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. Nun hatte Onkel Mappe einen aufgeweckten, aber sehr nervösen und phantastischen Jungen als Apothekersubjekt aufgenommen. Der war bloß in die alte Offizin eingetreten aus Habsucht. Er kannte die Nachricht, ein Gespenst bewache dort uralte Schätze; ja vielleicht sei durch dies der verrufene Silberschatz der Herren von Pollheim, mit dem im Jahre 1529 alle drei Töchter des Ritters im unterirdischen Gange spurlos verschollen wären, jetzt im Besitz des Magisters Eligius Mappe. Die Geschichte vom verlorenen Silberschatz gelegentlich des Türkeneinfalls und dem Verschwinden der drei Mädchen im eingestürzten Geheimgange war durch Chronik und ander Zeugnis beglaubigt. Das Hausgespenst der alten Offizin hatten dann und wann Angestellte gesehen. Da es aber harmlos sein sollte, so ließ es höchstens die in jener Gegend ohnemaßen abergläubischen Bauern niemals zur Ruhe kommen. Das kam der Offizin zugute, der geheime Kräfte zugeschrieben wurden. Gut bis hieher. Nun war aber der hysterische Junge da; Sohn einer hübschen Schlossermeisterin, die gar nicht grausam in der Liebe war. Weißgottwer mochte sein Vater gewesen sein; aber sein amtlich eingetragener Vater hatte ihn zu einem Gewerbe angehalten, an dem den Jungen, der viel ins Kino ging, bloß die Einbruchsmittel interessierten. Und mit allerlei phantastischen Gedanken, wie er in der Apotheke zu Schätzen und damit auch zu einem weiblichen Schatz gelangen könnte, trat der Junge, der vielleicht fünfzehn zählen mochte, als Subjekt in die verrufene »Blaue Gans« ein.

Da war ein sehr schönes, stilles Fräulein Provisorin. Sie redete wenig, bewegte sich wie eine Aristokratin, die im Grunde Tänzerin hätte werden können, unbeschreiblich elastisch und schön. Sie war tiefbräunlich, freundlich, schlank. Glühend liebte sie der phantastische Junge schon nach den ersten beiden Tagen seiner Praxis. Und beinahe ebenso glühend haßte er den Provisor. Der redete in der Offizin niemals ein Wort; also noch weniger als das heiter-freundliche Fräulein Tilla. Aber die beiden schienen was Geheimes miteinander zu haben. Zur Nacht lauerte der Junge immer vor Tillas Türe – aufgeregt, stundenlang voll heiß schwelender Phantasien. Aber niemals kam etwa Magister Theo aus ihrem Zimmer.

So verbrachte der überfrühe Hubert Tage voll wunderbarster Aufregung und Phantastik in der enorm schweigsamen, verbräunten Offizin bei Tiegeln und Geheimnissen, Giften, schmierigen Lausejungentrieben, alten Schatzsagen, ahnungsvoller Nähe von Geistern, die den Ort verrieten, Einbruchs- und Diebstahlsgedanken, verboten schwelender Gelüste voll. Wunderbare Zeit!

Schlüssellöcher! Ahnungslose, sehr schöne Tilla! Kerzenlicht.

Uralte Büchsen mit Inschriften, deren Sinn und Chemie kaum irgendwer noch verstand. Astrologische Zeichen und ein wirkliches Astrolab. Der Mörser von Anno 1618! Die Sagen, deren manche ihm durchtröpfelten. Bis auf Onkel Mappe waren hier Giftmordverdachte an der Tagesordnung gewesen. Kein einziger Apotheker aber war jemals überführt worden. Das Hausgespenst schützte Verbrechen. Vielleicht schützte es auch den kinotraumschweren Hubert.

Irgendwo das uralte Silber. Irgendwo ein orientalisches, sinnlich aufreizendes Parfüm; sperma ceti, gemischt mit Nelkenöl und Ambra. Die alte Fürstin von Quellsee, weit jenseits des dunklen Flusses im Osten, hatte damit eine Nichte gesalbt – Kaiserin war sie geworden, und unersättlich hatte ihr der junge Gemahl angehangen. Das Gemisch hatte Onkel Mappes Großvater erfunden, nach viel älterem Geheimrezept der Offizin zur blauen Gans.

Kaiserin war sie geworden. – Bloß aus einem Geheimdufte und dessen Kraft.

Mit diesem Rezept gehörten alle Mädchen vielleicht ihm. Mit dem Silber kann er ein großer Herr werden. Wer's nicht mit siebzehn ist? Was hätte das Leben in späteren Jahren noch für Hitze und Einbildungskraft!

Für ihn da war alles da, was diese kurzen Jahre der Phantasie erfüllen kann mit Wundern. Da war das Begehren, ja die Begierde. Zügellos, zusammengepreßt unter dem furchtbaren Drucke ruhelos durchwälzter Bubennächte. Drachenhaft groß geworden. Eine Drachenrippe, ein Lindwurm daneben, hingen in der Offizin. Alles gemacht, die Phantasie bis zur Kolportagehitze zu steigern.

Und dieser Provisor! Draußen in der Natur selig wie irgendein heiliger Franz, draußen im Wirtshaus trink- und sangesfroh wie irgendein Wiener vom neunzehnten Hieb. Draußen und mit andern gemütlich, beliebt. Draußen, mit Gelehrten: gesprächig, neu- und wißbegierig. Die alten Herren liebten ihn als ihrer Lebensaufgabe Weiterträger. Die jungen Mädel liebten ihn – ähnlicher Gefühle unbewußt. Besonders die stillen und braunen. Schön, groß, blond, blitzende Augen, große Frische des Wesens. So war Theo, der gehaßte Provisor neben Tilla. Und immer irgendeine Teufelei. Besonders das Hausgespenst ärgerte er immerzu. Stets legte er ein mikroskopisch kleines Körnchen Ambra in ihren nächtlichen Mörser und tat Katzendreck daran. Dann kam sie monatelang nicht wieder.

Dieses Hausgespenst jedoch, von dem alle schwiegen, brauchte Hubert.

Theo aber, der Apotheker, der eigentlich nach dem berühmten Bombastus Aureolus Paracelsus ab Hohenheim Theophrastus hieß, war in der Apotheke wie verwandelt. Hubert hatte aus der Vorkriegszeit erzählen gehört von österreichischen und noch mehr von preußischen Offizieren, die trennten Dienst und Privatleben wie Öl und Wasser. Emulsionen zwischen beiden oder Kolloide gab's nicht. (In der Apotheke wurden ja immer solch halbverständliche oder meist absolut verschollene Ausdrücke gebraucht, schon um seine Phantasie zu erregen oder ihn zu ärgern.) Theophrastus war Holzbock, Steinklotz, kärgster, sachlichster Amerikaner, wenn er nur die Offizin betrat. Ein Bannfluchkerl!

Wenn er ihm einmal was antun konnte, er, der nervöse, langhaarige, weißliche Junge mit dem weiblichen Wesen, solchem Menschen, der draußen ins Leben krachfrisch biß wie in eine Frühsemmel, dem Gelehrte, Philister und Mädchen zutraulich waren, der aber am einzigen Orte, wo Hubert ihm was abspitzen gekonnt hätte, basaltschwarz, undurchsichtig und kühl und hart war. Hubert war für ihn nicht da.

Der also haßte ihn. Immer lauerte Hubert die Nächte durch vor Tillas Türe. Der Verruchte kam niemals … und dennoch »besaß« er sie. An den Blicken sah man's.

Beide beschäftigten ihn. Die eine so sehr begehrt, der andere so sehr gehaßt. Und dazu die Offizin, voll von Schätzen an Geheimnis, Gift, Gespenst, uraltem Silber, Teppichen aus der Zeit Solimans des Zweiten, Zinn aus Leopoldi des Ersten Tagen und aus der gloriosen Prinz-Eugenszeit. Er erkannte oft die Formen im Film wieder.

Wunderbare Jugendtage, so voll von Phantasie und Verbrechen im feinsten, aber prachtvollsten Keime! Hubert lauerte und lauerte auf alles. Auf jedes Wort! Aber da kam nichts für ihn heraus. Man schwieg unheimlich viel in der Apotheke. Auf jede Bewegung, auf jedes Rezept. Er stahl alle alten Bücher, für eine Nacht, lag unter Tillas Türritz davor und las die Bücher so, weil Tilla spät schlafen ging. Aber Tilla selbst hörte er bloß memorieren, lernen. Verflucht!

Und wenn er auch Tillas halblaut wiedergesprochene Formeln aus dem Apothekerdienst wiedererkennen mußte – die alten Bücher halfen ihm nichts: die verstand er ganz und gar nicht. Als er endlich an die Quadernarien der Prophezeiungen des Nostradamus kam, da langweilten sie ihn, und er war einmal so müde, daß Tilla den Eingeschlafenen morgens früh mit der Türe wegstoßen mußte. Von da ab brannte sie entweder kein Licht mehr, oder sie legte unten eine Decke vor die Ritze. Löcher, die der verstohlene Bube zu bohren versuchte, stopfte sie täglich zu und erzählte davon Onkel Mappe und Theo.

Theo sah, das hörend, bloß einmal zum Jungen hinüber. Dem lief vor diesem Blick ein Haß und ein Grauen eisenschmelzheiß und todeskalt über den Rücken.

Der Mahatma, der aussah wie der weiße Steinkauz der Pallas, war an diesem Abend auch da; da es Sonntag und Kirmestag in Liebfrauenberg gewesen war, Zeit des Auszuges der Segelschwalben, war auch der Pfarrer herzugekommen. Man hatte dem Buben eine gute Stunde verschaffen gewollt; am Tische sitzen hatte er gedurft. Bloß Tilla hatte die ihm gewidmete Gastfreundschaft unterbrochen durch die Bemerkung über das ungesunde Tun des, der die Gastfreundschaft mißbrauchte.

Theos Blick schien in diesem Hause entsetzliche Kräfte zu entfesseln. Am selben Tage noch geschah es, daß ein schrecklicher Todesriß wie zerschellend Festglasgeschirr durch das alte Haus schrillte.


Huberts begonnener Roman zersprang vor Spannung zu frühe. Das kam so.

»Mir ist dieses Hausgespenst zuwider«, sagte Theo bei der sonst hübschen und heitern kleinen Abendtafel. »Es kommt mir vor, als wäre sie heute mittags, ganz altmodisch gekleidet, hinausgeschlichen, da ich in die gute Stube trat.«

»Aber das war doch das alte Fräulein von Hausbein, das absagen kam«, lachte Onkel Mappe. »Die darf sonst am Sonntag manchmal mittags bei uns essen, redet auch kein Wort. Trippelt völlig geräuschlos auf ihren Hauspatschen daher. Sieht niemand an, weil sie zu schwerhörig ist, um von irgendwem Fremden angeredet werden zu wollen. Sie hat Schlüssel zu Archiv und Rezeptkasten und andern Dingen, die bloß ihr anzuvertrauen waren. Aber jetzt ist sie so wunderlich, daß ich eine Altersverpflegung für sie ausgemacht habe bei Freunden ebenso alt wie sie. In einer Gegend voll Jugenderinnerungen für sie. Und das ist das wichtigste. Hubert, stell' ihr ein Glas Bowle ins Zimmer. Sie hat noch Licht.«

Hubert ging. Hinauf über die Treppe, glaubte er sich zuerst mit seinen Gedanken und Wünschen allein … Hallo. Morgen gibt die Alte Schlüssel und Geheimnis an die schöne Tilla ab! Da wird er jetzt oben alles für eine Nacht konfiszieren, wenn sie's irgendwo liegen hat …

»Aber, was wäre denn jetzt das? Haben Sie da eine Geheimtüre?«

Aus der Wand, sichtlich aus der Wand, dort, wo die Schuhe stehen, ist die alte Dame herausgetreten! Er steht. Sie geht, unhörbar wie Luftzug, die Treppe hinauf; beschwerlich, langsam. Zeit hat sie, Zeit! Als ob das Leben tausend Jahre dauerte.

Hupps! Einschmeicheln wird er sich bei ihr. Kein Licht hat sie. Und diese lächerliche Tracht! Gelbe, knochig ausgedörrte Schultern, aber: Spitzenkragen um den weitovalen Ausschnitt! Spitzenhaube auch, weitflüglig! »Lächerliche Funze, dir komm ich zuckersüß!« Und voraus springt er; eine Treppe weit. Da scheint sie zu laufen. Wie ein streichender Vogel, so geschwind entstrebt sie ihm, ohne daß er ihre entsetzlich stillen Füße sich bewegen sieht. Der Ehrgeiz erfaßt ihn. Die Habsucht. Er kommt ihr am Treppenpodest zuvor, verneigt sich ritterlich, will ihr vorausleuchten …

Was von da ab die dort unten dann wußten, erfuhren, hörten, war nichts als der greuliche, durch Mark und Bein sägende Todesschrei eines Menschen. »Die Quenz –!«

Durch alle Mauern drang dieser schrille, nach alter Musikantensprache fünfzigfach verstärkte Schrei wie der einer abscheidenden Segelschwalbe. Genau wie jenes davongeschwebte, grausame, gefräßige, gierige »dschrii!« Aber bloß einmal. Dann hörte man die Holztreppe von einem Fall aufkrachen. Dann das Grausen der Nachtstille.

Hinauf stürzten die Herren, Tilla noch vor ihnen, hinauf.

Der Jutebelag der Treppe brannte. Tilla löschte das entstehende Feuerwerk mit der Schürze, mit dem Kleid, mit Theos Rock zuletzt. Der Leuchter, zweiarmig, lag noch am Boden, und ihn als Brandstifter richteten sie zuerst auf. Jetzt erst sahen sie den gestürzten Jungen, den sie ohnmächtig wähnten. Der Pfarrer, der Mahatma untersuchten ihn.

Aber zu Ende war es da. Der rührte sich nicht mehr. Das Herz hatte ausgesetzt; gelähmt war es worden durch jähen Schreck. Denn der grausenhafte Schrei hatte geklungen: »Die Quenz – –!«

Sie rekonstruierten sich den halb artikulierten Schrillruf: »Quenz oder Kuuinz!«

»Das, das ist jetzt unerträglich«, sagte Theo empört, als sie den toten Jungen, in dessen Angesicht starr der Ausdruck losbrechenden, erkenntnistollen Irrsinnes grinste, ansahen. »Das muß ein Ende haben.«

»Das verfluchte Hirngespinst in Ehren … es hat den Aberglauben der Bauern angezogen. Aber wenn die Massenpsychose auf sonst ausgeschämte, junge Leute übergreift und Menschenleben fordert – Herr Pfarrer! Das schlägt in Ihr, unserer Wissenschaft bis heute nicht ganz sympathisches Fach. Exorzieren Sie dieses alberne Phantom! Summierter Dummheitskräfte«, fügte er dumpf knurrend hinzu, damit der Pfarrer es nicht höre. Aber der sagte ruhig:

»Summierter Kräfte? Ja. Dummheit? Dummheit ist eine Gottesgabe. Und in Ihren Universitäten steckt sie vielleicht dicker hinter dem grenzenlosen Hochmut grenzenloser Wenigwisserei als hinter dem uralten Geheimnis des Volkes – von seinen eigenen Nervenkräften. Jetzt einmal fort mit dem armen Jungen. Ins Spital. Und versuchen wir's mit künstlicher Atmung. In diesen Dingen bin ich sehr nüchtern. Hallo, bis der Doktor Vogel kommt werde ich die Sache mit Mappe und Theo selber beginnen. Schnell, es ist keine Zeit zu verlieren!«

Und während sie an den Armen des Leblosen auf und nieder pumpten, während Mappe die Brust bald zusammenpreßte, bald ausdehnend losließ, reichte Tilla herzanregende Mittel herzu, die sie dem Hinweggeheimnisten eingab. Aber alles, zum Riechen unter der Nase, zum Schlucken in den Mund getröpfelt, gab nur die grausige Erscheinung des Todes wieder. Es gurgelte. – Es gurgelte, bloß von den mechanischen Anstrengungen der drei Männer. Kein Herzschlag mehr; kein Atemzug.

»Umsonst«, sagte Solvanus.

»Fahren wir fort, bis der Doktor kommt«, mahnte der Pfarrer.

Und während der traurigen und erfolglosen Arbeit geriet noch einmal das Gespräch darauf, ob es der Gegenkraft der Kirche nicht möglich sein müßte, das »Residuum« oder Überbleibsel früherer Willenswellen aufzulösen und heimzuschicken.

»Dazu gehört Glaube«, sagte der Pfarrer traurig. »Dort über Kranach, wo die Kellerrüben vor der Türe zum Erdeingang zerflogen wie gescheuchte Vögel, wo sich die Messer aus dem aufgehenden Küchentisch einbohrten, dicht neben dem rohen neuen Pächter, da mußte ich wochenlang arbeiten, bis sich die Angst der grobnervigen, aber halbgläubigen neuen Pächter in Demut umgewandelt hatte. Man braucht zwei Elektrizitäten dabei. Fehlt die eine, siegt die andere. Was mit der ganzen Aufregung allen Unterbewußtseins oder weiß Gott welcher Stränge geglaubt und herbeigeängstet wird, das, meine Freunde, ist positiv und real. Denn der Wille der Welt, der geheimnisreiche Pneumon, der sogenannte heilige Wind oder Geist ist es, der sich den Körper bildet. Ehe man hier nicht glaubt, ehedenn kann ich nicht helfen. Oder euer eigener Unglaube ekelt das Gespenst hinaus. Das gibt es auch. Kein Gespenst zum Beispiel hat je über dreihundert Jahre gelebt. Nicht einmal die Herzogin von Orlamünde. Ihre ältesten Trachten reichen heute niemals über die Rubenszeit zurück. Merkt das und denkt an Gespenster aus dem Barock, wie selten solche sind: Weil damals die Jesuiten alles in Glauben, siedeheiß und brennend, erhielten, so daß sie Hirngespinste und solcherlei nicht duldeten. Später wieder, Rokoko? Die skeptische Zeit wurde wieder abergläubisch – wie unsere heutige.«


Dann kam die unangenehme Zeit der gerichtlichen Untersuchung. Freilich, es schämte sich das ganze Bezirksgericht, hier einen neuen Hexenprozeß einzugestehen, und man begnügte sich mit der einwandfrei festgestellten Herzlähmung des hysterischen Jungen. Aber eine geheime Begehung der »Blauen Gans« fand doch statt – und geheime Beratung. Zugezogen war der Abgeordnete des Bezirkes, ein gewisser Hesch. Groß, kühn, weißhaarig und feuerherzig. Ehedem Gendarmeriebeamter, wich er vor niemand zur Seite und vor einem Gespenst erst recht nicht. Vor seinen sengend blauen Augen hielt nichts, was der Sonne nicht standhielt. Dieser Hesch, christgläubig, mochte aber doch die alte Geistergläubigkeit nicht völlig von sich weisen, obwohl gerade er eine beständige Klopferscheinung, die nächtens unter dem Keller eines verrufenen Hauses hörbar wurde, als Anschlagen einer Wurzel im unterirdischen Wasserlaufe feststellen gekonnt, der metertief unter dem Fundamente hindurchströmte und Anlaß zu einem herrlich kühlen Kellerbrunnen gab.

Auch dieser nüchterne Mann fragte den Pfarrer, ob er die Wunderlichkeit, vor der sich die Wissenschaft bis heute verschlösse, nicht erklären oder gar bannen könne.

Mit gespreizten Beinen, die hellen Augen aus frischrotem Antlitz über schneeweißem Barte auf den Priester gerichtet, erwartete Hesch seine Antwort. Sein Blick schien den alten Zauberpriester, wie der genannt wurde, zu durchdringen.

Aber er bekam nur dieselbe Auskunft wie Onkel Mappe und der Provisor. »Denkt an Macbeth«, sagte er. »Der schon beklagt sich, daß es seit einiger Zeit Geister gäbe. ›Früher,‹ sagte er, ›wenn das Hirn herausgespritzt war, da war das Leben heraus.‹ Er meint die rohe und barbarische Zeit, wo die Menschen viehisch und gedankenlos waren. Auch im Totschlagen. ›Jetzt aber‹, grollt Macbeth, ›gehen sie um und sind da und leben.‹ Es war also damals schon eine düstere Zeit für verdüsterte, phantasievolle Seelen gekommen, wie Macbeths Seele selber ist. – Und solche beleben die unausgetragene Strömungskraft irgendeiner Halbmaterie, die nicht mehr Elektrizität ist und noch nicht eingereihtes Leben. Vielleicht bedeutet ähnlicherweise der Mensch dem Tiere das Gespenst und das Jenseits. Seht den panischen Schreck des freien, viel stärkeren wilden Tieres. Ich weiß von Hirschen und Rehen, die ohne Kugel fielen; vom Glauben an den Knall. Und die Embryonen des Muttertieres tragen genau an der Todesstelle das rote Schreckmal, das die Kugel der Mutter schlug.

Hinzuzufügen ist noch, daß, nach alter Überlieferung, die gleichgültige, dumme Quenzlerin konsequent in ihrer Erscheinung bloß ist durch das blaue Kleid, welches zur Zeit des spöttischen Rokoko vielleicht Anlaß gegeben zum Spitznamen der Offizin. Ferner dieselbe Haube aus der verschollenen Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Das Antlitz soll unbewegt, schauerlich tot, gleichgültig und pergament-weißlich sein. Sobald sie aber das Ende eines Lebens brachte, wie eben jetzt, da soll aus ihrer Haube der kahle Totenschädel grinsen. Was übrigens niemand beweisen kann. Denn in den drei, bisher seit dreihundert Jahren vorgekommenen Fällen konnten die drei Menschenkinder, ein junger Lakai, ein mitten im Diebstahl begriffenes Kammermädchen und jetzt der hysterische Junge, nichts mehr aussagen. Manchmal hat sie Menschen kalt, manchmal fast neugierig angesehen, beinahe immer aber sieht sie durch sie hindurch, wie ins Grenzenlose hinein. Stumpf. Wäre sie noch ein Mensch, würde ich sagen, wesenlos dumm. So geht über sie die Tradition in der Apotheke.

Und nochmals: Bannen kann ich sie nicht. Sowenig wie Christus in Galiläa Wunder wirken gekonnt. Es fehlt der rundum geschlossene Kraftstrom des Glaubens, der meine Kraft verhundertfachte wie viele Menschen der Schlag der Leidener Flasche. Hier ist niemand christgläubig, bis auf unsern lieben Herrn Hesch.«

»Ich bleibe mit Ihnen da –! Wir werden sie schon zwingen«, sagte Hesch kraftfröhlich und bieder.

»Nein; das ganze Haus hier müßte durchdrungen sein von einer Welle heißer Andacht; bis in die Mauern und bis in die Jahrhunderte zurück. Eben wegen der Gleichgültigkeit gegen seine Dummheit lebt dies Gespenst der Gleichgültigkeit und der Dummheit.«

»Himmelsakra, ich aber hasse sie«, schrie Theo. »Und kommt sie, so probier' ich doch einmal meinen Browning an ihr.«

»Sie würden bloß die gegenüberliegende Wand ruinieren«, nahm der Mahatma Solvanus ruhig das Wort und blies aus seinem englischen Pfeifchen blaue Wolken. Dann schnaufte er, wie er zu tun pflegte, wenn er was Ausführlicheres sagen wollte, und begann:

»Alles, was wir mit Sicherheit von der blauen Dunstgans da wissen, ist, daß sie im Leben kalt, gleichgültig, dumm und lieblos war. Das ist ein Vakuum, meine Herrn, das sich zu füllen heute noch bestrebt ist. Solche Leerräume an Liebe oder Kraft haben wir in der Chemie an der Erscheinung des chemischen Springbrunnens, dort, wo das Wasser sich mit schauerlicher Intensität in den Raum aufwärts stürzt, der mit Ammoniakgas gefüllt ist. Alles das sind ebenfalls Gespenster, meine Herrschaften.

Dieses Phantom nun nährt sich von dem, was ihm zu Lebenstagen völlig gemangelt hat. Von Liebe und Haß, vielleicht vom Verbrechen. Sicher von dessen Phantasie. Was hier im Hause an Liebe bebt, sie frißt, wie ein Vampir, ihren Teil davon weg. Was in diesem Hause gehaßt wird, sie zehrt davon; und wahrscheinlich dann allein lächelt sie. Kann der Pfarrer nicht mit der Wunderkraft des alten, süßen und schrecklichen Glaubens sich verbünden, nun: so langweilt sie zum Hause hinaus! Seid so, wie sie war. Nicht eine Glut von Liebe darf hier auch nur fünkchengroß werden. Nicht ein Blitz von Haß darf hier aufzucken. Das Phlegma Onkel Mappes ist dazu eine günstige Vorbedingung. Grade, daß er die blaue Quenzlerin duldete –«

»Sie brachte ja den Aberglauben der Bauern und damit Geld ins Haus«, entschuldigte sich der geruhige Eligius.

»Grade, daß sie bisher weder verfolgt noch gehaßt wurde, das minderte ihre Kraft. Ich möchte noch mehr sagen. Ihr sonderbarer Drang nach grauem Ambra scheint sie in sagenhafte Fernen zu ziehen, wo parfümiert schwüle Leidenschaften auf Diwans und blutbefleckten Teppichen brüten. Daß sie überhaupt nur mehr zur Zeit hervorkommt, wenn die gierigen Segelschwalben kreischen und zur Reise rüsten, zeigt meinem Gefühl dieses: Jetzt ist sie, dreihundert Jahre nach ihrem Tod, reif geworden zu einem: Zur Sehnsucht. Sie muß fort. Laßt sie hier, unerfüllt und ungekräftet, Kinder! Sie muß fort, wenn sie hier nichts erlebt, woraus sie heißes Blut absaugen kann. Ich habe gesprochen.«

Alle sahen einander nach der Reihe an …

»Na ja«, sagte der große und starke Herr Abgeordnete Hesch resigniert. »Was bleibt uns auch anderes übrig?«

 


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