Honore de Balzac
Physiologie des Alltagslebens
Honore de Balzac

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Siebentes Kapitel
Der Hilfsarbeiter

Der Hilfsarbeiter ist für die Administration, was der Chorknabe für die Kirche, das Soldatenkind für das Regiment, die Ballettratte oder der Statist fürs Theater: etwas Naives, Unschuldsvolles, ein von Illusionen verblendetes Wesen. Und wohin kämen wir ohne Illusionen? Sie gibt uns die Kraft, die Tollheiten junger Kunstbewegungen und die Anfänge aller Wissenschaften zu verdauen, sie gibt uns den Glauben. Illusion ist Vertrauen ohne Grenzen. Er also, der Hilfsarbeiter, hat Vertrauen zur Behörde. Ihm kommt der Verdacht nicht, sie könne kalt, grausam, hartherzig sein, was sie in Wahrheit ist.

Es gibt nur zwei Arten des Hilfsarbeiters: den armen Hilfsarbeiter und den reichen Hilfsarbeiter.

Der arme Hilfsarbeiter ist reich an Hoffnungen und braucht einen Posten; der reiche Hilfsarbeiter ist arm an Geist und braucht gar nichts. Wohlhabende Familien sind nicht dumm genug, ihre begabten Söhne in den Staatsdienst zu stecken.

Der reiche Hilfsarbeiter wird einem höheren Beamten anvertraut oder in der Nähe des Generaldirektors untergebracht, der ihn in jene Geheimnisse einweiht, welche Bilboquet, dieser tiefsinnige Philosoph, die grosse »Komödie der Behörde« nennen würde. Ihm versüsst man die Schrecken der Probezeit, bis er irgendeinen festen Posten erhält. Der reiche Hilfsarbeiter versetzt die Bureaus nicht in Schrecken und Erregung. Die Beamten wissen sehr gut, dass er keine Gefahr für sie ist; denn der wohlhabende Hilfsarbeiter hat es nur auf die hohen Stellen in der Verwaltung abgesehen. Die Presse verfolgt allerdings den reichen Hilfsarbeiter oft genug mit ihren Angriffen, denn er ist immer der Vetter, Neffe, Anverwandte irgendeines Ministers, eines Deputierten, eines einflussreichen Pairs; aber die Beamten sind mit ihm im Bunde, sie suchen seine Protektion.

So ist also der arme Hilfsarbeiter der wahre, der einzige Typus des Hilfsarbeiters. Fast immer ist er ein Kind vom Bau, der Sohn einer Beamtenwitwe, oder eines verabschiedeten Beamten, der von seiner schmalen Pension lebt, und die ganze Familie schindet sich zu Tode, um den Sohn zu ernähren, ihm ordentliche Wäsche und Kleider zu schaffen. Er wohnt fast immer in einem Stadtviertel, wo die Mieten gering sind, verlässt frühmorgens sein Haus. Die Wetteraussichten sind seine Balkanfrage! Zu Fusse gehen können, ohne die Schuhe schmutzig zu machen, die Kleider schonen, genau mit der Zeit rechnen, – denn ein heftiger Regenguss, vor dem er unter einem Dach Schutz suchen muss, könnte ihn aufhalten –, das sind die Probleme, die seinen Geist in Anspruch nehmen müssen. Die Trottoirs, die Pflasterung der Boulevards und der Quais bedeuteten für ihn wahre Wohltaten. Führt Euch einmal irgendein ausgefallener Grund des Morgens um halb acht oder acht durch die Strassen von Paris, und seht Ihr dort bei beissender Kälte, bei strömendem Regen, erbärmlichem Wetter einen bleichen Jüngling auftauchen, der mit ängstlicher Miene ohne Zigarre seines Weges geht, dann sagt Euch: »Das ist ein Hilfsarbeiter«. Er hat sein Frühstück schon hinter sich. Gebt Ihr Obacht auf seine Taschen, so seht Ihr die Konturen eines Brötchens sich abzeichnen, das seine Mutter ihm eingesteckt hat, damit er ohne Schaden für den Magen die neun Stunden überstehen kann, die sein Frühstück von seinem Diner trennen.

Die naive Hoffnungsfreudigkeit des Hilfsarbeiters hält nicht lange vor. Bald lernt er die ungeheuerliche Distanz ermessen, die zwischen einem Souschef und ihm klafft, eine Distanz, die kein Mathematiker ausrechnen kann, weder Archimedes, noch Newton, noch Pascal, noch Leibniz, noch Kepler, noch Laplace zu werten imstande war, und die zwischen der Null und der Eins existiert, zwischen einer fraglichen »Remuneration« und einem Gehalt.

Der Hilfsarbeiter merkt dann, wie aussichtslos seine Karriere ist. Er hört die Beamten von ungerechten Beförderungen reden, und man klärt ihn über die Motive auf. Er kommt auf die Intrigen der Bureaus, er entdeckt die absonderlichen Wege, auf denen seine hohen Vorgesetzten zu ihren Ämtern gekommen sind. Der eine hat eine junge Dame geheiratet, die einen Fehltritt begangen, der andere die uneheliche Tochter eines Ministers zur Frau genommen. Dieser hat eine schwere Verantwortung auf seinen Buckel genommen; ein anderer hat seine Gesundheit bei forcierter Arbeit aufs Spiel gesetzt, oder war begabt mit der zähen Beharrlichkeit des Maulwurfs. Und solcher Wundertaten fühlt sich nicht jeder und jederzeit fähig.

In den Bureaus weiss man alles.

Der unfähige Mann hat eine Frau voll Verstand und Energie, die ihn vorwärts bringt, die ihn zum Abgeordneten gemacht hat. Wenn er auch kein Talent im Dienst hat, kann er intrigieren. Einen Staatsmann hat jener zum intimen Freunde – seiner Frau, ein anderer ist der Helfershelfer eines einflussreichen Journalisten.

Angewidert verlangt der Hilfsarbeiter nun seine Entlassung. Dreiviertel der Hilfsarbeiter verlassen also die Administration, ohne je Beamte gewesen zu sein. Übrig bleiben nur die Hartköpfigen und die Idioten, die sich sagen: »Ich bin nun drei Jahre da, schliesslich werde ich doch einen Posten kriegen.« Und dann noch die jungen Leute, die sich »berufen« fühlen. Offenbar bedeutet die Existenz des Hilfsarbeiters für die Verwaltungen ungefähr das, was das Noviziat für die religiösen Orden: eine Prüfung. Die Prüfung ist hart. Sie lässt jene erkennen, die Hunger, Durst und Armut ertragen können, ohne vom Ekel angefasst zu werden, deren Temperament sich an diese fürchterliche Existenz, wenn man will, an diese »Berufskrankheit« des Bureaus gewöhnen kann.

Von diesem Standpunkt aus betrachtet, ist die Institution der Hilfsarbeiter also nichts weniger als eine infame Spekulation der Regierung, um sich unbezahlte Arbeit zu verschaffen, im Gegenteil: eine Wohlfahrtseinrichtung.

Von dreissig Hilfsarbeitern bleiben also sieben übrig, die sich an die Luft des Bureaus akklimatisiert haben. Die ihre Hände so sehr ans Schreiben gewöhnt, ihren Köpfen aber das Denken so abgewöhnt haben, ihrem Verstand es abgerungen, sich nur noch in den Kreisen des »Administrativen« hin und her zu drehen, dass sie es bis zum definitiven Angestellten bringen oder bis zu Chefs in spe.

Der Tag, an dem sie diese Höhe erklimmen, ist fürwahr schön; sie klimpern mit dem Gelde und liefern es nicht ganz ihrer Mutter ab. Und Venus lächelt diesen Erstlingsfrüchten der ministeriellen Kassen siegreich zu.


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