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. Wochenlang dauerte die Durchprüfung des Aktenmaterials, das nicht die geringste andere Schuld des damals jungen Dozenten ergab, als eine aus gutem Herzen und ehrlicher Überzeugung vom eigenen Können unternommene Durchbrechung der ungeschriebenen akademischen Disziplin, der Unterwerfung des Angehenden vor dem Anerkannten, des Jüngeren vor dem Älteren.

Eine Reihe wirklicher Tatsachen aber gegen Vollrat schienen die Briefe des unterdes verstorbenen Chirurgen zu enthalten. Der erste Brief schilderte Vollrats Widerspruch genau so, wie Vollrat selber und Seine Magnifizenz als Zeuge aussagten. Der zweite Brief aber berichtete von einem privaten Besuche Vollrats in der Wohnung des alten Herrn. Vollrat wollte sich Gewißheit verschaffen, daß ihm der Gelehrte nicht, als Vergeltung für seine Keckheit, Weg und Steg zur Professur versperre; denn als rachsüchtig war der öfter beredet worden. Damals benahm sich Vollrat trotzig. Er pochte auf sein Recht als Arzt und Mensch ebenso wie auf den Mißerfolg der chirurgischen Operation, welche den Polypen wohl entfernt, aber Stimmlosigkeit fürs Leben bei der armen alten Frau zurückgelassen hatte.

Von einer Drohung Vollrats aber stand hier noch kein Wort.

Nun kamen aber Zeugnisse, daß der alte Gelehrte an zunehmender Gehirnparalyse gelitten habe. Eine bei ihm nur langsam anschleichende Krankheit, der er erst später erlag. Diese Briefe zeigten, wie der bloße Vorwurf des jungen Arztes, hier wäre ein Kunstfehler geschehen, im erregten Hirn des alten Mannes immer mehr das Schreckbild der Drohung, zuletzt der Erpressung annahm. Vollrat wolle ihn der Öffentlichkeit als gewissenlosen Messerhelden hinstellen, solches vermeinte er zuletzt. Deutlich ging von Brief zu Brief erst die erregt gesehene, aber harmlos zu nennende Wirklichkeit, aus der sich bald eine Vergrößerung durch übertreibende Phantasie ergab. Dieses Zerrbild, aus Angst, üblem Gewissen, Zorn gegen den jugendlichen Revolutionär gemischt, vergrößerte sich abermals an der eigenen Einbildungskraft, ohne daß die beiden Männer, der berühmte Arrivierte und der jugendliche, einsame Selfmademan, auch nur ein einzig Mal einander wieder gesehen oder brieflich etwas mitgeteilt hätten! In diesem Zustande erst kam die Darstellung zu den alten Kollegen. Dann vor den akademischen Senat. Vor die Ärztekammer. Diese Stellen nun wollten allen Skandal verhindern und unternahmen es, Vollrat durch passiven Widerstand zu lähmen. So entstand aus Schuld einer bloßen Krankheit und aus dem ewigen Widerspruch zwischen der Angst des Alters vor der kraftvollen Jugend die unselige »Verleumdungskette«, von den um ihre Stellung besorgten alten Herren geglaubt, von den Jüngeren heimlich kritisiert. Da aber all diese um ihre eigene Laufbahn zu zittern hatten, griff niemand in Vollrats schleichendes Unheil ein. Es war eine Professur mehr zu erhoffen.

»Wenn die Menschen bloß etwas mehr Güte hätten«, sagte Onkel Mappe, als die ganze Angelegenheit, durchsichtig wie Kristall, vor den Augen der fünf Richter dalag. »Hier ist niemand wirklich schuldig, auch der alte Angstmeier nicht. Und dennoch sah es bei ihm wie teuflisch böser Wille aus. Wie raffinierte Rachsucht erscheint, was im Grunde bloß zerfaserte, zerrissene Nerven waren. Schreckzustände, die ebenso reale, ja viel fürchterlichere Gespenster zu erzeugen vermögen wie der positiv schaffende Aberglaube des antiquierten Grenzvolkes da unten. Unrecht hatten beide. Weder Vollrat noch der hochstehende Kollege aus ältern Tagen waren – gütig, Stahl und Stein waren sie; daraus kam alles Unheil.«

Vollrat wurde gerufen; es wurde ihm sein Freispruch verkündigt. Nicht der Schatten eines Makels blieb mehr auf dem gebeugten alten Manne.

»Das ist der schönste Tag meines Lebens«, sagte Vollrat mit leiser, fast erstickter Stimme.

 


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