Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

. »Theo! Fräulein Tilla!« sagte der Apotheker der »Blauen Gans« zu seinen beiden »Provisorchen«, die er stets mit dem Diminutiv bezeichnete, das hübsche, stille Paar Menschen.

»Bitte, Onkel Mappe, nicht Fräulein sagen.«

»Theo, Tilla: Jetzt zeigt einmal, daß ihr was von der älteren Pharmakopöe versteht. Die modernen Wissenschaftsesel kommen langsam wieder drauf zurück; ja. Alte Rezepte stehen in Mode. Da.«

Und er gab den beiden jungen Leutchen eine Vorschrift hin, auf der eine doppelte Wellenlinie, eine Art Omega mit Querhaken am Ende, zwei kleine Kreise aneinander, ein Dreieck mit Kreuzchen darunter und ein ebenso bezeichnetes Viereck, ein Kreis mit wagrechtem Striche hindurch, ein großes Ypsilon mit zwei Querstrichen, ein Kreis mit Mittelpunkt und dem Anhängsel » ant.« und ein großes V mit Oberlinie gezeichnet waren; nebenher noch ein N. M. und dazu das Gewicht der einzelnen Ingredienzen in Lot und Quentchen.

Theo nahm das vergilbte Papier in die Hand und studierte nur ganz kurz darin. »Das muß ein altes Präparat, etwa gegen herpes tonsurans, sein«, sagte er. »Der Arzt will einen Kampferspiritus mit ganz wenig Arsenik, Höllenstein und Schwefel, etwas Gummiarabikum als Bindung in schwacher Wasserlösung und, damit das Haarwasser gut rieche, Pomeranzentinktur.«

» Bene, optime, bombastissime«, sagte Onkel Mappe. »Du machst deinem Namensvetter Theophrastus Paracelsus alle mögliche Ehre.« Und das hübsche Fräulein Tilla sah bewundernd zu ihrem stillen Nebenmanne hinüber, dem auch die alten Zeiten keinerlei Siegel oder Rätsel zu sein schienen … Sowenig wie junge Mädchenherzen. –

»Ich liebe diese alte Welt, Onkel Mappe«, sagte der junge Mann, während er die Ingredienzen geschwind in Gramm umrechnete, was keine kleine Sache war. Denn das Rezept zur Mixtur war altholländisch und mußte erst in das österreichische Medizinalpfund mit dem Index 375 000 umgerechnet werden, ehe dieses, mit seinen 420.0088 Gramm, ins letzte metrische Gewicht übersetzbar wurde. Und so jede Unze, Drachme, jeder Skrupel und jeder Gran, der bloß der 5760. Teil eines österreichischen Medizinalpfundes war.

Onkel Mappe war ganz gerührt über den blonden, jungen Menschen, der so gesund schien, daß er jeder Fußballmannschaft Ehre zu machen imstande gewesen wäre, und nun dennoch solch weltfernes Zeug wußte, so subtil zu fühlen imstande war.

»Sie lieben diese alte Welt, Provisorchen – soso – –?« sagte Onkel Mappe langsam und beinahe zärtlich. »So – so.«

»Ich bin ja deshalb hier heruntergegangen, an die Grenze des uralten slawischen Volksglaubens, an die äußerste Grenze unserer allzu technischen Gescheitheit. Hier zittert ja Hügelhang und Wiese und Hauseintritt noch förmlich von den sonst verlorengegangenen alten Strömungen und Schwingungen! Unsere einseitig alberne Wissenschaft wird dies in drei bis vierhundert Jahren erst wieder errechnen und zurückrufen müssen. Dann, wenn die Urquelle versiegt ist und sie nichts als eine Art Radio als Surrogat wird bereitstellen können. Statt der alten Pflanzensäfte mit ihren Vitaminen, die man ja auch erst jetzt entdeckt hat.«

»Brav, junger Kerl«, sagte Onkel Mappe. »Genau des Pfarrers Worte!«

»Ich weiß auch, vom Solvanus und aus mir selber, daß positive Lebensströme, tröstende, im Unglück aufrichtende und beruhigende (beruhigender als Ambradampf, Onkel Mappe!), aus den alten Bäumen zu uns niederschwellen. Sogar von den vollen Sommerblumen, zumal aus Bauernblumen, kommt's, das Genesungshafte! Daß Kakteen die Phantasie beleben wie der Troll der alten Sage! Daß – aber, ich scheine Unsinn zu reden!«

»Sie reden wie ein Gott, Theophrastus! Weiter.«

»Ich weiß bloß das eine: seit man einer losgelassenen Masse die Mittel der Technik ausgeliefert hat, seit ferner diese Masse nichts hört und liest als eine einzige Zeitung, seit nichts mehr langsam wachsen darf, weil Zeit Geld ist, seit niemand mehr leben, sondern bloß vorbeihasten darf – seither sind das Glück und die Schönheit davongegangen aus dieser Erde. Einsam, einsam kann man es noch granweise sammeln, das Schöne. Einsam von Jugend auf und großstadtferne und orientnahe. Darum bin ich hier.«

»Sie armer Junge«, sagte Fräulein Tilla gerührt. »Sie waren ja gemußt einsam – mutterlos, wie Sie immer lebten.«

»Darum habe ich zu den Müttern zurückgefunden, Tilla: Es sind die ersten fünf Schöpfungstage, ehedem der Gott die Erde mit dem Menschen verhöhnte. Bloß dieses verfluchte dumme Gans-Phantom, die Quenzlerin ärgert mich hier.«

»Theo«, sagte Onkel Mappe. »Ich werde irgendwann regierungsmüde sein und muß einen Verweser für die ›Blaue Gans‹ haben, ehe ich mich zur Ruhe setze. Falls Sie mir die Bude abnehmen würden – in solche Hände grade wünschte ich sie.«

»Mein Gott, Herr Mappe … Ich bin ein so armer Teufel, daß ich mir im Leben keine Apotheke kaufen kann! Schon im Frieden waren zwei Milliarden unseres heutigen Geldes dazu nötig!«

»Wir werden ja darüber reden. Geld ist für mich bloß Gift, das nur in kleinen Dosen belebt. Der neue Apotheker zur ›Blauen Gans‹ könnte ja dem alten aus den Erträgnissen eine Altersrente zahlen, die eingetragen werden müßte?«

»Onkel Mappe!«

»Na, praktizieren Sie einmal ein paar Jährchen brav weiter; dann werden wir vielleicht die Barbara Quenzlerin an einem Spätsommertag, wenn die Segler wegfliegen, um Rat fragen.«

»Onkel Mappe, ich weiß nicht, ich kann nicht –«

»Vorderhand können Sie wirklich nicht. Sie sind auch ein lieber kleiner Narr. Glauben Sie, ich wisse nicht, daß Sie hinter dem Silberschatz der Pollheimer drein sind? Um die Apotheke zu kaufen …«

»Onkel Mappe, das ist kein Hirngespinst! Beim Türkeneinfall 1529 sind die drei Töchter des alten Ritters von Pollheim, dessen Reliefbild mit den sorgenvollen, großen Ohren immer noch in Liebfrauenberg eingemauert ist, samt dem großen Silberschatz der reichen Familie durch den unterirdischen Gang geflüchtet. Und nie mehr sind sie zum Vorschein gekommen. Vor ihnen, hinter ihnen ist der Gang durch türkische Minen eingestürzt. Die drei armen Skelette, samt dem Augsburger Tafelsilber (eine Wunderkraft für amerikanische Museen), stecken noch zwischen Liebfrauenberg und dem Solvafluß unter der Erde. Als vor ein paar Jahren ein abgewiesener, rachsüchtiger Landstreicher den Bergspitzenort anzündete und der neu aufgebaut werden mußte, da hat man unter den Fundamenten den Gang aufgedeckt! ›Laßt die alte Zeit ruhen‹, hat aber der Herr Stiftsverwalter gesagt. Und der geistliche Herr hat vielleicht recht gehabt. Es wäre bloß Zank entstanden. Ich aber möchte nachforschen. Onkel Mappe, ich habe Ihnen den goldenen Trajansdenar aus Flavia solva gezeigt. Ich habe drei Steinbeile aus der uralten Volksburg hinterm Büchsenmeister gegraben. Ich weiß Tumuli, von denen niemand eine Ahnung hat, und ich habe die Tempelreste mit dem Bildnis der Kybele aufgefunden, das jetzt, zerbohrt und augenblind, in der Streukammer des Wirtes Stelzel eingemauert ist: Bis ins fünfte Jahrhundert war die eine so allmächtige Konkurrentin der Gottesmutter, daß man Liebfrauenberg aufbauen mußte, um sie unter anderm Namen in neue Andacht einzufügen.«

»Gewiß, Sie haben eine gute Nase für alte Funde, Provisorchen.«

»Ich bin hier, weil hier noch der allerletzte Rest uralter Geheimnisse lebt.«

»Und Sie, Tilla?«

»Ach Gott, ich bin ja auch schon ganz eingesponnen in diese Geschichten. Ich wünschte nur noch, einmal die Barbara Quenzlerin hinauszuekeln.«

»Vielleicht geschieht's noch, Kinder«, sagte Onkel Mappe. »Rekapitulieren wir. Sie hat also, nach allen spärlichen Aufzeichnungen, niemals im Leben geliebt – und niemals gehaßt. Gleichgültigkeit, Dummheit schon gar, kann nicht sterben, bis nicht Ausgleich erlebt ist. Nie hat sie Phantasie, nie eine Sehnsucht gehabt. Nun muß sie auf Sehnsucht, wie Solvanus sagt, warten. Der graue Ambra ist für sie das Morgenland, in das die Segelschwalben fliegen. Die allein schreien sie schon um Mittag wach. Die, das ewige Symbol beinahe gieriger, stets erfüllter, unendliche Fernen überwindender Sehnsucht – – – Ah, guten Tag, Herr Doktor Vogl! Was, sie wollen auch einmal krank sein? Oder ist doch nicht die Frau Gemahlin – –«

»Ja, sehen Sie, meine Frau ist aus südslawischem Blut und bildet sich ein – – –«

Damit war das Gespräch zerrissen. Aber bedeutsam sahen Tilla und Theo einander an, als das Geheimwort jener Grenzgegend (Grenzgegend vor allem in seelischem Sinne) fiel: »Aus südslawischem Blute und bildet sich ein – – –«

 


 << zurück weiter >>