazenischen Truppen haben den ausschließlichen Ordnungsdienst in den nächsten Wochen. Ziehen Sie die gesamten Garnisonen von Cefalù, Trápani, Termini in die Stadt und belegen Sie mit ihnen sämtliche Kasernen. Die kaiserlichen Truppen, welche zur Beisetzung kommen werden, sind in Zeltlagern vor den Stadtmauern unterzubringen. Verdoppeln Sie die Zahl der Kriegsschiffe. Sie sind sich mit mir darüber klar, daß die Lage so verändert ist, wie sie es nur jemals sein konnte. Es gibt nur noch ein Heute und ein Morgen! Jedes Gestern – jedes – hat aufgehört! Ich werde diese Nacht über nachdenken. Ich werde Ihnen morgen sagen, zu welchen Entschlüssen ich gekommen bin – und Sie um Rat fragen. Ich bin und bleibe – der Form nach – die Kaiserin. Setzen Sie aber voraus, daß ich in allen Dingen der sizilischen Politik – die Königin bin. Gute Nacht.

Als der Kanzler mit seinem Gefolge fortgeritten war, ging sie in die Loggia vor ihrem Schlafzimmer. Die Nacht war lau und verhängt, das Meer lag fern und unsichtbar. Nicht einmal sein Atem drang durch das Duften der Orangenhaine herauf.

– Verschlossene Nacht, dachte sie . . . aus der das Schicksal schreitet . . . Wie war sie auf diesen Tod des Kaisers vorbereitet gewesen . . . Ihr Nachdenken war nur ein Überprüfen des Ergebnisses, zu dem sie lange schon gekommen war: nichts aufgeben, ehe die Umstände es verlangen – und sich nicht festlegen, ehe offenkundig ist, was sich in Deutschland vollziehen wird. Vor allem aber: keine Zugeständnisse an den Papst, die er nicht – auf Grund einer höheren Gewalt – 339 erzwingen kann. Also Verteidigung nach allen Seiten. Nicht dem kaiserlichen Gedanken mußte abgeschworen, aber dem unbilligen und ausbeuterischen Schalten der kaiserlichen Statthalter Einhalt geboten werden . . . Diese Männer würden aus Apulien und Sizilien verschwinden. Wie sie sich in der Mark Ancona, in Tuskien, in der Romagna und Lombardei mit den einheimischen Gewalten zurechtfinden würden, konnte ihr gleichgültig sein. Diese ›Teile‹ des Reichs hatten ihre eigne Politik zu treiben. Inwiefern sich diese Politik mit der ihrigen decken würde, mußten die nächsten Monate erweisen. Welches Testament der Kaiser hinterlassen hatte, würde man wahrscheinlich nicht allzu rasch erfahren. Sie wußte, daß er es Markward von Anweiler zu treuen Händen übergeben hatte. Dieser aber war ihr erklärter Feind. Sie war von jeher voller Mißtrauen gegen ihn gewesen. Es stand abzuwarten, mit welchen Befugnissen der Kaiser ihn über seinen Tod hinaus ausgestattet hatte. War ihm eine Art von Mitregierung – im kaiserlichen Sinn – zugestanden worden, solange sie selbst noch lebte – oder eine Regentschaft für den Fall ihres frühzeitigen Todes? Oder beides? Man hatte dann und wann von solchen Absichten des Kaisers munkeln hören. Es war ihr damals gleichgültig gewesen – es war ihr noch viel gleichgültiger heute. Sie brauchte keinen ›Mitregenten‹ von Kaisers Gnaden. Sie hatte ihren Kronrat der Familiaren, welcher sich aus den Erzbischöfen von Palermo, Monreale, Capua, Reggio und dem Kanzler Pagliara zusammensetzte. Sie hatte ihren unübertrefflichen Justitiar, den berühmten Thomas von Gaëta. Sie würde über ein kurzes als persönlichen Berater haben Lothar von Ingelheim, als 340 Miterzieher ihres Sohnes Pedro Vaqueiras – und als Freund, dem sie Tag um Tag die Last seines unverdienten Schicksals würde abtragen müssen, Richard Ajellus. Was immer das Testament des Kaisers über Markward verfügen mochte, es würde unbeachtet bleiben. Markward würde als erster ausgewiesen werden. Morgen schon. Ehe es ihm einfallen konnte, in Palermo zu erscheinen. Er war – neben Diepold in Apulien – der verhaßteste Vergewaltiger in Sizilien gewesen, obwohl er dort nur geringfügigen Besitz hatte . . . Was aber sollte mit dem alten Konrad von Urslingen geschehen? Ihm würde sie schreiben, königliche Geschenke senden, und ihn bitten, Sizilien zu verlassen. Sollte er sich in seinem Herzogtum Spoleto nicht halten können, so würde sie ihn entschädigen, soweit sie nur könne. Er war ein strenger, aber ein menschlicher Mann. Und die Sorge seiner Frau für den kleinen Konstantin verdiente ewigen Dank. Sie würde ihrem Briefe beifügen, daß in ruhigeren Zeiten beide häufige und lang verweilende Gäste am Hofe von Palermo sein möchten. Diepold von Vohburg würde aus seiner Grafschaft Acerra verjagt, seiner Befugnisse in der Terra di Lavoro enthoben und des Landes verwiesen werden. Auch alle übrigen unrechtmäßigen Nutznießer würden verschwinden müssen. Schon um ein Blutbad zu vermeiden. Denn wie sollte sie – von Ort zu Ort – den Haß der ausgesaugten und zerquälten Bevölkerung dämpfen? Das Land hatte diese Fremden nicht gerufen. Sie waren Unerwünschte, eine dauernde Gefahr für die Aufrichtung des inneren Friedens. Die Regierung in Palermo konnte keine Gewähr für ihre Sicherheit übernehmen, auch dann nicht, wenn sie versprachen, sich zu fügen und 341 ruhig zu halten . . . Und Konrad von Querfurt? ›Totius Italiae Cancellarius et Regni Siciliae Legatus?‹ Er war auf der Kreuzzugsfahrt. Eine ganze kostbare Wohnungseinrichtung hatte der empfindsame geistliche Herr mitgeschleppt . . . Es war nicht anzunehmen, daß er Lust zur Rückkehr habe . . . Sollte er es wagen, an Land zu gehen, so würde sie ihm die entsprechende Quittung erteilen lassen. Er hatte gefälscht und gehetzt. Er trug ein gut Teil von Verantwortung für die Härten des Kaisers.

Während sie nachdachte, wurde sie von einer angstvollen Traurigkeit befallen.

– Mein Hirn, sagte sie sich, legt sich dies alles so klar und einfach zurecht – aber wie wird die Wirklichkeit aussehen? Sie gebot den trüben Gedanken Einhalt. – Ich weiß ja, daß die Kämpfe weitergehen werden. Ich bin gerüstet für Kampf . . . Was aber ist es denn, das mich leicht macht, trotz aller Schwere, die ich kommen fühle? Nicht nur leicht, sondern frei? Ein einziges – das Entscheidende: die Luft um mich ist klar – ich muß nicht mehr lügen. Der Zusammenbruch meiner Hoffnungen, mit denen ich vor zehn Jahren mein Leben auf dem Thron begann, wandelt nicht mehr als Gespenst neben mir her. Der Wille, der mir Stück um Stück mein Recht zertrümmerte, kann sich mir nicht mehr auferlegen – der Geist, der sich an meinem Geiste verging, kann nicht mehr an mir sündigen. Das rechte Maß der Dinge ist mir zurückgekehrt; ich fühle mit meinem Herzen und wirke mit meinem Glauben . . . Ich lebe im vollen Lichte meiner Bestimmung: durch meinen Sohn, für meinen Sohn . . .

Sie dachte an die Herren, die schon zu Schiff nach 342 Gaëta abgefahren waren, um von dort nach Foligno zu reisen und Konstantin zu holen.

Im März 1195 hatte sie ihn zum letzten Male gesehen . . . Sie rechnete nach: Ende Oktober kann er bei mir sein, und fühlte, wie ihr Leben sich dieser Ankunft entgegendehnte . . . Welches Fest soll sein Empfang werden . . . Ende Oktober, wenn die Nespeln blühen, wenn die Tage mild und wehend sind, wenn es schon wieder grünt unter den Olivenbäumen nach den ersten Regen . . . Ich werde ihn im Zimmer seines Großvaters Roger wohnen lassen, bei den Mosaikpfauen . . . Jeden Ort, der mir lieb ist, werde ich ihm selbst zeigen. Jeden Baum, jede Pflanze, jedes Tier will ich ihm vertraut machen. Ich werde ihm Rehe und Fasanen halten. Ich werde ihn das Meer lieben lehren, das er noch nicht kennt. Ich werde ihm –

Sie erschrak. Sie hatte vergessen, daß er sie selbst ja gar nicht kannte . . . ›Mutter‹, was mochte ihm das Wort sein? Das, was die gütige, die geduldige Herzogin von Spoleto ihm darüber gesagt hatte, die mütterlichste aller Frauen, die erfüllteste aller Gattinnen.

– Qualvoll, daß ich ihren Gemahl bitten muß, außer Landes zu gehen! Gibt es denn keine erträgliche Lösung? Soll ich der Familie Urslingen in der Conca d'oro eine Besitzung schenken? Ja – ich will es tun, auch wenn sie beide jetzt nicht kommen, sondern dahin gehen werden, wo sie hingehören: in ihre deutsche Heimat. Ich will es tun im Namen meines Sohnes . . . Es soll seine erste Schenkung sein. Ich werde ihm sagen, daß Schenken das Größte ist. Ich werde mich selbst ihm schenken – mit allem, was ich bin – und was ich hätte sein mögen . . . O schweres, überschweres Leben . . . 343 Daß der Vater zerfallen muß, ehe die Mutter auferstehen und zu dem Sohne gehen kann.

Sie hatte die Ellbogen auf das Steingeländer gestützt und die Wangen in das Handinnere. Sie schaute. Undurchdringlich war die Nacht. Bei Acquasanta nur der schwache Lichtschein einer Hafenlampe. Aber der Geruch der Blüten stand dicht, als ob man ihn greifen könne, über den Wipfeln – – und war doch nur ein Ungreifbares, wie alles, was uns in unseren aufgeschlossensten Stunden überwältigt.

 

Schon vor Weihnachten konnte am Hofe von Palermo kein Zweifel mehr darüber bestehen, welche endgültige Wendung die Dinge genommen hatten und weiterhin nehmen würden. Der Tod des Kaisers war das Signal zu einer Auflehnung im gesamten Reiche gewesen. Nur sein tyrannischer Wille, nicht der Glaube der Menschen an seinen Reichsgedanken, hatte das uneinheitliche Gefüge zusammengehalten. In wenig Wochen zerfiel, was in Jahren zusammengezwungen worden war. Der Herzog Philipp mußte Anfang Oktober auf seiner Reise nach Foligno in Montefiascone kehrtmachen, sofern ihm an seinem Leben gelegen war. Es gelang ihm gerade noch, über die Alpen zu entkommen. Ancona, Tuskien, Spoleto, die Romagna und die Lombardei waren in voller Loslösung vom Reich. Sofort nach dem Tode des Kaisers hatte die Kurie ihre alten Ansprüche auf Mittelitalien und die mathildischen Güter angemeldet. In Deutschland war die alte 344 Gegnerschaft wieder auf dem Plan erschienen und sogar mit Richard Löwenherz in Verbindung getreten. Philipp, nun das Haupt der staufischen Partei, vertrat die Rechte seines Neffen, des dreijährigen deutschen Königs Friedrich, den die Fürsten im Dezember 96 gewählt hatten und nun schon zu verleugnen anfingen. Die Kaiserin hatte mit unheimlicher Sicherheit gerechnet. Der Schärfe ihrer Witterung entsprach die Feinheit des Gefühles, mit dem sie nun das für ihre eigne Politik Mögliche und Unmögliche gegeneinander abwog. Sie hatte den Rat der Familiaren auf den Nachmittag des 20. Dezember einberufen. Sie rechnete noch mit der Ankunft Lothars von Ingelheim, die zu jeder Stunde erfolgen mußte. Da er Richard Ajellus, dessen Befreiung sie sofort nach dem Tode des Kaisers befohlen hatte, mitbringen sollte, hatte sich die Reise wohl verzögert. Vielleicht auch hatte ihn die Entwicklung der Dinge in Deutschland zurückgehalten . . . Seine Berichte wären ihr von großer Wichtigkeit gewesen . . . An meinen Entscheidungen allerdings, dachte sie, während sie sich in das Beratungszimmer aufmachte, hätten sie wohl wenig ändern können . . . Deutschland und Sizilien sind durch höhere Gewalt getrennt worden. Wahrscheinlich für immer . . . Wer will es wissen?

Nachdem im Rate der Familiaren in der Frage der Ausweisungen beschlossen worden war, die Weigerungen einiger Herren, dem Befehle Folge zu leisten, auf ihre Berechtigung zu prüfen, sagte die Kaiserin:

– Ich habe Sie noch einmal vor den Feiertagen hierher gebeten, um mich Ihres Einverständnisses mit der Politik zu vergewissern, die mir für das Königreich nützlich zu sein scheint. Ich wiederhole, was ich seit 345 dem Tode des Kaisers sage: Wir geben keine Uns zustehenden Ansprüche auf. Der Kronprinz ist der erwählte deutsche König. Es sieht nicht darnach aus, als ob sein Rechtsvertreter in Deutschland, der Herzog Philipp von Schwaben, weiland Tuskien, seine Anerkennung oder Krönung durchsetzen könne. Für Uns ist dies im Augenblick eine cura posterior. Uns gehen die nationalsizilischen Fragen mehr an als die Erbfolgefrage Unseres Sohnes in Deutschland. Können sich dessen Ansprüche jetzt nicht durchsetzen lassen, so können sie es möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt. Daß Wir Uns für ihre Anerkennung gar mit den Waffen einsetzen sollen, kann niemand von Uns erwarten, zumal ja niemand wünschen kann, daß vor deutlicher Klärung der abendländischen Verhältnisse noch einmal zwei Staaten in eine enge politische Bindung gebracht werden, zu der sie ihrer besonderen Artung nach nicht geeignet scheinen. Hätte der verstorbene Kaiser diese Tatsache, die ich nicht versäumt habe, ihm immer und immer wieder vor Augen zu halten, zum Ausgangspunkt seiner sizilischen Politik machen wollen, so wären Wir heute nicht da, wo Wir sind. Es ist überflüssig, heute noch über das Geschehene nachzugrübeln. Es ist unerläßlich, neue Fehler zu vermeiden.

Wir haben im Laufe von zehn mehr als bewegten Jahren gelernt, wie groß die Macht des Unvorhergesehenen ist. Wir werden also nicht in den Fehler verfallen, die heutigen Richtlinien Unserer Politik so sehr festzulegen, daß Wir schließlich die Hände da gebunden hätten, wo Uns freies Handeln vonnöten ist. Es ist von Grund aus falsch, wenn man Uns blinden Deutschenhaß vorwirft, oder gar annimmt, ein solches Gefühl 346 werde Unsere politischen Handlungen beeinflussen. Was der einzelnen Person anstehen mag, steht noch lange nicht der regierenden Königin eines bedeutenden Staates zu. Unsere Beschlüsse und Maßnahmen werden lediglich durch die kältesten Erwägungen Unseres Vorteiles bestimmt. Wir bedienen Uns der Uns zur Verfügung stehenden Mittel, je nachdem es dieser Vorteil verlangt. Zwei Lebensfragen stehen im Vordergrunde Unserer Aufmerksamkeit: das zukünftige Verhalten der aus dem Königreich verwiesenen kaiserlichen Statthalter – und Unser Verhältnis zur Kurie.

Die Wiederkehr der Statthalter ist unter allen Umständen zu verhindern – und sei es mit Waffengewalt. Wir wissen, daß Herr Diepold von Vohburg bis jetzt nicht daran gedacht hat, seine Burg Rocca d'Arce nahe der Grenze zu verlassen – und Wir sind auf das genaueste darüber unterrichtet, was Herr Markward von Anweiler im Schilde führt. Es wird Ihre Aufgabe sein, meine Herren, die seelische Verfassung Unseres Volkes in einem derartigen Zustand zu erhalten, daß es in jedem Augenblick zur Abwehr neuer Übergriffe mit den Waffen bereit ist. Es will mir scheinen, daß dies mit Hilfe der Kanzeln nicht allzu schwer sei.

Was nun die Kurie betrifft, so sind Wir Uns darüber einig, daß eine Politik gegen sie nicht nur unmöglich, sondern gegen Unseren Vorteil gerichtet wäre. Die Anerkennung der päpstlichen Lehnshoheit muß – so wie sich die Dinge nun einmal entwickelt haben – die Voraussetzung Unserer gesamten zukünftigen Politik bilden. Einmal, weil der Papst tatsächlich von der Dynastie Hauteville als Lehnsherr des Königreiches anerkannt worden ist, sodann aber auch, weil Wir ihn 347 als Bundesgenossen nötig haben, um nicht abermals ein Spielball feindlicher Gewalten zu werden. Ich brauche Ihnen nur die Namen Pisa, Genua, Byzanz und – möglicherweise – Deutschland zu nennen, um Ihnen zu zeigen, von woher uns ernsthafte Gefahren drohen können. Gute, ja vorzügliche Beziehungen zum Papste also sind unerläßlich. Diese Linie Unserer Politik kann als unbedingt bezeichnet werden.

Wir sind Uns klar darüber, daß die Kurie Unsere augenblickliche Notlage nach jeder Richtung hin ausnützen wird. Sie wird aus ihr alle Vorteile ziehen, welche ihr erreichbar sind. Wir werden Uns also auch hier auf Kampf gefaßt machen müssen. Auf einen diplomatischen Kampf, der mit allen Mitteln der Verschlagenheit geführt werden wird. Man wird den Uns günstigen Konkordaten, die mit Hadrian IV. und Clemens III. abgeschlossen worden sind, zu Leibe gehen und sich die Krönung des sizilischen Kronprinzen ebenfalls bezahlen lassen. Nun: Wir fürchten Uns nicht vor diesem Kampfe. Es wird Unsere Aufgabe sein, die Preise, die man Uns abverlangt, so tief wie möglich zu drücken. Wir werden im Laufe der Verhandlungen viel Zähigkeit aufbringen müssen. Wir sind nur auf Uns allein gestellt. Das ist gewiß eine sehr schwere Belastung für Unsere Politik. Aber diese Belastung kann zu Unserem Segen werden, wenn das gesamte Volk hinter Uns steht und begreift, daß es für ganz Apulien-Sizilien nun um das Allerletzte geht: um seinen Bestand als selbständige Nation. Was in der Macht Unserer Regierung liegt, den Kampf um Unser nacktes Dasein mit Umsicht, Schlauheit und Zähigkeit zu führen, wird gewiß nicht versäumt werden. Ob er gelingt und Uns 348 den lang gewünschten Zustand eines dauernden Friedens gewährt, wie Wir ihn zur Wiederherstellung unserer wirtschaftlichen Blüte brauchen, das steht bei einer höheren Macht. Gott verläßt nicht den, der sich selbst nicht aufgibt. Er gebietet dem Vermessenen Einhalt – aber er hilft dem Gerechten.

 

Lothar von Ingelheim war von Marseille am 23. Dezember gegen Mittag in Palermo angekommen und im Gasthof des Melittus abgestiegen. Er wollte, ehe er in das Schloß ging, Pedro Vaqueiras gesprochen haben, dessen schon Ende November erfolgte Ankunft in der Hauptstadt ihm bekannt war.

– Ohne Richard? fragte Vaqueiras, als er mit Lothar nach der ersten Begrüßung im Brunnenhof seines kleinen Hauses gegen das Speisezimmer ging, wo man eben das Essen auftrug.

– Ohne Richard, wie du siehst. Er ist bei meinem Großvater geblieben. Ich werde ihn im Herbste holen, wenn es ihm besser geht.

Sie konnten beide nicht weitersprechen. Sie konnten nicht essen. Sie gingen in das Arbeitszimmer zurück und schwiegen lange.

– Es wäre vielleicht besser gewesen, er wäre gestorben, sagte Pedro schließlich.

– Nein. Er ist ganz voll Leben. Er ist nur am Körper gebrochen, nicht in der Seele. Er leidet noch an plötzlichen Kopfschmerzen, die so stark sein können, daß er 349 ohnmächtig wird. Seine Haltung ist jenseits der Worte. Keine Bitterkeit. Keine Anklage gegen das Schicksal. ›Ich sehe die Dinge nicht mehr, sagte er zu mir, als ich ihn in Trifels abholte. Aber ich sehe anderes, das wichtiger ist als die Dinge. Du wirst mich mehr lieben als früher, wenn ich gesund geworden bin. Und ich werde dir mehr sein können‹ . . .

– Will er für immer nach Palermo zurückkehren?

– Ich habe es ihm ausgeredet. Er soll bei mir in Jouy bleiben. Vielleicht nimmst du ihn von Zeit zu Zeit nach Toulouse. Zwischendurch, wenn das Heimweh ihn allzusehr quält, mag er nach Palermo gehen. Die Kaiserin wird an ihm Stunde um Stunde gutmachen, was der Kaiser an ihm gesündigt hat –

Lothar hob den Kopf:

– Wie geht es der Kaiserin?

– Sie ist krank. Nach dem Kronrat vom 20. Dezember brach sie plötzlich zusammen. Ein Gallenkrampf, von dem sie sich noch nicht erholt hat. Ich fürchte, es ist etwas anderes. Sie hat zwei ausgezeichnete ägyptische Ärzte. Tufan, der jüngere von beiden, ein Schüler des berühmten Chtest in Kahira, meint, es handle sich um eine gefährliche Erkrankung der Gebärmutter, wie sie häufig nach so später Schwangerschaft vorkomme . . . Lasse nichts verlauten . . .

– Und der kleine Kronprinz?

– Ein sehr erstaunliches Kind. Von außergewöhnlicher Lebendigkeit. Und dann plötzlich wieder wie in sich versunken, auf keinen Ruf hörend, auf keine Anrede antwortend. Von unerhörter Auffassungsgabe für alles Wahrnehmbare. Sehr empfindsam – aber ohne starkes Gefühl. Gerne allein. Sehr neugierig. 350 Überwachte man ihn weniger, würde er jedem Ding nachlaufen, das ihn gerade fesselt. Kein Spielzeug hält stand. Es wird zertrümmert, damit man weiß, was ›dahinter‹ oder ›drinnen‹ ist.

– Schön?

– Schön? Nein. Hübsch. Nur die Augen von einer Art, die man nicht beschreiben kann. Ein ungeheures, leuchtendes Blaugrau ohne Wärme. Ein Blick, der weder nach außen noch nach innen geht. Fast erschreckend ist sein Mangel an Zartheit, obwohl er sehr freundlich ist . . .

– Heinrichs Kind?

– Gehn noch immer die Gerüchte von dem bestellten Beischläfer?

– In Deutschland mehr denn je.

– Unfug!

– Bist du ganz sicher, Pedro?

– Du etwa nicht?

– Was weiß man von den Schlafzimmern der Dynastien? – – Glaubst du, daß ich die Kaiserin besuchen kann?

– Ich glaube kaum. Sie hat dich mit großer Sehnsucht erwartet . . . Wir werden fragen lassen. Heute morgen war sie sehr matt.

– Wann hast du sie zuletzt gesehen?

– Am Tag vor dem Kronrat hat sie mir Briefe diktiert.

– Wie ist es bei Hof seit dem . . . Zusammenbruch?

– Sehr still, nachdem man die Ausweisungen durchgeführt hat.

– Und der Nachwuchs des sizilischen Adels?

– Wegen der Hoftrauer fern . . . Claudio Trabbia ist 351 hier. Wartet ungeduldig auf dein Kommen . . . Du mußt seine Chronik lesen, wenn du die Kraft dazu hast.

– Nein, ich werde sie nicht lesen. Wer den Strich nicht ziehen kann, lebt nicht. Das sagt sogar Richard . . . Wir gehen schweren Zeiten entgegen, Pedro . . .

– Wem sagst du das! Die Kaiserin wollte, daß ich als Erzieher des Kronprinzen hier bleibe. Ich konnte ihr keine Zusage geben . . . Man erwartet jeden Tag den Tod des uralten Papstes Coelestin. Er möchte den Colonna als seinen Nachfolger sehen. Aber Lothar von Segni wird stärker sein. Du weißt, womit wir in Toulouse rechnen, wenn dessen Regierung im Lateran beginnt. Über Nacht kann der ›Kreuzzug‹ gegen die Kátharer verkündet werden . . .

– Auch in Deutschland wird es Krieg geben. Die Welfen werden ihren eignen Kaiser aufstellen, den sechzehnjährigen Otto.

– Und Philipp?

– Was wird ihm übrigbleiben, wenn er noch an den staufischen Gedanken glaubt? Er wird sich selber wählen lassen müssen . . .

– Hier im Schlosse von Palermo lebt doch der gewählte deutsche König . . .

– Keineswegs, Pedro! . . . Hier lebt – wie das deutsche Gerücht munkelt – der Sohn der ›Giftmischerin‹, die den ›edlen‹ Kaiser durch Arsen im Obst um die Ecke gebracht hat . . . Irgendein Kerl aus der kaiserlichen Kammer, der zur Zeit des Todes in Messina war, hat es von einem Diener Markwards flüstern hören . . . Grauenhaft, wenn dem Pöbel solche Brocken hingeworfen werden . . . Die Jahrhunderte käuen sie wieder! Und 352 wenn du tausendmal bewiesest, daß nur der Wahnsinn oder die Niedrigkeit solche Verdächtigungen aushecken können . . . Mir ekelt, Pedro . . .

– Kannst du noch immer die Kátharer nicht begreifen? – – Der Gestank dieser Zeiten ist groß . . .

– Ihr Grauen ist noch größer . . . Wenn man sich fragt, worum es eigentlich in diesem ewigen Hin und Her geht . . .

– Um das Hin und Her. Um weiter nichts . . .

– Nein, Pedro. Es geht immer nur um die nächst niedrigere Stufe. Denke darüber nach, wie ich das meine – und laß uns ein andres Mal darüber sprechen. Ich bin müde.

– Willst du immer noch gar nichts essen?

– Doch, einen Bissen . . .

– Hat man dir in Deutschland deine Rückkehr zur Kaiserin nicht verargt?

– Nein. Man hat bei uns Sinn für Treue, auch wenn man den Menschen, dem sie gewahrt wird, nicht liebt. Die Sache als solche zählt . . . Ich werde übrigens genau das gleiche tun müssen, das du vor Jahren getan hast: aus den ›Diensten‹ der Kaiserin ausscheiden und nur als Gast bei ihr bleiben, solange sie mich braucht . . . Vielleicht auch in die Stadt ziehen . . . Aber wer weiß . . . Wenn sie wirklich so krank ist . . . Vielleicht, daß sich bald ein neues Tor schließt . . .

– Ich glaube, es hat sich schon geschlossen, Lothar. Wir bewegen uns alle nur noch hinter seinen Riegeln. Man sieht uns nicht mehr . . .

– Dann würde sich ja die Bewegung noch – lohnen . . . Unsichtbarkeit! O beata solitudo – o sola beatitudo . . . 353

Sie gingen zu Tisch – und sprachen dann von Lothars Reise durch das Arelat.

 

Erst am 26. Dezember, dem Geburtstag des Kronprinzen, wurde Lothar von der Kaiserin empfangen. Sie hatte sich kräftig genug gefühlt, aufzustehen – aber das kleine Fest, das sie ihrem Sohne zugedacht hatte, war verschoben worden. Lothar erschrak, als er sie in ihrem Lehnstuhl am Fenster sitzen sah. So sehr er sich auch in der Gewalt hatte: er konnte dieses Erschreckens über seine Züge hin nicht Herr werden. Als er hinkniete und ihre Hand küßte, sagte sie mit einem gequälten Lächeln:

– Ich bin alt geworden, nicht wahr? Widersprechen Sie nicht! Ich bin noch krank – und Kranke vertragen keinen Widerspruch . . .

Erst nun sah sie ihn genau an . . . erst nun erschrak auch sie . . .

– Lothar . . .

Er atmete – fand, wie damals in Pisa, das Wort nicht und wandte den Kopf zur Seite . . . Sie tastete nach seiner linken Hand, fand sie, hielt sie zwischen ihren heißen Fingern.

– Lothar, wir wollen Richard auf unsren Händen tragen, wir wollen unser Herz unter jeden seiner Schritte legen . . .

– Wir können ihm doch seine Augen nicht wiedergeben, schrie es in ihm auf, so laut, als dröhne es von 354 den goldnen Mosaikwänden nieder . . . Aber er blieb stumm.

– Nun sind auch Sie mein Sorgenkind geworden, sagte sie . . . Ich will Sie pflegen, Lothar . . . Ich will Ihr Gesicht zurückverwandeln . . .

– Es wird nicht gelingen, Majestät. Mein Gesicht ist in das Alter seines schwersten Erlebnisses getreten: es hat die Welt als Wüste gesehen –

– Und das meine, Lothar?

Er trat näher – er neigte sich – er entzog sich nicht den Lippen, die als weher, ferner, gleitender Hauch zum ersten- und letztenmal über die seinen gingen –

Sie sprachen lange am Fenster in den Frühlingstag hinaus, der an den weißen Häuserwänden hin in das Meer hinunterblaute . . . Bis dann das Kind in das Zimmer kam und erstaunten Auges an der Schwelle stehenblieb . . .

– Willst du nicht zu uns kommen? fragte die Kaiserin.

Langsam näherten sich die kleinen Füße in den Brokatschuhen . . .

– Wer bist du? fragte eine klare, unbeirrbare Stimme . . .

– Ich bin Lothar Ingelheim, ein Freund deiner Mutter . . . Und wer bist du?

– Ich bin der König. Ich bin heute drei Jahre alt.

– Hast du die schönen Tauben gesehen, die dir Herr von Ingelheim aus Lothringen mitgebracht hat?

– Sie lachen immer.

– Willst du dich nicht für das Geschenk bedanken?

– Ich möchte auch zum Fenster hinausschauen . . . Lothar nahm ihn auf den Arm und trat an die Brüstung. 355

– Gefällt dir meine Stadt?

– Gewiß. Du hast die schönste Hauptstadt der Welt . . .

– Willst du mit mir ausreiten?

– Gerne.

– Ich muß vorn sitzen und du mußt mich halten.

– Wohin wollen wir reiten?

– An das Meer . . . Sage: bist du zu Schiff gekommen?

– Ja.

– War das Meer stürmisch? Als ich von Foligno kam, war es sehr stürmisch.

– Hast du dich gefürchtet?

– Nein.

– Geh zu Berengaria, Konstantin, und sage ihr, sie solle mir meine Tisane bringen. Später darfst du wieder bei uns bleiben. Dann werden wir dir die Geschichte vom Feuerpferde Turribu erzählen . . .

Lothar setzte das Kind zur Erde nieder. Es blieb einen Augenblick lang unschlüssig stehen, sah sich Lothar noch einmal genau an und ging dann, ohne den Schritt zu beschleunigen, in das Vorzimmer hinaus. Die Kaiserin schlug die Hände vor das Gesicht:

– Ich darf nicht sterben, Lothar, ich darf nicht! Beten Sie Tag und Nacht zu Gott, daß er mich leben lasse!

 


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