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. Neza hatte gekündigt. Sie diente bloß mehr ihre letzten vierzehn Tage bis in den August hinein ab. Es waren die Tage um Sankt Laurentii Tränen, und zur Nacht war es in den Weingärten so warm, daß man bei Vollrats Windlicht im Freien sitzen konnte. Ganz nahe war der Himmel, überlaut priesen ihn die Zikaden, die Grillen und die wundersam singenden Weinhähnchen, während feurige Striche hier und am Firmament sich kreuzten, besonders in der nördlichen Himmelshälfte. Theo und Tilla zählten sie. Denn wer sechzig Sternschnuppen in einer Nacht erlebte, der kann bald heiraten. Es waren schon weit über sechzig, als Solvanus, der bei einer Flasche Wein sein Pfeifchen ausgehen ließ, die beiden bat, nun endlich aufzuhören und ihnen von Theos Funde, dem großen Urzeitkarpfen, zu erzählen, der, zwischen Korallen eingebacken, gefunden worden war. »Es ist da herum eine geologisch merkwürdige Gegend«, sagte er. »Wir haben hier Steinkohlenzeit- und Triasfunde, und knapp daneben tritt noch die Devonperiode zutage. Diese beiden Zeiten sind aber reich an Übergangsformen, und das Darwinsche Institut in London hat mich, eben wegen der interessanten Nähe zweier, durch ungeheure Zeitabstände getrennter Erdbildungen, die sich hier zusammenschieben, gebeten, nachzuforschen, ob nicht so was wie ein Archäopteryx oder ein anderes Übergangstier ruchbar würde, das die große Kette der Übergangsformen weiter zu festigen und zu schließen berufen wäre.«

»Wir gehen dann mitsammen hinunter,« sagte Mappe, »da kann dir Theo den Kerl zeigen. Er ist sehr gut erhalten, und seine hahnenkammförmigen Zähne – –«

»Was?« schrie Solvanus und sprang trotz seiner Beleibtheit und Behaglichkeit empor, wobei ihm das Pfeifchen entfiel, das er nun mit bebenden Händen suchte. »Was sagst du?« kam seine Stimme ziemlich schnaufend unter dem Tische empor: »Hahnenkammförmige Zähne?«

»Gewiß«, erwiderte Theo, während der Apotheker geruhsam seinen Wein am Munde hatte und erst austrinken wollte, bis auch er antwortete. »Diese Zähne sind mir gleich aufgefallen.«

»Aber das ist ja – das wäre ja … Nein, nein, Kinder, ich will nicht voreilig schwätzen. Ich will keine leeren Hoffnungen erwecken, ich will bloß eiligst hinunter, und ich sage euch, daß ich augenblicklich den Fisch sehen muß.«

»Mein lieber Mahatma, der Fisch schwimmt dir nicht fort. Nicht einmal die Quenzlerin hat ihm was anhaben gekonnt, obwohl sie ihn augenscheinlich im Mörser zerstoßen wollte. Wir werden uns da nicht mitten in der schönsten Nacht des Jahres – ihr wißt doch, daß der Abend auf den neunten August genau in der Mitte des Sommers steht –, wir werden uns doch wegen deiner paläozoischen Flausen nicht dieses wunderbare Stück Lebenshöhe versteinern lassen! Um so mehr als der Pfarrer von Großglavina noch ausständig ist. Frau Professor (er nannte Vollrats treue Lebensgefährtin niemals anders, und Vollrat nickte längst nur mehr gutmütig schmunzelnd zu diesem Titel), unser Wein ist ausgetrunken, und immer noch fallen die goldenen Sterne kreuz und quer! Ah, da!«

Es waren wirklich zwei feuerwerksprächtige Doppelmeteore, die sich da am violdunklen Himmel kreuzten, um, je zwei und zwei, gegen das Sternbild der Wage zu schwärmen, einen Lichtschweif hinter sich, um dort irgendeines Brautbetts schwarzblaue Vorhänge hinter sich zu schließen.

Die hübsche, kleine Hausfrau brachte den Wein, aber Solvanus nahm bloß einen Kräftigungsschluck und setzte sich nicht wieder.

»Gib mir den Hausschlüssel, Mappe«, sagte er, der, aus seiner unerschütterlichen philosophischen Ruhe gebracht, zum ersten Male in seinem Leben vielleicht, aufgeregt aussah. »Gib mir den Hausschlüssel! Im Mörser steht euer Karpfen, Ihr Karpfen? Dann find' ich ihn schon. Wenn ihn nicht inzwischen die Barbara Quenzlerin zerpulvert hat. Oder Neza ihn in Stücke gehauen. Wenn die wüßte, was lepidosiren paradoxa bedeutet! Wenn die ahnte, was Protopteros heißt! Wenn die eine Ahnung bloß vom australischen Ceratodus hätte, sie stähle ihn mit der ganzen Fertigkeit ihres Entwendenvolkes! Oh, ich muß hinunter!«

»Der ist übergeschnappt«, sagte Onkel Mappe, als Solvanus ihm den Hausschlüssel aus der Hand gerissen hatte und schnaufend zu Tal gestolpert war. Man rief ihm nach: »Eine Laterne, eine Laterne!« Er antwortete nicht; bloß zweimal hinfallen, fluchen, aufrappeln hörte man ihn, dann ein Steindeln von Gerölle, das er immer wieder loslöste, dann noch einmal ein letztes Schnaufen wie von einer großen Robbe. Dann lag der stille See der Sternennacht wieder um sie und über ihnen, und die Feuerfliegen des heiligen Laurentius schwärmten unter seinem unermeßlichen Schwarz.

»So hab' ich ihn nie gesehen«, sagte Onkel Mappe staunend und vergaß sein Weinglas zu leeren. Er stellte es wieder voll hin, wie es war, und wiederholte: »So hab' ich ihn niemals gesehen! – Als Hochtourist beim Schneesturm, bei verlorenem Wege, mitten im undurchsichtigsten weißen Todesschleier, für jedes menschliche Ermessen völlig verloren und als tot erklärbar, habe ich ihn seine erhabene Stoa niemals verlieren gesehen. Und jetzt, mein Gott: Was wird aus dem größten Mann, liebe Freunde, wenn er ein Steckenpferd zu reiten beginnt?«

»Wenn er mit dem Fisch zurückkommt und er ihm gefällt, da hab' ich ja die Freude erlebt, ihm endlich, endlich was schenken zu können! Ich bin ein so armer Teufel,« fuhr Theo fort, »daß ich nicht einmal ein Herz mehr zu verschenken habe; und sonst kaum eine alte Hose. Solch einem Manne einen glücklichen Augenblick bereiten zu dürfen, das – das hätte ich ja niemals erwartet.«

Der Jubel in seiner Stimme war so groß und kindlich, daß Tilla dem guten Jungen still und fest die Hand drückte.

»Es ist mir im Grunde nicht unangenehm, daß der Mahatma hinuntergelaufen ist«, sagte Apotheker Mappe. »Zum ersten Male, seit ich sie halte, steht die ›Blaue Gans‹ ohne richtigen Nachtdienst da. Doktor Vogl hat mir ja versprochen, daß Neza, sobald sie ihn weckt, ihm gleich die Schlüssel übergibt; er will alles richten, und er hat ja zuerst auf den Pharmazeuten studiert, bis sein Erbteil durch die Inflation zunichte geworden war und damit seine Hoffnung auf eine eigene Apotheke … Ruhig, Theo; du wirst mir einmal vor verhaltenen Seufzern zerspringen, wie die Ophelia von Hamlet befürchtet. Ihr werdet schon noch irgendwie zur Krippe kommen, Kinder. Ja, was ich sagen wollte: Es ist zum ersten Male, daß die Apotheke leer steht. Und wenn das verrückte und abergläubische Sabbatshexel, die Neza, sich wieder einmal die Quenzlerin einbildet, dann wird sie wahnsinnig – das könnt ihr mir glauben!«

»Es ist wahr«, sagte Theo erschrocken und wollte sich erheben. »Sie könnte weiß Gott was in ihrer entsetzlichen Angst anstellen. Geister fürchtet sie, wie kein Mensch, den ich im Weltkriege gesehen habe, jemals seinen Tod an den Fingern vorauszählen konnte, wenn sich eine Mine einbohrte. Und man wußte dicht daneben ganz genau, wann sie sprang! Ich muß hinunter!«

»Bleiben Sie, Theo. Sooft ich die Apotheke leer stehenlasse, was ja noch niemals auf mehr als Minuten zur Nacht geschehen ist, bis auf heute, sooft lege ich ein Stück grauen Ambra in den Mörser. Das hat sich irgendwie als Sühneopfer bewährt, mit dem die Quenzlerin gnädig zu stimmen ist. Einmal ist Feuer ausgebrochen in der Nachbarschaft. Der Funkenflug stob im Winde genau gegen den Schuppen zu, der jetzt feuerfest gedeckt ist, damals aber morsche Schindeln hatte. Es fing richtig.

Die Flämmchen zappelten empor, und ich hab' damals vermeint, jetzt ist Schuppen und Hinterhaus und ›Blaue Gans‹ dazu verloren. Denn der Wind stand genau aufs alte Hauptgebäude. Da schrillt mitten in der Nacht ein Segler. In die Flammen hinein fliegt und schreit er. Alles hat geglaubt, ein Schwalbennest verbrenne dort. Aber es waren nur Haus- und Rauchschwalben da, die Segler leben doch im Turmgemäuer. ›Dschriii, dschriii!‹ Und das Feuer duckt sich, wird wie vom Winde ausgeblasen, und als wir herbeirennen und retten wollen, riecht alles im Schuppen – nach Ambra.

Das Stück grauer Ambra im Mörser aber – das war fort …

Darum glaube ich, daß die Apotheke behütet ist«, fuhr Onkel Mappe fort, als die vier andern nicht redeten, um nicht irgendwie zu widersprechen in einem Ding, das mindestens eines ist: poetisch. Onkel Mappe merkte die Reserve der klugen Gehirne und sagte nach einigem Pfeifengepaffe:

»Wenn euer einer in einem Arbeiterviertel aufgewachsen wäre, die Geschwister skrofulös, die Eltern sorgenvoll, hoffnungslos arm, bleichwangig, einem elenden frühen Ende verfallen und er hätte ein heißes Herz – was würde er werden? Kommunist. Sozialist. Und er wäre eine Aristokratennatur. Er hat die andern in sich aufgenommen, hat das Gift der andern, hat in sich das bittere Gift des Mitleids und der Liebesqual, die zu hassen beginnt. Ich für mein Teil, ihr Freunde, ich lebe hier mit germanisierten Südslawen, denen der Hagelschauer in einem Tage das ganze Leben vernichten kann. Die sehen hinter die Dinge, und sie wissen von gräßlichen, ehedem gekannten, jetzt geleugneten Kräften und Wellenmöglichkeiten, die sich insbesondere aus gemeinsamen Phantasieströmen, aus gemeinsamen Angstzuständen, aus gemeinsamen Willensströmen durchaus positiv und real zu ballen vermögen. Ich habe mich in das einfühlen gelernt. So nüchtern ich bin. Der Pfarrer auch. Ich wähle dort sozialdemokratisch, wo ich Not und Druck mit leide. Ich empfinde uralt, thessalisch, wenn ihr wollt, in diesem Lande, das als letzte Grenze deutscher Zunge gegen den Orient zu dasselbe bedeutet in seiner aussterbenden Mentalität, was ehedem das alte Thessalien mit seinen Hexen und seinen Geheimkräften dem snobistisch-realen Römer bedeutete. Ich weiß, daß ein ›Geist im Grunde der Herren eigener Geist‹ ist. Das ist aber keine Ironie. Das ist Erkenntnis des Ungeheuren, welches weiterleben wird, wenn wir, Zusammengemengsel aus zwei verliebten, aufgeregten Zusammengemengseln, die sich Menschen wähnten, aufgegangen sind und zurückgegeben sind in die schuldlose, sündenunbewußte Reinheit der Elemente, denen wir durch ein reines und heileres Dasein, ohne Schuld und Qual an anderen, ihr zitterndes Lodern geläutert zurückzugeben haben. Der Gott will sich in uns erlösen. Ich sehe, ihr verbergt ein Lächeln.«

»Sie reden wie ein Gott«, sagte Theo.

»Weiter, nur weiter, ich verstehe Sie!« rief Tilla.

Des Professors Gefährtin traute dem verschlossen bleibenden Antlitz ihres Herrn nicht; sie sagte gar nichts, und sie war auch solcher Visionen ungewohnt.

Vollrat also blieb allein unbewegt. »Ich habe soviel zu tun, mit dem, was sich ergründen läßt, daß ich das Unergründliche andern überlasse«, sagte er nüchtern. »Aber ich sehe, daß man auch darin glücklich sein kann: Nur weiter, Mappe.«

»Weiter, Mappe, weiter?« ereiferte sich der Apotheker. »Bist du so erinnerungsschwach, daß du nicht mehr an meinen Ausgangspunkt zurückkannst? Ich hab' gesagt: Unter Sozialisten aus Not würde ich Sozialist. Unter Ahnenden von heute sogenannten unentdeckten Geheimschwingungen würde ich Geisterbanner, wie man das sehr dumm benennt. Was einer glaubt, glauben muß oder gar glauben will, das ist unbedingtes Leben. Ist wirklich da, und ist um so mehr da, je mehr dran glauben. Das sagt sogar der Funke einer Leidener Flasche; was, Vollrat?«

»Ja, ja«, tat Vollrat etwas gelangweilt. »Warum ist unser Pfarrer aber noch nicht da? Der würde vielleicht zum Verständnis deiner etwas wirren Theorien aus dem reichen Hexenarchiv seine Studien beitragen können.«

»Ja« – unterbrach Onkel Mappe erschrocken seine eigenen, vom Weine ein wenig befeuerten Kühnheiten. »Warum ist der Pfarrer noch nicht da? Es wird ihm doch nichts geschehen sein? Jetzt ist Solvanus schon eine Stunde fort. Auch er müßte bald zurück sein.«

»Warten wir's ab, wie Solvanus es abwarten würde«, sagte Vollrat ruhig wie immer. Und er versank in orientalisches Aufgehen im Tabak, ein wenig sparsamen Weingenuß, Laute der Nacht, Aufträumen ferner Windklappermühlen, Ziepen der Weinhähnchen und Sternenaufzucken.

Immer noch stoben die leuchtenden Kometenkleinträume unter der dämmernden und sehr nahen Milchstraße, unter dem blauschwarzen Samt der rätselhaften Himmelsunendlichkeit dahin, die bei Nacht so weit ist wie das Genie, bei Tag so enge wie ein lustiger Hohlkopf.

Die Sterne fielen, unersättlich sterbesüchtig, weiter. Tropften, schweiften, blitzten auch wohl nur ein wenig auf und versteckten sich dann. Sogar Vollrat zog den Rauch seiner virginischen Zigarre behutsamer ein und ergab sich dem Zauber der seltsamen Nacht.

Dann kam der Pfarrer. Er war zu einem Sträfling aus seiner Gemeinde gerufen worden, der sich sterbend wähnte und noch schnell einen hochsommerlich heißen eingeschmuggelten Trunk getan hatte. Ein halb Dutzend Seidel Weines. Da hatte der Pfarrer die Hostie, die er sich vom Seelsorger aus der Stadtpfarre erbeten hatte, in eine Kapsel getan. Vor der Frau des Säufers, die den Sträfling besuchte. Und er hatte gesagt: »Ehe der nächste Morgen da ist, wird er innerlich sauber sein und ausgeleert, um den Leib des Herrn würdiger zu empfangen als jetzt. Schämen Sie sich, daß Sie mich zu einem angequollenen Trinker rufen haben lassen. Den Leib des Herrn heb' ich auf – bis er ihn morgen nötig hat.«

Solch ein Wort aus dem Munde des als jenseitig verschrienen und auf das Volk geheimnisvoll wirkenden geistlichen Herrn erschreckte die Frau durchaus nicht. Sie wünschte den Tod des Säufers. Der aber, dem der Pfarrer nach Prüfung des Herzschlages und Erkenntnis seines Zustandes vorderhand die Lossprechung verweigerte, vernahm und verstand ohnedies nichts.

»Ich muß bei euch übernachten, da drunten in Lindenau«, sagte der geistliche Herr. »Ich habe dort einem Volltrunkenen die letzten Mittel zur Buße verweigert, und ich habe die Pflicht, sie ihm zu geben, wenn er morgen noch einmal zu Bewußtsein kommen sollte. Er wird's auch, aber dann hat er wenig Zeit mehr …«

Zerstreut hörte der Geistliche allerlei Berichte mit an, sogar den von der eiligen Flucht des Solvanus, talwärts zu, nach dem Städtchen und nach der Offizin zur blauen Gans, um – mitten in der Nacht – einen versteinerten Fisch heraufzuholen! »Verrückter Kauz!«

Die Sterne fielen spärlicher, spärlicher wurde das Gespräch der Gäste, und der Pfarrherr von Großglavina schien darüber nachzudenken, ob er recht getan hätte, dem Übelbefundenen Christi Leib und Liebe zu verweigern. Ein wenig krampfhaft hielt er die kleine Metallkapsel an sein Herz, in der, statt in einem Ziborium, in der Eile der Gral der Menschheit verwahrt werden mußte.

Das Klettern, Stolpern und Schnaufen eines tüchtigen Urtieres, hinter dem kleine Schotterlawinen zu Tal rollten, unterbrach die Stille der werdenden Rebenreife, die dort unten schon um den neunten August süße, frühblaue Trauben hat.

»Mahatma?«

»Jawohl, und diesmal beglaubigt«, kam die schwer schnaubende Stimme des gewaltigen Dickkopfes aus der Waldnachttiefe heraus.

Dann war er nach vielen Kletterversuchen selber heroben.

»Kinder, ein Glas Wein. Ich brauch's als Herzstärkung, schnell!«

»Aber du bist ja ganz zyanotisch«, warnte Vollrat. Wirklich, der Gelehrte und Weise war blau im Antlitz, seine Lippen waren weiß und zitterten wie bei einem Menschen, der einen ungeheuerlichen Nervenschock erlitten hatte.

»Her; gebt her, ich weiß, was ich weiß!« Und er nahm und trank. Dann holte er tief Atem, sah sich alle im Kreise an, reichte dem Pfarrer die Hand, schnaufte noch einmal, und abermals, gewaltig und schwer.

»Es ist also – –« und wieder verlor er den Atem, und wieder trank er.

»Was Schreckliches?« fragte Mappe eilig.

Mitten im Trinken winkte Solvanus mit der ausgebreiteten Hand in wiegendem Hinundherfächern, beruhigend, beinahe lustig, ab.

Jetzt erst setzten sie sich; denn alle waren aufgesprungen.

»Die Sache ist die«, sagte Solvanus … Und er stockte.

»Aber du weinst ja!« schrie Mappe entsetzt, und sogar der Pfarrherr und Vollrat standen abermals auf und traten besorgt näher, während Tilla und Theo den wuchtigen Großkopf der Wissenschaft hinter seinen sonst beruhigend breiten Schultern stützten.

»Du weinst ja«, sagte Mappe noch einmal leise.

Solvanus sah umher … »Ja«, sagte er. »Aber vor Freude.«

»Red', rede, es erstickt dich ja«, mahnte der Pfarrer freundlich.

»Nur schnell so viel«, sagte Solvanus und schnaufte wieder. »Theo, Tilla. Gebt euch die Hände. Hochwürdiger Herr, nehmt sie beide. Die Apotheke zur blauen Gans ist ausbezahlt.«

»Dummer Kerl«, rief Onkel Mappe ärgerlich.

»Die Apotheke zur blauen Gans ist dir, auf mein ehrliches Wort, voll ausbezahlt durch diesen blonden, germanischen Schöps oder Widder, der jetzt da so urblöde steht, weil er nichts studiert hat als Pharmakopöe. Und nicht ahnt, was ein leibhaftiger Urzeitbruder des Ceratodus Forsteri, bei den Australnegern Dschilli oder Djelli genannt, wert sein kann, wenn er in Europa ebenfalls gefunden worden sein sollte. Woran bei der Ähnlichkeit mit dem Burnettlachs kein Zweifel besteht.«

»Aber was sind denn Dschilli und Burnettlachs?« rief Onkel Mappe, dem das Wort von der Ausbezahlung seiner Apotheke auf die Nerven ging, ein wenig stark geärgert.

»Übergangsformen, die man im Darwinschen Institut jahrzehntelang vergeblich gesucht. Molchfische, Lurchfische, wenn ihr wollt; denn das wird erst die genaue Untersuchung dieses göttlichen Exemplars hier lehren, mit seinen, wie ihr richtig sagtet, hahnenkammförmigen Zähnen; das – –«

»Aber was hat das mit der Apotheke zu tun?« schrie Mappe aufgeregt.

»Unterbrich mich nicht. Ich sagte also: das wird erst die genauere Untersuchung dieses göttlichen Exemplars lehren, das –«

»Herrgott, erschlägt ihn denn niemand? Theo, tritt ihn tot!«

»Das,« fuhr Solvanus trotz Mappes Verzweiflungsausbruch fort, »das mir von London aus um mindestens sechstausend Pfund abgekauft werden wird. Denn soviel beträgt die Prämie allein.«

Alle setzten sich nieder. Allen war der Respekt in die Beine gefahren, sogar dem geistlichen Herrn.

»Herr Professor, wenn das wahr wäre, ich glaube, ich falle ohnmächtig unter den Tisch … Aber wenn es ein Irrtum wäre – er täte gar zu weh«, sagte Theo nach einer langen Pause, während der er gewaltig nach Luft gerungen hatte.

»Ich bürge mit meiner Wissenschaft und meinem Vermögen«, sagte Solvanus. »Und jetzt kann ich mir's wieder schmecken lassen. Ein Glas vom Allerbesten, Vollrat; steig' nur selber in den Keller, tauch' unter! Geschwind!«

»Wenn das wahr sein sollte,« sagte Vollrat, »dann muß der Pfarrer zwei Paar Menschen zusammengeben …« Und er eilte fort, so schnell er konnte, weil seine kleine Frau vor Freude zu weinen begann.

Solvanus beruhigte alle mit einem unendlich langweiligen wissenschaftlichen Bericht über die annektierenden Lurch- und Molchfischarten, der von keiner noch so gelehrten Gesellschaft anders als schlafend angehört worden wäre. Der hier aber aufregender wirkte als die grausigste Gespenstergeschichte.

Als Vollrat wiederkam mit Flaschen, die staubig waren, als wären sie aus dem unterirdischen Gange neben dem Silberschatz der Pollheimer weggenommen worden, blieb sogar er stehen und lauschte der Auseinandersetzung des Mahatma, der völlig klar vor sich das Korallenmeer sah und es schilderte; das flach gewordene mit seinen Tümpeln, daneben den Farnwald, die aalförmig gewordenen oder mit gewaltigen Stützflossen versehenen landwandernden Fische, die –

»Prost«, sagte endlich Vollrat. »Das, Kinder, ist mein bester Wein, den ich nicht einmal preisgegeben habe, als ich meine große Genugtuung erlebte. Auf Gesundheit und ein gütiges Herz, Herr Pfarrer.« Vollrat wischte sich, vielleicht zum ersten Male seit seinen Kinderjahren, die Augen und entschuldigte sich: »Ich bin heute in einer Art infantiler Stimmung. Also: Wenn Sie uns ein wenig segnen wollten – –«

Der alte Herr legte ihnen, beiden Paaren, nur nach altapostolischer Weise schlicht und ohne Worte die Hände auf die Stirn. Nicht nur der katholische Priester, der rein gebliebene alte Mann segnete, der gute Mensch.


Der Pfarrer von Großglavina hatte bei Mappe übernachten gemußt, um ganz früh am Morgen dem kranken Trinker das Sakrament zu reichen. Da ihm hinterbracht wurde, der schliefe noch, und der Arzt meinte, das Herz würde wohl noch einen Tag lang zu arbeiten vermögen, blieb der geistliche Herr gern zum Frühstück, das die sehr verweinte Neza bereitet hatte und auftrug. Irgendwas ahnte sie. Die stille Heiterkeit der spät heimgekehrten Gesellschaft gestern, die zu Hause noch zwei halblaute Trinksprüche ausbrachte, ängstigte sie sehr. Auch daß der geistliche Herr eine ihr bekannte Kapsel mit dem Allerheiligsten unter das Hauskruzifix gelegt hatte, machte ihr bange.

Nun stand der Frühstückstisch wunderbar gedeckt, wie die Jahreszeit dieses früchtereichen Landes ihn zu geben pflegt. Landmädchenfarbene Aprikosen, beryllgrüne und chrysolithfarbene Reineclauden, kardinalsrote Mirabellen. Die ersten frühblauen Trauben! Die ersten Wespen darum und darüber summend; schlank, gelb und schwarz, nervös, sehr schön. Draußen die Segelschwalben in der pastellblassen Schönwetterluft, das Klappern der Windräder tief und langsam, hoch und schnell von den Weinbergen ins Städtchen herunter.

Sogar das Gerichtsgebäude hatte solch ein Windrad; die Sträflinge hatten es sich zu Ergötzung, Zeitvertreib und Heimweh hingestellt, und niemand störte sie in ihrem Landesbrauch.

Die gute Stube war tiefkühl; es war wie auf dem Grunde des Rheins. So grün, so halbhell; so wellig gingen die Vorhänge auf und nieder, durch deren Spalten Blitzlichter durch den schattigen Raum streiften und das alte Zinn aufleuchten ließen, in dem auf Schüsseln und Tellern jenes herrliche Obst lag, das der Pfarrer so gern aß. Im Umkreis seiner Gemeinde, dort, wo die uralte norische Herzogsburg gestanden hatte, gedieh solch feines Tafelgericht nie. Zu rauh wehte der Bergwind von der Urwaldgrenze herunter, und die Lage seines unendlich stillen und entlegenen Dorfes war zu hoch.

Er saß am blau gedeckten Tisch und sah sich die Gottesgaben lange und zärtlich an, ehe er zuzugreifen das Herz hatte. Vergebens mahnte Onkel Mappe auch die anderen zum Zulangen. Neza brachte aber Wein, Neza brachte sodann schäumendes Bier, das frisch angezapft worden war, aus dem Gasthause. Der Pfarrherr sah immer noch liebevoll die Sommerfrüchte an, völlig in Jugenderinnerungen versunken. Diese Zinnschüsseln, ganz so wie damals, als er vor der Wahl gestanden, heiß ins pralle Leben zu beißen und das frische Fleisch zu packen, wie es jetzt neben ihm heiß und erregt duftete, wenn Neza herzukam. – Oder zu entsagen und nichts anderes mehr zu leben als Güte. Als Liebe und Opfer.

Nur die Natur war ihm geblieben. Das Leben der Spatzen im Februar vor seinen Fenstern, das Aufträumen des Wälderrauschens, dieses hochsommerliche erste Obst in ganz denselben Zinnschüsseln, in denen es so schön liegt wie in keiner noch so bunten Keramik, die Trauben des Oktobers, der feingetönte Novemberwald, der vielleicht am schönsten ist, wie er und Theo ihn sahen, das Heulen und Pereatpfeifen des Nordwestes, der das späte Jahr zerriß, und dann weißstilles Berg- und Waldweihnachten …

»Greif zu, greif zu, Pfarrer«, sagte Mappe.

»Wo ist denn das junge Paar?« fragte der geistliche Herr, und Neza mußte die beiden mahnen. Die standen am Fenster, hörten dem Aufspringen des Windes in den Windrädern und dem Schrillen der Segelschwalben zu, die schon wieder sehnlich geworden waren nach Südlandsfahrt. Neza mußte erleben, daß die beiden dort einander umfaßt hielten wie zwei Leute, bei denen alles in Ordnung ist. Auch die Aussteuer?

Endlich kam auch Mahatma Allius Peter Solvanus schnaufend. Er war trotz des heißen Südwindmorgens, der die Trauben sott, auf der Post gewesen und hatte mehrere eingeschriebene Telegramme und Briefe versendet. Nach London an die Harvard-Universität und an das Darwinsche Institut. In aller Frühe hatte er den Ceratodus Solvani (wie er dort draußen bestimmt genannt wurde, obwohl er Theophrasti vorschlug) photographiert, hatte die Platten mit Weingeist getrocknet, kopiert, alles begünstigt durch die reich dotierte Apotheke, die jedes Mittel zur Verstärkung und Abschwächung enthielt, und die prächtigen Bilder des europäischen Dschilli oder Burnettlachses aus der Höhe von Liebfrauenberg befanden sich nun auf dem Wege mitten ins Entzücken der Forscher hinein, welche bisher solche Urmolchfische nur aus Zahnresten kannten.

Jetzt trug Solvanus den Bringer des Glückes, den Kaufpreis für die altertümliche Apotheke zur blauen Gans, mitten auf den Tisch, stützte ihn dort wie ein Prunkgericht auf silbernem Oval, bekränzte ihn und sagte:

»Ehe wir ihn wegsenden, damit die versprochenen sechstausend Pfund unsere Leutchen hier glücklich machen. – Neza, was haben Sie?«

Neza rannte hinaus.

»Ehe wir unsern Freudebringer aus Urzeiten hier fortlassen, muß er unbedingt in einer Galvanokopie aus Bronze verewigt werden. Die kommt als heiliges Wahrzeichen des Hauses zur Drachenrippe und dem Krokodil, wo ihn ehrfürchtig und gerührt die Ur-ur-urenkel dieser beiden, zur Fortpflanzung höchst geeigneten beiden Exemplare hier anstaunen und verehren mögen.«

»Er wird grün patiniert werden wie eine Antike«, sagte Onkel Mappe. »Sehr schön wird er dort oben hängen. Schade, daß wir das Original nicht behalten.«

»Den Silberschatz der Pollheimer hätten wir vielleicht noch schwereren Herzens weggegeben. Hochwürden, werden Sie uns in der Liebfrauenkirche trauen?«

Neza war wieder hereingekommen und mußte auch das noch hören.

»Ja, meine Kinder«, sagte er und zerbrach endlich langsam und andächtig die Reineclaude, deren honiggelbes Fleisch dicken Zuckersaft auf den Teller tröpfelte. »Ich sehe euch schon hinter Vollrat, der zum ersten Male seit einem Halbjahrhundert in eine Kirche geht, und seiner treuen Liebsten herschreiten. Ein siegesfroher Blick nach dem Grabmal des alten Herrn von Pollheim, der im Sterbejahr des Doktor Johannes Faust – was? Aber, Freunde und Kinder. Jetzt muß ich zu meinem Kranken, dessen letztes Stündlein nahe ist.«

Er erhob sich, nahm die Kapsel, in der statt in einem Ziborium das Allerheiligste lag und trat ans Fenster.

»Was riecht hier so gut«, fragte er. »Ach ja, du hast Ambra geräuchert, alter Freund. Zu solch einem Festtage: den alten Weihrauch und das Geheimgebet der ›Blauen Gans‹ … Wie die Segler schreien!«

Neza fühlte ihr Herz schwer. Diese Zauberer da mitsammen, sie hatten aus Steinen Gold zu machen gewußt! Dieser Fisch, dieser unheimliche Fisch! Diese grauenhaft stille uralte Apotheke. Nein, sie gehörte nicht hierher, wenn auch eine unheimliche grausige Neugierde sie immer wieder anzog. Jetzt hatte der Pfarrer die Hostie bei sich. Wenn sie dem jetzt auf den rechten Fuß träte? –

Sie begann langsam von einem Fenster zum andern die Bänke abzuwischen und kam so auch zum Pfarrer: »Bleiben Sie ruhig stehen, Hochwürden«, sagte sie und zwängte sich nahe an den geistlichen Herrn, der in seiner Ergriffenheit gar nicht merkte, daß sie hier abstaubte. Und auch nicht, daß sie leise ihre Schuhspitze auf seinen rechten Fuß setzte.

Auf einmal aber schrie sie: »Jeziz, Marja und Josip!«

»Was ist? Was ist?« fragten alle durcheinander, und der Pfarrer hielt sie so fest, daß sie ihren Fuß nicht von dem seinen wegbrachte.

»Die Quenzlerin Barbara mit der verschollenen Haube! Herr Pfarrer, Herr Pfarrer, sie kommt auf uns zu!«

»Wir sehen nichts«, staunte Theo, rief Onkel Mappe. Unbeweglich stand der Pfarrer. »Rührt euch niemand«, sagte er.

In diesem Augenblick durchschoß eine Segelschwalbe das Zimmer. Niemand hatte sie beim Fenster hereinkommen gesehen.

»Die Quenzlerin fliegt! Sie fliegt!« schrie Neza neuerdings.

Kreischend fuhr die Segelschwalbe zum Fenster hinaus in die matt pastellblaue Sommersehnsuchtsluft. »Dschriii, dschriii«, klang ihr Kreischen. Und es widerhallte das zwanzigfache Geschrei der andern Segler.

Tiefe Stille in der brunnenkühlen Stube.

»Fort ist sie«, sagte Neza aufatmend; und sie ging bebend an allen Gliedern in die Stube zurück.

»Bleib, Neza«, sagte der Pfarrer. Dann trat er an den Tisch und goß sich das erste Glas Wein voll.

»Hier ist etwas geschehen, was nur Grenzländer an der Schwelle Asiens mehr erleben dürfen. Unverbrauchtes Leben kann nicht sterben. Weder Liebe noch Haß; solch Leben, das ist wie in einer Konservenbüchse – um völlig vulgär zu reden. In diesem Hause ist niemals eine Untat geschehen. In diesem Hause regierten viel Hagestolze. Zuletzt unser guter lieber Mappe. Es ist merkwürdig, daß hier seit Jahrhunderten das Sakrament der Ehe fehlte, oder daß hier herein niemals andere Ehen geschlossen wurden als Vernunftehen. Es fehlte das Geheimnis der Poesie, die zum Leben gehört wie der Ambra, der ein Krankheitsstoff des Riesenfisches ist und dennoch der Wohlgerüche köstlichster.

Dieser merkwürdige Krankheitsstoff, er ist uns in der Liebe der Menschen gegeben, damit wir ihn Gott räuchern. Wie ein Geschwür sitzt die Erbsünde in uns; wir aber können sie in Weihrauch wandeln. Ich muß fort, meine alten und jungen Freunde. Gott behüte euch.«

Aber während der Pfarrer sich zum Gehen fertig machte, beendete der Kauz der Athene dessen Ideengang, dessen Schluß sich sonst der geistliche Herr vielleicht zur Traurede aufbewahrt hätte, in seiner drastischen Art.

»Man sagt dem Deutschen nach, er kenne bloß ein Zitat aus »Götz von Berlichingen«. Und dennoch gibt es dort ein köstlicheres, das kaum ein Deutscher kennt. Nachdem der Troßbub Georg gekreischt hat: ›Es lebe die Freiheit‹, sagte Götz in gerührter Ruhe:

›Es lebe die Treue.‹«

Da tranken alle ihre Gläser aus, die jungen Leute umfaßten einander und hatten nasse Augen, Onkel Mappe auch. Der Pfarrer aber ging ganz still hinaus zu seinem Sterbenden.

 


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