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. Nun galt es freilich, in einer Zeit, in der das Land völlig verarmt war, da überall geknausert und abgespart werden mußte, Vollrat auch greifbare Genugtuung, zumindest eine der erlittenen Unbill entsprechende kleine Altersrente zuzusprechen. Der akademische Senat, der den wirklich erhabenen Akt der Selbstreinigung begonnen, setzte sich aus allen Kräften dafür beim Staatsamt für Unterricht ein.

Aber da stockte und bockte es nun; der Mann des neuen Willens, der dort ehedem leitete, war abgetreten.

Vollrat möge sich sein Recht und die entsprechende Entschädigung auf dem Wege der Privatklage bei den Erben des Schuldigen holen, hieß es zuerst. Aber der Senat gab nicht Ruhe noch Gnade. Es handle sich hier nicht um persönliches Unrecht, sondern um einen Krankheitsfall, sozusagen um vis major. Wären doch die Herren der medizinischen Fakultät eine Zeitlang selber geblendet worden. Es handle sich um persönliches Verschulden staatlicher Organe. Das war ein sehr mutiges Einbekenntnis, denn einige der unwissentlich Mitschuldigen, so gerade der ehrliche Schratt, lebten ja noch und konnten wenigstens moralisch zur Rechenschaft gezogen werden. So lief denn die Mühle der Gerechtigkeit eine ganze Weile leer, bis der Abgeordnete des Lindenauer Bezirkes sich einmengte. Hesch! Dem sogar die Geister auswichen. Ein schlichter Mann. Ehedem bloß Gendarm. Ja, aber! Als Postenführer im Hofjagdgebiet von Mürzsteg hatte sich dieser Steirer, ebenso aus Eisen und Gold, ebenso aufrecht, groß und stark wie der Dekan der medizinischen Fakultät, der Physiologe, einmal gegen des Kaisers Majestät und Machtspruch selber gestellt.

Ein Jäger, der den Großherzog von Toskana auf einen Kapitalhirsch hätte führen sollen, war von der Jagdleitung durch ein Protektionskind ersetzt worden. Der Hirsch, in später Dämmerung geschossen, wurde bloß gelüftet. Aber als man ihn am andern Tage holen wollte, fehlte das kapitale Geweih. Jener Jäger wurde eines Racheaktes geziehen und von dem erbitterten allerhöchsten Weidmann trotz Weib und fünf Kindern auf der Stelle entlassen. Vergebens bat der Unglückliche beim obersten Jägermeister und wies nach, daß er am Unglückstage zwanzig Kilometer weit entfernt von der Stelle des Diebstahls Dienst getan habe. Ein von Dutzenden Zeugen belegtes Alibi, wie es leuchtender und einwandfreier kaum geliefert werden konnte.

»Der Wille Seiner Majestät ist heilig. Wenn unser Allerhöchster Herr von Ihnen verlangte, Sie sollten in einen Abgrund springen, würden Sie es tun?«

»Ja, wenn es ihm nützen und meiner Familie nicht Hunger und Not bringen würde«, antwortete das ehrliche Kind der Berge aufrichtig.

»Sehen Sie? Sie stellen dem Apostolischen König und geweihten Kaiser Bedingungen! Für soldatische Opfertreue haben wir mehr und bessere Bekenner als Sie. Und überdies noch einmal: Der Wille Seiner Majestät darf keiner Kritik unterliegen und ist unantastbar wie der oft ebenso unerforschliche Wille Gottes.«

Nun, der kleine Gendarmerie-Postenführer (klein nur in seiner Stellung) war nicht der gleichen Meinung. Er reichte auf geradem Wege ein Majestätsgesuch ein, weil die Hofjagdleitung dienstliche Weiterleitung verweigerte. Er stellte dem Kaiser das Unrecht am armen Jäger, dessen Unschuld und Not mit kraftvollen, aber bescheidenen Worten hin und fragte, wohin das fast an Gottesglauben grenzende Vertrauen der Bevölkerung an die allerhöchste Gerechtigkeit gelangen müßte, wenn Zwischenstellen eine Mauer zwischen der kaiserlichen Größe und dem Unrecht bauen dürften?

Im Frühjahr nach dem Brunstherbste war der Postenführer schon Wachtmeister in der Landeshauptstadt. Der Jäger, wieder eingesetzt, erhielt das verlorene Gehalt nachgezahlt, führte den Großherzog von Toskana auf zwei, drei Auerhähne, erhielt fünfhundert Gulden Trostgeld und kaufte sich eine Hütte dafür.

Das war der junge Hesch gewesen. So war der alte Hesch geblieben.

Dieser markige Mann war jetzt an die Sechzig. Sein schneeweißer Bart stand ihm wie zwei breite Flammen in Weißglut links und rechts vom gesunden Antlitz auseinander, und das blaue aufrichtige Auge blitzte wie vor mehr als dreißig Jahren. Der nun trat in Wien gegen erneutes Unrecht ein. Und was alle Fakultäten nicht zu ertrotzen vermochten, das brachte der unbeugsame Mann vom Volk aus dem eisernen Oberland zuwege.

Vollrat erhielt eine außerordentliche Professur, wobei man für ihn eine ganz neue Lehrkanzel für pflanzliche Arzneikunde und Bodenchemie schuf, in welch beiden Fächern der unermüdliche Gelehrte inzwischen viel mehr Wissen erworben hatte als ehedem vielleicht in der Kunde von Ohr, Nase und Kehlkopf, deren Kanzel besetzt war.

Onkel Mappe hatte einen wunderbaren Teil des Herbstes daran verloren, den er sonst nicht um ein kleines Vermögen dahingegeben hätte: die untersteirische Rebenlese in einem gesegneten Jahr!

Theo und Tilla hatten sie mitgemacht, ein wenig bange und dennoch gewillt, ihre Not und Sorge wenigstens auf kurze Zeit zu vergessen. Bei Vollrat waren sie geladen. Ihm klagten sie ihr Leid, und der alte Gelehrte und Pessimist, der durch die überraschend guten Erfahrungen mit den geschmähten Menschen milde und weich geworden war, versprach, ihnen zu helfen, wo und wie er konnte. Nun er seine Lehrkanzel hatte zunebst einer guten Zahl anrechenbarer Dienstjahre, würde er im Notfall sogar diese Kanzel an Theo weiterzugeben versuchen. Ob der sein Assistent werden wollte? Aber Theo hatte ja kein Geld zu Studien, die Jahre verschlangen. Da mußte irgendwie anders vorgegangen werden. Wie aber, das wußte noch keines von den drei Menschenkindern. Außer, daß man Onkel Mappe vorläufig vor dem Verkauf der »Blauen Gans« zurückhielt.

Schon der Gedanke an gewonnene Frist belebte die beiden jungen Leute so sehr, daß sie den unbeschreiblich schönen südsteirischen Rebenherbst wie eine Revolutionshochzeit im Schatten der drohenden Guillotine genossen.

»Pummpommpömm«, so ging der dicke Klapotez des sagenumwobenen Büchsenmeisters. Und das große Windrad der geistlichen Herren antwortete vom fernen Kogel herüber, während die kleineren hölzernen Cherubim dieses Himmels ihn mit allen Klangfarben priesen, die einer Latte aus Fichtenholz oder einer alten Sensenklinge nur immer durch buchene Klöppel zu entlocken sind. Und die Weinhähnchen sagten: »Zieh, zieh.« Das verwirrte sich zu einem unglaubhaft polyphonen Fugensatz und in die kompliziertesten Rhythmen. Süß und golddurchsichtig wie Chrysolith, so hingen die Trauben büschelweise an den Stöckenreihen dahin; die Walnuß fiel, und die Edelkastanie tropfte zu Boden. Die Buchecker lockte das Tannenäffchen am Nebelmorgen und die Bilchmaus in den sternklaren Nächten scharenweise an; die Nacht besonders lebte. Sie war voll Hauch vom Mittelmeer; sie war so warm, daß man beim Windlicht in Hemdärmeln auf der weitschauenden Hügelhöhe sitzen konnte. Ja, dann wanderten singende Laternchen über die fernen Höhen, ein Juchzen nach dem andern stiftete holdeste, oft zwölfstimmige Verwirrung zwischen den vielen Berghängen. Alles lebte, wollte nichts wissen von Schlaf und Stille. Pansflöte und Harmonika ganz nahe, dort undeutliches Gitarrengezupfe, ein fernes Waldhorn …

Und dann das dumpfe »Bumm« einer schweren fallenden Frucht.

Da nahmen die Liebesleute einander enger in die Arme und sahen in das Reifen und Schenken und Ernten der Natur hinein, sie: beide erntelos, bange, lebensdurstig, verzagend.

In diesen Nächten, wenn Theo die Geliebte nach Hause geleitet hatte, konnte er niemals schlafen. Sie waren zu schön, zu erregend, zu nutzbar manchmal. Denn wenn er sie auch oft bloß wünschend, seufzend, voll wunderlichsten Gemisches von Rührung, Wunsch und Weh durchträumte, zuweilen packte ihn doch der alte Irrsinn, er schlich aus dem Haus in die Höhen, forschte alle Höhlungen des Korallenriffes ab, da er im unterirdischen Gange der Pollheimer ohne Sprengarbeiten nicht weiterkam. Da war beim hundeessenden Winzer plötzlich ein kleiner Hausbrunnen eingetrocknet. Vielmehr in irgendeine unterirdische Ritze war er aus- und davongelaufen zur Tiefe. Jetzt hatte Theo eine Arbeitskraft umsonst. Denn unter dem Vorwande, die Wasserader zu suchen, während er den alten Stollen hier zu finden vermeinte, grub er mit dem eifrigen Manne, der seinen Brunnen unbedingt wieder haben mußte, tief in »Opok« und »Lapor« des Rebengrundes, bis sie auf den Madreporenkalk des ehemaligen Korallenriffes stießen. Aber Theo war so versessen in seinem Wahn, da drunter müßte der Pollheimsche Stollen gegen die Suiva oder Solva hinunterführen, auf der man zu Schiffe flüchten konnte, daß er es sich sogar Sprengpulver kosten ließ. Dabei kamen sie allerdings wieder auf die Wasserader, welche aufgefangen wurde. Damit hatte aber der Winzer seine Ruhe, die Sache ihr Bewenden, und Theo hätte sich bloß einen Feind geschaffen, wenn er an das kostbare Gut dieser wasserarmen Höhen weiter zu rühren gewagt hätte. Ein großer Haufen Korallen und ein allerdings sehr schön erhaltener großer versteinerter Fisch waren alles, was an positiver Ausbeute jetzt herumlag, und Theo nahm sich den Fisch, den ihm der Winzer gerne statt andern Entgeltes schenkte, zum Andenken mit hinunter nach Lindenau, wo er ihn Tilla seufzend vorlegte.

»Merkwürdig,« sagte Tilla, »was für Zähne der hat. Wie ein Hahnenkamm.«

»Es ist ja ein Fisch aus Zeiten vor Millionen Jahren vielleicht; er ist in ein Atoll hineingeschwommen, irgendeine Erdhebung hat ihm das Tiefenwasser genommen, und zuletzt haben ihn die Korallen eingesponnen.«

Damit legte er das versteinte Urtier auf ein Bord der Apotheke, und hier blieb es als Merkwürdigkeit liegen, über welche sich winters über ganz Lindenau wunderte. Es gehörte fortab zum Bestand der Offizin wie die braune Gigantosaurusrippe und das asphaltfarbige Krokodil, »der Lindwurm«, und wie das uralte, dauerhaft auf Kupfer gemalte Schild mit der blauen Gans und dem herrlichen, kunstvoll gedrehten und verschlungenen Eisengewebe, an dem es über dem Eingang zur Offizin auf die Gasse heraushing.

Es war noch Gnade, daß in diesen zweifelvoll trüben Tagen, in denen Onkel Mappe merkwürdig still geworden war, der November so voll der Sonne blieb. Längst schwiegen die Weinhähnchen, längst waren die Stimmen der Rebenhöhen, die hölzernen Plaudertaschen, abgenommen worden, die Klapoteze. Sie schliefen ebenso auf Dachböden und hinter Streukammern wie die nächtliche Sippe der Bilchmäuse.

Theo und Tilla gingen, sooft der Onkel Mappe sie zusammen freiließ, was er ungern tat, in den entlaubten Wald hinaus, und Theo zeigte Tilla, daß dieser verfemte und verkannte Monat die feinsten aller Farbwerte in dem öde scheinenden Wald versammelt hätte. Unirdisch blau, oft geisterhaft luftblau oder nebelmilchig die Buchenstämme. Und wo das für nächste Auferstehung vorbereitete rote Geknospe zwischen diese fein pastellene Bläue gedrängt war, das herrlichste Violett. Dazu das altgoldene, das anderswo wieder silberglänzende Metall des Wald- und Riedgrases, das oft wieder in leuchtendem Rosa oder bronzerötlich dicht und voll zusammengedrängt wurde. Solch ein Waldwiesenfleck war traumhaft schön; das Gras gleißte, die purpurroten Zweige des Hagedorns drohten igeltrotzig beinahe wie zorniges Spießkönigsheer nach allen Seiten auseinander. Dann wieder das minium- und zinnoberblitzende leuchtende Korallenrot der Ebereschenbäume, an denen ein paar purpurviolette oder bronzehelle Blätter wie Federn hin und her wiegten.

Da und dort noch ein letzter Smaragdblitz an einer Quelle, an einer nassen Wiesenstelle. Das ehedem bis zur Langeweile allmächtige Grün, wie ersehnt, wie verschönt war es nun! Wie rührend selten …

Dazu der Kiefernduft im lastenden Sonnenschein; ein Dekokt, zusammen mit Brombeere, solange diese noch reifte, und herbem Schlagholzgeruch. Ein Duft, mit dem Gottes Mantel getränkt sein müßte, des deutschen Waldgottes Mantel.

»Sogar der geheimnisvolle Ambra kommt gegen solche Herzensgewalt nicht an.«

»Der Ambra!« Die beiden hoffnungsarmen jungen Leute bekamen nasse Augen, und eines mußte dem andern die Tränen wegküssen.

Seit Onkel Mappe sie ein wenig ungern zusammen umherstreifen ließ, nutzten sie die blassen Morgenstunden vor dem späten Sonnenaufgang aus, ehe die Apotheke geöffnet wurde.

»Auf was hin geht ihr denn so aufrecht und auffällig miteinander, meine armen und unvorsichtigen großen Hasen?« fragte einst Onkel Mappe. »Ihr kommt ins Gerede, und zuletzt, wer weiß, ob sich's gelohnt hat.«

Beide schwiegen. Beide waren noch viel bedrückter. Dieser Druck wuchs noch an, als der Himmel wochenlang zwecklos grau wurde. Kein Wind, kein Schnee, kein Regen, kein Sturm. Die Natur selber versagte sich, und es war noch gut, wenn ein Tag in seiner grauen Halbhelligkeit so sichtig war, daß man durch die lange Allee von der Suiba aus die ganze ferne Ebene überblicken konnte und die fremden Berge des Südens, hinter denen der Karst begann, der schreckensvoll kahlweiße. – Und hinter ihm das Meer, das irrsinnige blaue, warme, südliche …

»Ach, wenn schon landflüchtig, dann jetzt als zwei Apothekerleute in Italien! Oder in Lugano.« Nur fort von hier, wo beinahe täglich der Jagdbegleiter des Herzogs kam, der mehr von den Gewehren und andern Steckenpferden des alten Herrn verstand als von der verbummelten Medizin seiner Studienjahre. Aber das war es: ein Arzt muß nur Menschen behandeln können, nicht Krankheiten. Und das konnte der hübsche große Abenteurer. Den Herzog und Herrn Apotheker Mappe sogar konnte er behandeln. Und manchmal auch die braune reizende Apothekergehilfin. Er »eroberte« hier nicht. Er wußte bloß zu rühren. Einsam wäre er. So sehr! Dort drüben, neben dem wunderlichen alten Herrn, dessen Baumreligion er still mitbetete. Und von dem er weg wollte zu irgendeinem ganz bescheidenen Glück. Freilich nur mit der Einzigen, die er in allen Ländern der Erdkugel nicht gefunden …

 


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