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. Unten sonnte sich der abscheidende September über dem Heidekorn, das braun und gar nicht mehr duftig und blühend war. Es war alles schwer geneigt und beinahe bußevoll; sogar der Mais. Sogar Bohnen und versteckte Kürbisse. Denn diese Gegend hat Ernte noch dann, wenn weiter im Norden schon Brachland sich langweilt, schwermütige Spinnwebnester taunaß zwischen Wiesenstoppeln gespannt hängen, offene Sturzäcker warten. Immer noch summte ihm das Hüterhorn durch den Kopf, hörte er das morgendliche Sprengen der übervölkerten, traubenvernichtenden Wespennester. Die einzigen poetischen Laute rings um die Großstadt, außer dem Klappern der Äste und dem Aufbrausen des Windes im bräunenden Buchenwalde.

Blätter hatten ihn dort umflogen wie Abschiedsbriefe. Hier summten noch die Bienen, war voller Sommer. Fünf Ernten standen noch bevor.

Er fand die Apotheke aber merkwürdig still. Er fand sogar Tilla stiller und verhaltener, als er sie verlassen. Freundlich, ja bewundernd hörte sie an, was er für den alten Gelehrten getan, und sagte: »Das war schön, und du bist ein ganzer, treuer, guter und großer Mensch.« Wer dann schwieg sie wieder, und sie schwieg viel.

So reich und schön der Spätsommer war, irgendwas war wie Abschied.

Theo zerrieb eine Emulsion im Mörser. Tilla kolierte ein Dekoktum. Von der uralten, fünftausendjährigen Volksburg her kam das klangvoll tiefe Pochen von Büchsenmeisters großem Windrade. Ihm antwortete der ferne zweite Mächtige der Berge, der Klapotez des Stiftes Seggau am Kreuzberge. Die kleinen Windräder ratterten untereinander, durcheinander; aufgeregt, eilfertig, lustig.

»Es geht Wind dort oben in den Bergen«, sagte Theo träumerisch, »und die Weinhähnchen werden alle schweigen. Oh, wie so voll der Poesie ist dieses unentdeckte Land. In Wien – –«

Und er suchte in seinem Gedächtnis abermals das Hüterhorn von Sievering und das Weltenende der Wespenstaaten im Knall der Sprengladung an frostklammen Morgen. Dann aber fiel ihm Tillas warmer, aber nicht jubelheißer Kuß ein, und er merkte ihre Einsilbigkeit.

»Ist irgendwas vorgefallen?« fragte er. Aber er mußte auf Antwort warten, denn ein sehr schöner, blonder, großer Mann trat ein, grüßte, zog ein Rezept hervor, das er Tilla reichte. Nur mit ihr sprach er dann; nur sie sah er an. Es war, als bemerkte er den Provisor gar nicht. Und Tilla stellte den Provisor nicht vor.

Der Fremde erzählte. Er freute sich, daß es drüben in den endlosen Wäldern jenseits des Flusses, beim Herzog von Braganza, immer noch Schwarzwild gäbe. Jetzt begänne bald die Zelt des Büchsenknalls im bunten Walde. Oder zur Nacht, beim Ansitz, mit dem achtfach vergrößernden Fernrohr am Holzrande zwischen Kartoffel- und Maisfeld, wo man die Schwarzen schnaufen und brechen höre, wo man – – –

Sein Blick war in das eigentümlich nachdenkliche Auge des Provisors gefallen. Und er verwirrte sich ein wenig. Denn diese hellen Augen vergaß man nicht wieder. Sie waren klar, fest, still und vor allem merkwürdig klug verträumt, als wären es eines Befehlenden, eines Denkers und eines Dichters Augen zugleich. Doch faßte er sich bald und erzählte weiter.

»Ich bin mit dem Herzog bis zum Unjamwesi hinunter. Ich habe alle Tage Blut geleckt; Nilpferd am Blauen Nil, Elefanten, Löwen und Leoparden. Aber merkwürdig: Sie haben recht, Fräulein Tilla. Eine so eigentümliche, halb antike, halb bronzezeitliche Urpoesie gibt es dort für uns nicht. Diese Gegend steht uns näher, so unmerklich ihre Merkwürdigkeit auch dem sein mag, der alle Meere und Fernen erschöpfte. Mein hoher Patient ruht sich, ebenso aufatmend wie ich, dort drüben aus und behauptet, hier erst gelernt zu haben, daß aus den Bäumen positive Kraftströme rännen, welche dem heilsam sind, der an sie glaubt. Und, abgesehen von seiner Schlaflosigkeit – es ist wirklich wahr. Seine Nerven haben sich zusehends erholt. Professor Solvanus hat mit dieser Baumtheorie vielleicht den Anfang zu einer Entdeckung gemacht.«

»Der Herr Doktor ist der Leibarzt des Herzogs von Braganza«, sagte Tilla, um den Provisor zur Vorstellung zu veranlassen. Aber Theo benahm sich als im Dienste stehend, und Namen haben da nichts zu sagen. So fuhr der Fremde allein fort: »Leibarzt? Ja. Beneidet, reich honoriert, so dass man sich genügend zurückgelegt hätte, um die Hände in den Schoß zu legen. Aber immerhin doch noch im Herrendienst. Mag er noch sosehr mein Sklave sein, durch Schwäche des Leibes. Das muß anders werden. Ich werde mich selbständig machen. Hier. In diesem völlig unbekannten Lande, das man kennengelernt haben muß wie ich, um es aller Wunder voll zu finden. Wer hier den Leuten glaubt, an den glauben diese Leute.«

Sein Rezept hatte Tilla inzwischen erledigt; er nahm das Schlafmittel, mit dem er stets zu wechseln pflegte, grüßte Tilla mit einem langen, tiefen Blick und ging.

»So, so …«, sagte Theo ruhig. Niemand sah ihm an, wie es in ihm wühlte, fragte, sich ängstigte. »Ein schöner Mann das. Und weitgereist, aristokratisch angefärbt; Weidmann, Weltmann und dennoch Romantiker – wie wir beide – –«

»Nicht so ganz«, sagte Tilla leise. »Ich fürchte, daß – –«

»Daß er dir gefallen könnte!? Tilla!«

»Wenn ich die Wahrheit sagen muß – und du weißt, ich sage gerne die Wahrheit – nun, wenn ich dich nicht kennte, so würde er mir wohl gefährlich werden können. Aber, daß ich dich liebe, Theo, das ist und bleibt.«

»Verzeih mir, Tilla. Ich war überrascht, hier eine Bekanntschaft zu finden, hinter meinem Rücken. Aus den Tagen meiner wehrlosen Abwesenheit. So daß ich einen Augenblick zweifelte. Jetzt weiß ich, daß er mir nicht gefährlich werden kann, und damit –«

»Doch, Theo. Gefährlich kann er dir und mir werden.«

»Tilla, wie denn, wenn du schon – wenn du doch –?« Theo wurde blaß.

»Er will sich hier im Orte als Arzt ansiedeln. Und um den ganzen Ort auch als Neuling gleich in der Hand zu haben, will er die Apotheke aufkaufen, und dabei wäre ihm wer recht, der sie als angeblicher Besitzer führte. Es – wäre ihm recht, wenn er gleich eine Magisterin der Pharmakopöe draufsetzen könnte. – Und wenn's seine Frau sein müßte.«

»Ist die denn das?« fuhr Theo auf.

»Nein; er hat keine. Aber er denkt an mich.«

»Und du?«

»Wir werden wieder wandern müssen. Denn Onkel Mappe ist auch nur ein Mensch, und er ist sehr ruhebedürftig. Er will seinen Gedanken, seinen Forschungen, seiner Philosophie leben, und das nahe an der großen Universitätsstadt. Nahe an Professor Solvanus und den anderen Freunden, zu denen ja auch Vollrat zählen wird dort, wo er seine Professur ausüben wird, wenn man ihn rehabilitiert. Es werden uns alle verlassen, Theo. Und auch wir werden den Stab vor die Türe setzen müssen. Die ›Blaue Gans‹ hat uns was Blaues vorgemacht, Theo.«

»Nicht heiraten können«, rief Theo verzweifelt. »Ah, wenn diese Erde, die ich sosehr liebe, mich nur ein wenig wiederliebt, so öffnet sie mir den Schatz der Pollheimer! Du, weißt du? Den bei den drei Mädchenskeletten! Der allein könnte uns retten.«

»Traumtheophrastus du, du armer, armer Junge«, sagte Tilla gerührt. »Wenn das deine letzte Hoffnung ist –«

»Ich weiß den Eingang vom Keller des Liebfrauenbergwirtes; er ist nachlässig zugemauert. Ich werde den Eintritt bekommen, und ganz allein, mit Krampen und Spaten, werde ich Nacht für Nacht weiter im halb verschütteten Fluchtwege vordringen.«

»O du Träumer«, sagte Tilla noch einmal. Und da gerade niemand auf der mittagstillen Straße war und die ›Blaue Gans‹ ihnen allein zu Diensten stand, so küßte sie ihn zärtlich. »Du ja, du bist ein Romantiker. Der Herrenjäger, der Doktor dort, wird aber die Apotheke bekommen als Realist, obwohl er behauptet, Romantiker zu sein. Er wird sie bekommen, du aber –«

»Ich aber bekomme deinen Kuß, und der ist zehn Apotheken wert.«

Tilla zerdrückte eine Träne. Rührung, Enttäuschung, Bangigkeit, Ungewißheit abermals, bei der großen Bescheidenheit ihrer Mittel, die keine Heirat zuließ, kein gemeinsames Heim, auf weit hinaus keine Hausung! Der Zigeunerwagen irgendeines Quacksalbers alter Tage wäre hoffnungsreicher gewesen als jetzt ihre beiden Provisorposten, die vielleicht niemals wieder so nebeneinander her wie jetzt zu Mörser und Tiegel führten.

Draußen gingen in der goldklaren Rebenluft die Windräder, alle verkreuzten ihre wunderlich lieben Rhythmen. Ein voller Starenschwarm verdüsterte einen Augenblick die hereinfallende Mittagssonne.

»Die Glücklichen: die sind nur noch da, solange es ihnen beliebt. Und die Segler? Sind schon lange weg. Ja: du, Tilla, hat sich die Quenzlerin noch einmal sehen lassen?«

»Nicht mehr, seit die Segler zum letzten Male ihren Ruf in den Wanderwind geschrien haben. Es war ja gerade der Tag ihres Auszuges damals.«

»Die, wenn die reden wollte! Die könnte sagen, wo das alte Augsburger Silber aus den Tagen ruht, da Johannes Faustus vom Teufel geholt wurde.« Und vorsichtig warf er ein Stückchen grauen Ambras auf eine glimmende Holzkohle, die er sich aus der Lateinküche geholt. Onkel Mappe hatte es ihm geschenkt mit dem Scherzwort: »Um den Hausgeist der ›Blauen Gans‹ je und je zu beschwören.«

Eigentümlich drang der erstaunlich fremde Wohlgeruch in kleinen Ringeln durch Offizin und dunklen Vorflur und Gänge und Treppen hinan. Zweimal sah sich der phantastisch erregte junge Mensch in allen Winkeln des Hauses um. Aber die Quenzlerin ruhte den ewigen Schlaf und kam nicht. Vielleicht niemals wieder, da ein klarer Weltmannsgeist einzog in das verräucherte Apothekerhaus abgetaner Tage. Da arbeiteten beide, bedrückt und still, nebeneinander weiter, wußten keines dem andern Trost und hörten beinahe gedankenlos auf die Herbstmusik des Windes droben in den Rebenbergen über dem wunderlichen Städtchen am fernen Saume Deutschlands.

 


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