Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

. Immer und unverbrüchlich

dachte Theo aus der kristallklarsten und ironischsten aller Städte nach Lindenau zurück.

Ja, so schwer und schwierig war durch jenes Grenzland und jene seelischen Grenzgeschichten dort das Hirn des sonst gar nicht schweren Pharmazeuten geworden, daß er tagelang im muntern Wien immer noch dem merkwürdigen Ton und der musikalischen Kadenz jener Landschaft, dem Hinüberleiten zu jenem fernen Menschentum nachgrübelte. Bis ihn endlich die freiest durchlüftete der Städte (außer Paris) in ihren spielerischen Wickel rollte.

Dort in Wien geht, auch meteorologisch, fast immer ein frischer Wind, und schwerblütige Menschen gibt es nur unter erblich Beladenen. Aber Inzucht ist selten dort, im größten Landhafen zum Orient hin. Der Himmel ist heller und wechselvoller als anderswo. Denn immer ziehen kaleidoskopisch wechselnd dort die Wolken. Und ist es am Himmel stets anders, so entsteht auch in den Seelen kein Luftsumpf.

April: das ist Wien.

Die launische Aprilluft des Wiener Himmels drang zuerst in Theos Seele nächtlicherweile ein; denn den Seinen gibt's der Herr im Schlafe.

Die Schornsteinköpfe drehten sich heute beständig; der Nachtsturm schmauchte und sang wie eine ferne Orgelgemeinde. Ganz feierlich war diese summende Westwetternacht. Ohne das jauchzende Aufzetern der Windräder von Lindenau klang es beinahe gregorianisch streng. Schlummerlied. Segen. Ein wenig Koboldseinfälle dazu dennoch. Die Telegraphendrähte sausten. Autohupen tuteten nur von ferne. Irgendein Posthorn blies? Oder nein – es war das Piston, das aus einem entlegenen Gartenkonzert herüberblies, schmetterte, aber gedämpft; dem Verschlummernden war feierlich zumute.

Zudem war eine reizende Quartierstochter bei seinen Gastgebern. Nichte, neckisch, ziemlich frei und hell von Lebensanschauung; ging gern ins Kino und zu Ausflügen, hatte auch schon mit Theo eine Waldpartie ausgemacht. Von der träumte er mit durch, aus und ein. Aber choralartig orgelte der Weststurm um die Mansarde. Feierlich. So, daß das Operettenmotiv der kleinen Wienerin nur mehr als ganz schüchterner Kontrapunkt in Theos Träumen da und dort angeschlagen wurde.

Nur in einer Nacht träumte er lang und drollig von ihr, wachte auf und schlief erst gegen hellen Tag hin wieder ein. Der Sturm hatte sich gelegt, die Orgel über den Dächern war verbraust. Erst vormittags dann sah er Mizzi. Die war so reizend vertraulich, daß er ihr seinen Traum erzählte. Da lachte sie weidlich und gab ihm auch den verlangten Kuß … Und den sogar geradezu bedeutungsvoll. Ihn durchschauerte es ordentlich.

Seine Pflicht gegen den verleumdeten Vollrat hatte er übrigens völlig getan, so gut sich dies für jetzige, noch ungeklärte Verhältnisse tun ließ. Es war alles im Rollen. Theos Freund, der Staatssekretär für Unterricht, hatte ihn bloß vor allzu dreistem Vorgehen gewarnt. »Wir haben da noch einen Mitschuldigen aus der alten Zeit. Sektionschef. Der wird sein böses Geheimnis mit Klauen und Zähnen verteidigen; aber er wird bald in den Ruhestand versetzt. Abwarten also, bis der zum Teufel ist! Und nach dem Trauerkondukt setzen Sie dem Ministerium frische Blutegel an. Haben Sie keinen Abgeordneten von Einfluß, der ihnen dort heiß machen könnte?«

»O ja, den Hesch! Ein Prachtkerl!«

»Kenn' ich. Hesch zerbeißt Stahl und Eisen, wenn er will.«

Und nach dieser beruhigenden Abmachung fuhr der junge Mensch frei wie eine Schwalbe in der Luft durchs liebe, helle Wien umher, in dem Mammonsverdienst schwierig, in dem aber zu leben, wahr und voll zu leben, so süß und leicht ist. Wahr und voll zu leben aber heißt dort, bei etwas südlicher oder gar orientalischer Mäßigkeit oder auch nur Genügsamkeit und Schlichtheit mit den Nerven und der Phantasie leben und nur auf eins zu achten: daß man die Heiterkeit der Seele nicht verliere.

Vollrats Sache also hatte gute Wege … Wie gern sah Theo sich jetzt die Stadt an.

Ordnung! Ordnung! Wenigstens verhältnismäßige in der ehedem so nachlässigen Stadt! Sogar die Türen der saubern, blitzschnellen und pünktlichen elektrischen Stadt- und Untergrundbahn wurden von fast allen Männern und einem Drittel der Weiber, ja einem vollen Zehnprozent der Damen sogar, geschlossen! Ein Ding, unerfindlich und ungeahnt ehedem.

In zehn Minuten war man aus dem Stank der Autos im goldgelben Schönbrunn, das als Wohnung für Kriegsinvalide und andere verdienstliche Märtyrer alter Tage schön und sauber aussah. Billige Gasthausmenüs in der berüchtigten Stadt der Auswurzerei! Er staunte. Und er war froh. Da war doch trotz aller Beschimpfungen, die über Stadt und Verwaltung ergingen, was Tüchtiges und Gutes hinter allem Steuerdruck. Man sah auf Schritt und Tritt, daß hier eine neue, gut geordnete Menschheit erstand.

Noch war Theo erinnerungstrunken voll von der geheimnisreichen, schwergestimmten Poesie seiner Heimat. Da erheiterte ihn gerade der Kontrast mit der frohsinnig klaren, nüchternen Stadt.

Besonders unter Arbeitern und armen jungen Leuten wuchs ein neuer Wiener empor. Belehrter, disziplinierter. Und vor allem viel stolzer als der von ehedem. Trinkgeld verlangte keiner mehr, der ehrlich arbeitete. Ehe der Faschismus Italien ernst stimmte und römisch klar machte, hatte der Wiener sich schon auf seine Würde besonnen; auf seine Heiligkeit, sobald er schuf für alle, sobald er arbeitete. Die Stadt war nüchterner geworden, aber durchaus nicht schlechter. Die gute helle Laune dieses außerordentlichen Volksstammes war geblieben, und das wird die Stadt vielleicht einmal zum Zentrum der Erde, zum Züngel an der Wage, zum Ausgleich zwischen Osten und Westen bestimmen.

Freilich, der schwere, beinahe orientalische Hauch von ambraduftiger oder manchmal fast rosenölschwüler Phantasie, der über Theophrastens Grenzlande schwelte, er war dort über das fröhlich spöttische Land des ätherleichten, grünlichen, bissigen oder, wie man auch sagen kann, lustigen Weinchens nicht gar dick gebreitet. Das Rindenhorn des einsamen Hirten brüllte nicht sehnsüchtig und entsetzlich menschenfern und dabei entsetzlich menschverlangend über die Hügelweiten. Aber das faunische Ziegenbockshorn oder das Jungochsenhorn plärrte auch hier über die Weinrieden von Sievering und Grinzing fernhin. Immer mahnend, daß der Weinhüter auf verbotenem Wege einen herbstlichen Rebenwanderer gesehen habe. Und wenn der sich nicht davonmachte, hatte er ihn bald beim Graps (das heißt Nackenkragen, und das Wort kommt von Greifen).

In unermeßlicher Sonnenstille blökte so das Hüterhorn. Auch da war die Weite groß, wenn auch dort nicht wie im Südlande zweihundert Kilometer in der Runde überschaubar sind. Solch ein übermeerweiter Fernblick ist kaum dem Florentiner gegönnt. »Aus solchen Gegenden kommen die seelisch allzu weitsichtigen Menschen«, hatte Onkel Mappe gesagt.

Aber es war genug der Poesie auch in Sievering und Grinzing und auf dem Nußberge, und das war um so erstaunlicher, als eine Rasse von tausendjährigem Wissen, als eine Stadt von zwei Millionen Menschen dicht hinter solch wunderbarer Naturstille wogte, trieb, stank, rauchte, verelendete. »Der Wiener ist ein Wunder; er lebt, unberührt von aller Westwelt, heute noch da und dort wie mitten in der Ewigkeit«, sagte sich Theophrastus, als er diese vom Gelde eroberte und dennoch in ihrer Weisheit der einfachen Leute unverwüstlich scheinende Stadt und ihre Menschen besah, dann, wenn sie ausruhen gingen, wenn sie sich freuen gingen.

Freilich bloß noch in seltenen kleinen Schenken sah man sie richtig.

Da gab's noch eine Poesie.

An froststarren Frühherbstmorgen, auch wohl an kaltklammen Abenden donnerten überall Böllerschüsse wie bei einer Kirchweih, obwohl erst die zudringlichsten Kinder der Sonne, ein paar Trauben, reif und süß geworden waren. Das bedeutete stets »Weltbrand«. Weltbrand, Kataklysma, Muspilli, allerdings bloß für irgendeine sehr schädliche Wespensippe und ihren ganzen Staat. Wenn die weintraubenliebenden Wespen durch die herbstliche Nacht verkrochen, klamm und straff durch Kälte gemacht waren, dann sprengt der wissende Weinhüter die schlimmsten Erdlöcher. Waben und schlafende Wespen wurden umhergeschleudert, vom Walde kam von zwölf bis drei dann der Dachs und schmatzte. Der Staat war weggepulvert, die Trauben behütet.

So in der Nähe einer beirrend großen Menschensiedlung fand Theo an ihrem Rande das Ineinanderspielen von Mensch und Natur wieder, das ihm seine Wahlheimat so köstlich machte.

»Dort erst, wo die Menschen nicht allzusehr anthropozentrisch oder homozentrisch sind,« hatte Onkel Mappe gesagt, »bloß dort noch blüht das allerletzte ferne blumige Ackerchen und der letzte heilige Hain vom ausgerodeten Reiche Gottes.«

Und der Kauz der Athene hatte hinzugefügt: »Meine französischen Enzyklopädisten haben das längst gewußt. Die Menschheit aber entfernt sich (in einer gottgewollten Strafkurve!) von dieser Erkenntnis. Und recht geschieht ihr. Man muß bloß den Mut haben, als Marodeur zurückzubleiben, um die wiederkehrende Schnauze der Uräusschlange erkenntnisreich und ironisch wiederzusehen, die in den Schwanz beißt. Und dann muß man genug Klugheit haben, daß sie einen nicht lebendig bekommt. ›Es kommt alles im Leben auf »Distanz« an‹, sagte der Aristokrat, als er einer Ehrung seiner Wichtigkeit durch die Guillotine im genauesten Augenblick durch vornehme Flucht auswich.«

Dieses Wien, diese durch irgendein Schicksal genau und ausgewogen hergerichtete Stadt der Kompromisse, diese Kongreßstadt zu Zeiten nach der Unruhe Napoleons, diese einzig mögliche Völkerbundstadt zwischen Balkan und Westland … Es war, es war noch poesievoll. Wie lange noch? Wie lange noch hält der Wiener in letzten Kräften den bunten Regenbogen seiner Perlenmuschel gegen den Himmel?

Der kleine, deutsch-ernsthafte Provisor rechnete Schönheit gegen Schönheit wie ein Rezept aus.

Die vergessene, verlassene, von der Regierung »undotierte« Gegend dort unten. Dort fließt allein auf europäischer Erde noch ein ringelnattergewickelter Mäandros, den die Urslawen Zuiba, die Römer Solva nannten. Niemand reguliert ihn. Aber ein guter Medizinerkopf wird eines Tages drauf kommen, daß dieses radiodurchdrungene Sonnenwasser unbezahlbar wäre. Dann kommen Fremde in Massen hinunter, und die unsagbar deutschlandferne Gegend ist vielleicht bald – »verberlinert«.

Soll Theo der Welt das erzählen? Soll er erzählen, daß es dort noch so furchtbar starke Urmenschenströmungen gibt, daß Geister sich getrauen zu wandeln am totenstillen Mittage? Es geht hier nicht um Entdeckung und Ferialbesiedelung. Es geht um die Bewahrung, um das Geheimnis eines Schatzes, den zu heben die Universitäten noch zu unwillig sind. Man wird also hier schweigen müssen. Bloß Vollrat soll des auf ihn gehäuften Unrechts ledig sein. Von allem übrigen behält Theophrastus sein Geheimnis: »Dort ist Orplid.«

Denn die Menschen verständen ihn gar nicht. Die glauben ihm nicht.

Nein. Mizzi allein erzählt er's. In ihr erschauerndes Vorstadtherz legt er die Geschichte von der durch kein Mittel als Anständigkeit wegzutreibenden Ahnfrau zur blauen Gans. »Hinauslangweilbar bloß durch Bravheit«, sagte er.

»Du glaubst nicht, Mizzi, wie das zur Unanständigkeit aufreizt«, seufzte er dann beklommen. »Wenn man weiß, man muß anständig sein.«

»Und ob ich das glaub'«, sagte sie, ebenfalls beklommen.

Sie machten einen Ausflug um den andern. Einmal, war's heiß, ins Gänsehäufel, das andere Mal nach Weidling. Er freute sich des reizend gebauten Mädchens, um das ihn offenkundig alle jungen Leute (und erst recht die formenkundigen alten Herren) beneideten. Er war ihr, immun durch die größere, innigere, ernstere und schwerer nahbare Schönheit Tillas, ein guter Freund. Ein wenig verliebt er, ein wenig verliebt sie. Jedes wäre beim Aufspringen eines Zündfunkens der anderen Seite in Flammen geraten; aber jedes empfand das leicht Schwindelnde dieses Balancierens auf der Schneide als prickelnd. In Wien hat man oft dies: »Es muß nicht sein. Und wenn's muß, dann halt ja. Und dann aber gleich recht heiß.«

Endlos aber hatte Theo der fröhlichen Mizzi, die so kristallklar war wie ihre Stadt, von der eigenartig dumpfen, heidnisch-katholischen Dämmernis zu erzählen, die dort unten über dem Volke brütet, das weit weg von aller ausgelernten Welt in den römischen »colles«, den Rebenhügeln, hauste. Zu dem kein Bahnpfiff empordrang, keine Telegraphenstange, keine Lichtleitung hinführte. Völlig aus aller Welt war die Gegend! Fern, fremd, urtümlich.

Verschollene Spinnstubengeschichten gingen noch um, so wie auch der Flachs dort noch gebaut, geröstet, gebrechelt, gesponnen und im Haus gewoben wurde.

Am unheimlichsten war der kleinen Mizzi, die sich aber fiebernd gern von diesen ausgeschiedenen Geschichten früherer Jahrhunderte erzählen ließ, der Umstand, daß so gescheite Leute wie der Mahatma Solvanus und der Pfarrer von Großglavina da mitglaubten und gerne mittaten. »In das Innere der Nickeluhr des Solvanus hatte sogar ein Geist auf Verlangen sein Monogramm gegraben, ohne daß er die Uhr, die auf dem Tische lag, aus dem Auge gelassen hätte.«

»Geh, das glaub' i net«, rief Mizzi.

»Kannst es sehen.«

»Ja, nimm mich mit 'runter. Du, woher hat denn der Herr Mahatma Solvanus diese sonderbare Weisheit?«

»Organismus ist das. Einmaliger, einziger, zufälliger Organismus«, sagte Theo halb im Scherze, halb selber glaubend. »Wenn ein Mensch von den Menschen gar nichts und vom Kosmos alles erwartet, wenn er völlig in und mit der Natur lebt, dann ist er eben kein Mensch mehr, sondern ein Zwischenwesen anderer Art. So aber lebt Solvanus! Und nur aus dem Bewußtsein, daß er sonst völlig dem Reiche der Geister verfallen wäre, in das er ja doch später einmal ganz hinein muß, bleibt er bei einem Pfeifchen Tabak und einem guten Glas Bier. Ja, das sind seine Anker, die ihn an die Erde beschweren. Sonst flöge er längst zur Nacht über die Dächer und lachte als Kauz seinen schauerlichen Ruf.«

»Du, hör' bald auf! Es wird Abend, und mir wird schiech zumut«, mahnte Mizzi. Aber da sie dennoch unersättlich zuhörte, fuhr Theo fort: »Einmal hat ihn aber doch sein ungeheures überlegenes Naturtum verlassen, mit dem er zum Beispiel Italien wegen des gestohlenen Südtirol langsam ins Verderben hineinrinnen läßt –«

»Ah?! Wann geht's den Italienern an den Kragen?« rief Mizzi.

»Er sagt, er könne nichts übereilen. Zum Übereilen wär' ihm der Mussolini da. Und es würde schon alles recht werden. ›Einzelne können nicht abwarten‹, sagt er. ›Völker ja. Und die unablenkbare Kraft, die immer sein wird, wenn sie sich nicht mehr als Einzelexemplar fühlt, wird's schon machen.‹«

»Das kann jeder sagen«, ärgerte sich Mizzi. »Du deutest aber an, einmal hat er sich blamiert.«

»Ja, das war so. Einmal, da war ein so milder Februar, daß dort unten Krokus und Zitronenfalter das fahle Apergras belebten. Da ist es ihm eingefallen, nächtens zum alten Heidenfriedhof der Flavia Solva hinauszugehen und, weil römische Saturnalien waren, an einem Tumulus anzuklopfen. Er wollte endlich einmal mit echten Lateinern sein tadelloses Latein erproben.«

»Was ist ein Tumulus?«

»Ein altkeltisches, manchmal auch ein römisches Grab in runder Kegelform. Je vornehmer der Begrabene war, desto höher und breiter ist der Hügel. Du, auf dem Grabe des Attila bei Pettau da steht eine ganze Kirche drauf; das war einmal ein Berg von sechzig Meter Durchmesser und dreißig Meter Höhe.«

»Und der Solvanus?«

»Hat sich hineinbeschworen. Und wie er bei den Römern war, die Saturnfest hatten und einer Amphora nach der anderen die schimmelweißen Hälse brachen, da hat er sie in so tadellos ciceronischem Latein angeredet, daß es ihnen die Rede verschlug vor solchem Hochdeutsch – Hochlatein, hab' ich sagen wollen. Er hat ihnen dann beim Wein von den Fortschritten des »Cerevisiums« erzählt, wie sie das Bier nennen, hat ihnen zum Rendezvous in der Mittsommernacht, das sie ausgemacht haben, ein Faß Gösser Bier versprochen, das sie auf den Knien liegend trinken würden. Und er hat sich so wunderbar angefreundet. Aber beim zwölften Krateros (das ist der große Mischkrug, in den sie aber längst kein Wasser mehr taten) hat ihm der Philolog, der er nebenher ist, keine Ruhe mehr gelassen. Das waren Römer? Und er, er mußte sie erst Latein lehren? So hat er ihnen gesagt, daß sie vom Ablativus keine Ahnung mehr hätten. Immer bloß Dativ; und daß sie ein ganz scheußliches Styriakenlatein redeten, jawohl! Voll Noricismen! Voll vindelizischer Endungen, Betonungen, Konsonanten! ›Wo kommt bei Cicero denn ein z vor? Ein z mit einem Häkchen drüber, meine Herren? Freilich, Sie sind Kaufleute und pensionierte Veteranen und haben sich hier verheiratet und eingewöhnt. Ihre Gemahlinnen tragen ja alle die norische Haube. Aber, meine Herrschaften, eine klassische Sprache darf man nicht verhunzen! Sie, Herr Varro Terentius, werden hier mit Trjanez Baro angeredet! Lassen Sie sich das gefallen? Sie, Herr Hauptmann Albula, sagen siatt vinumbinum! Kassius, das heißt bei Ihnen allen Kazeo. Statt »colles« sagen Sie beständig Koloze. Und statt –«

»Nun, denkst du über noch mehr nach? Ich versteh' ohnedem die lateinischen Wörter net«, mahnte Mizzi. »Was ist denn nachher g'schehn?«

»Aus dem Tumulus hinausgeschmissen haben sie ihn«, sagte Theo ernst. »Und das hat ihn, der sonst die Geschichte der Völker lenken kann, wie er glaubt, sehr gekränkt. Aber er hat ihnen recht gegeben. Denn er hat die Gesetze der Gastfreundschaft verletzt. Hat sich als kleinlicher Philologe benommen und wird es nicht wieder tun. Am Großfrauentage, wenn es sehr heiß ist, klopft er wieder an. Und dann bekommen sie Gösser Spezialbier. Da wird alles wieder gut sein.«

»Herrgott, nimm mich da hinunter mit, Theo! Du kannst alles von mir haben! Bloß bring' mich in Geistergesellschaft!«

Theo, der alles haben konnte, griff nicht zu. Hier war alles so erlaubt. Da war alles so klar greifbar, so leicht und süß und lieblich zu haben, daß es ihn beinahe mit schwerblütigem Verlangen nach der unnahbar fernen Tilla zog, die ihm ihre heitern und dennoch im Grunde traurigen Briefe schrieb. Wien war wie ein entzückendes Heurigenlied mit schalkhaftesten Kehrreimen. Dort unten war's wie eine altschottische Ballade, wo der Sohn die Mutter erschlägt, und dann, auf der Jagd stürzend, in ihre Grabkammer einbricht und dort verhungern müßte, wenn ihm nicht die wachsblaß konservierte, wartende Frau die Brust gereicht hätte, wie als kleinem Jungen. Mit jedem Trank kommt aber ein graues Haar an seinem Haupte mehr hervor. Und als sie ihn finden und aufseilen, da ist er schneeweiß. So ist Ton und Atemzug und Sage dort unten.

Mizzi wollte, als er ihr so schaurige Vergleiche mit dem unbesorgten Wien machte, erst recht mit hinunter. Er aber wußte, daß sie ja doch nichts von all dieser Geheimwelt verstehen, hören, sehen würde. Sie war zu klar. Zu wienerisch. Für Geister gehört ein eigenes Talent. Um einen Mahatma zu empfinden, dazu gehören eigene Fähigkeiten, die den seinen ähnlich sind. Die Inder erkennen den verbannten Gott im Menschen. Die Europäer nicht. Bloß bei den Schauern der Nähe des Jenseits öffnet sich die Türe zum Zauberland. Mizzi war zu hell.

Tilla, ja. Die war dunkel, träumerisch, treu aus Schwerblütigkeit, von jener wunderbaren Treue, die ohne alles Verdienst ist. Und Tilla war ahnungsreich. Richtig! Ahnungsreich, so hieß das längst vergessene Wort. Ja. Ahnungsreich war im blitzblanken Wien niemand. Geheimnisreich war niemand. Vielleicht noch ein alter Herr dortwo, im baufälligen »Ratzenstadtel«.

Mizzis heißer Körper, enge an dem seinen, hatte stillegehalten, wenn über den Weinrieden deren letzte Poesie im Hüterhorn aufstöhnte; das blökende Sonnemittagshorn. Oder frühmorgens, nach klammer Frostnacht, das Pulverböllern über gesprengten Wespennestern. Oder gar zu Spätabend!

Das waren ihm aber die einzigen Heimbringsel der Poesie, die jetzt weggeht von der Erde, soweit sie materialisiert ist.

Er hatte Heimweh – nach »Dummheit«.

Dort unten allein war noch Sage. War Gespenstertum. Und Angst davor. Wie schade, daß der durchs Kino erhitzte Junge nicht mehr in der Apotheke umherzitterte! Jetzt war ein langer, temperamentloser, semmelblonder, wasseraugiger und verschwommener Kerl dort in der ›Blauen Gans‹ »Zauberlehrling«. Der erschauerte nicht, der phantasierte nicht mit, dem waren Bier, Wein und Schnaps die Dreieinigkeit der Geister.

Der Volkswitz unten war es, der hieß jenes Apothekersubjekt den »Zauberlehrling«. Aber der Mensch hatte kein Talent dazu. Ihm fehlte das Erschauern. Das Erschauern, das sogar Mizzi noch hatte. »Wenn das so bürgerlich weitergeht, fliegt die Quenzlerin wirklich und bestimmt mit den nächsten Seglern davon. Aus Langweile.«

So reiste Theo denn gerne zurück, das Versprechen des Staatssekretärs für Vollrat behaglich in der Tasche. Nach dorten, wo es Geheimnisse gab: mehr, als für ein Menschenleben ergründbar waren.

»Positive, stupide Strömungen.« Bloß der Apparat, der sie aufzufangen vermochte, er war noch nicht erfunden. Und infolge dummer Aufklärung verflüchtigte sich inzwischen – die delphische Pythia und der Zeus von Dodona im Raunen alter Eichen.

»Dann hat er die Teile in seiner Hand«, zitierte der Provisor Onkel Mappe nach, als er die uralte Bischofsburg wiedersah am Rande der Ebene hoch oben, gegen den Osten gedankenloser Reitervölker trotzend, die stets wieder dasein müssen, um alte Schönheit zu vernichten und frische Gedanken qualvoll schwer und unter Druck erstehen zu lassen.

Völker müssen erstürmt, politisch überritten und majorisiert werden, bis – in einem neuen Halbjahrhundert – das ungeheuerliche Geschehnis des Hirns eintritt: »Es gab einen Gott, und er war am schrecklichsten da, als wir ihn am wenigsten sehen wollten.«

So hatte Mahatma Solvanus einmal gesagt. Und er hatte hinzugefügt: »Man soll unbewußte Menschen züchten. Sam, der letzte Prophet neben dem ersten Könige Israels, wußte das. Heute weiß ich es allein – und ein paar allzu gescheite, also schweigende, katholische Priester.«

»Der Pfarrer von Großglavina?« hatte das Provisorchen damals gefragt.

»Ich weiß von ihm nichts, als daß er gegen jeden ›Gescheiten‹ den Mund diszipliniert zu halten weiß.«

Und gar zu gerne fuhr der, nur durch einige Semester verbildete, aber in seiner Phantasie wehrhaft gebliebene Provisor in sein, allen Deutschen und mehr noch dem ganzen Balkanstaat fern gebliebenes Wunderland hinein.

 


 << zurück weiter >>