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Ihr Eltern, Väter und Mütter, die ihr zum ersten Male unter den grünen Gardinen seiner kleinen Wiege den männlichen Sprossen Eurer vom code civile autorisierten, vom Pfarrer gesegneten Liebesfreuden betrachtet und plötzlich seines zukünftigen Schicksales gedenkt . . .
Wenn Ihr ihm keine Rente hinterlassen könnt . . .
Wenn Ihr ihm keinen wohlbestellten Landbesitz zu vererben habt, keinen gutgehenden Laden, kein Amt, keine Industrie, kein Patent, keine fertige wohlschmeckende Pastete, keine Zeitung . . .
Wenn Ihr ihm nicht, mangels anderer beweglicher oder unbeweglicher Güter einen klingenden Namen – einen der höchsten sozialen Werte – mitzugeben habt, oder wenn Ihr ihm nicht durch Zufall Genie geschenkt habt, das alles andere ersetzt . . .
Sprecht es doch nicht aus, das wilde, das schauerliche, das grausame Wort: »Er soll Beamter werden!«
Ja, ich weiss, es gab eine Zeit, wo es nichts Verlockenderes gab, als die Beamtenlaufbahn. Zauberhaft wirkte auf die mit Söhnen gesegneten Familien des Landes die glanzvolle Existenz des jungen Mannes mit Brillen, im blauen Gewande, in dessen Knopfloch ein rotes Bändchen leuchtete, der tausend Franken im Monat dafür bekam, dass er in irgendein Ministerium ging, dort irgendeine Arbeit überwachte, der spät ins Bureau kam, um es desto früher zu verlassen; der wie Lord Byron Mussestunden hatte, in welchen er Romanzen dichtete, der in den Tuilerien spazierenging, ein kleines hochmütig-überlegenes Lächeln auf den Lippen, der sich überall sehen liess, im Theater, auf Bällen, der in der besten Gesellschaft verkehrte, heiter sein Einkommen verzehrend und so dem Vaterlande wiedergebend, was das Vaterland ihm gab; dem also er mitunter sogar wirkliche Dienste leistete. Damals waren die Beamten noch von schönen Frauen umworben; sie scheinen sogar Geist gehabt zu haben, sie erschöpften sich nicht allzusehr im Amt. Die Kaiserinnen, die Königinnen, die Prinzessinnen, die Marschallinnen dieses glücklichen Zeitalters hatten ihre Kaprizen. Diese schönen Damen hatten die Leidenschaften schöner Seelen: sie protegierten gerne, denn die Protektion . . . Ah, weiss Gott, das gehört auf ein separates Blatt.
Die Protektion ist der Ausdruck der Macht.
Damals konnte man denn auch mit fünfundzwanzig Jahren einen hohen Posten bekleiden, Beisitzer im Staatsrat sein oder Chef des Departements für alle Eingaben, Berichte an den Kaiser schicken und so mit seiner erlauchten Familie seinen kleinen Spass haben. Man amüsierte sich und arbeitete zugleich. Alles ging rasch. So viele Männer standen beim Heere, dass es für den Verwaltungsdienst zu wenig gab. Selbst kränkliche, zahnlose Leute, verkrüppelt an Händen oder Füssen, mit schielenden Augen und sonstigen Gebrechen konnten auf ein rasches Avancement rechnen.
Als der Friede kam, verdoppelte sich die Zahl der Anwärter: die armen adligen Familien, die dem Kaiser nicht dienen wollten, waren mit Freuden bereit, den Bourbonen zu dienen. Ein Heer von Cousins, von Neffen, Grossneffen, weitläufigsten Verwandten ergoss sich aus der Provinz in den Faubourg Saint-Germain und verdreifachte die Masse der Prätendenten.
Das war die Zeit, wo die Wut nach einer Beamtenstellung zu einer Krankheit wurde, die bald alle Welt erfasste. Ein findiger Autor publizierte ein Buch: »Die Kunst, ein Amt zu bekommen« zugleich mit jenem andern »Die Kunst, seine Schulden zu bezahlen«.Diese Schrift »Die Kunst, seine Schulden zu bezahlen«, ein Thema, in dem Balzac bekanntlich sachverständig war, ist denn auch von ihm selbst, und der dritte Band dieser Schriften bringt die bisher unveröffentlichte Übersetzung des auch in Frankreich verschollenen Werkchens. F. Man schuf zunächst Posten, um gewisse legitime Ambitionen zu befriedigen. Darnach begann man, um Platz zu schaffen, den Kampf gegen die Sinekuren. Von nun an durfte niemand mehr als einen Posten innehaben. Bisher hiess Beamter sein: das Recht haben, Gehalt zu bekommen und dafür nichts oder fast nichts zu leisten. Die Kammer erklärte allen besonderen Vergünstigungen die Feindschaft. Man fing an, die spezialisierten Aufstellungen aller Ausgaben zu fordern und die unter dem Titel »persönlich« geführten Posten des Budgets wurden einer rigorosen Prüfung unterzogen. Man begann an allen Bewilligungen zu knausern, strich die »Dispositionsfonds« und die Minister sahen sich gezwungen, ihrem Personal abzuzwacken, was sie zur Deckung geheimer Ausgaben benötigten.
Die glücklichen Jahre, das goldene Zeitalter Napoleons war nur noch ein Traum. Man arbeitete zwar nicht mehr, aber um die Stellungen entbrannten wilde Kämpfe. Sie wurden die unsichtbare Münze, mit der gewisse parlamentarische Dienste bezahlt wurden. Man schuf Gesetze für das Avancement im Bureaudienst, die nur die Beamten verpflichteten.
Heutzutage hängen die geringsten Posten von tausend Zufällen ab: es gibt tausend »Herren«.
Zählen wir sie.
Vierhundert in jenem Hause am Ende der Pont de la Concorde, der Brücke der Eintracht, so genannt, weil sie zum Schauplatz der ewigen Zwietracht zwischen der Rechten und Linken der Kammer führt. In Frankreich liebt man die Antinomien. (Schönes Axiom.)
Dreihundert andere befinden sich am Ende der rue de Tournon.
Der Hof in den Tuilerien zählt wohl auch für dreihundert, muss demnach siebenhundertmal mehr Willen haben als der Kaiser, um einem seiner Protegés irgendeinen Posten zu verschaffen. Was nicht etwa sagen will, dass Louis Philippe siebenhundertmal mehr Willenskraft besitzt als Napoleon, sondern nur siebenhundertmal weniger Macht auf diesem Gebiete, seinen Willen durchzusetzen.
Wenn Ihr unvorsichtigen Familien also bedenkt, dass die Deputiertenkammer vierhundert Motive hat, Euch einen Posten streitig zu machen, die »Pairs« im Senat dreihundert weitere, und der Hof nochmals zweihundertneunundneunzig, dann wird sich dieses Euren Köpfen einprägen:
In einem Land, das drei verschiedene Machtzentren hat, kann man tausend gegen eins wetten, dass ein Beamter, der keinen andern Protektor hat als sich selbst, auf Avancement nicht rechnen darf.
Kurz, Odry würde Euch sagen, »dass der einzige freie Platz der Platz ›de la Concorde‹ sei.« Schliesslich, Ihr ehrenwerten und stolzen Familien, befragt die gewiegtesten Bureaukraten. Sie werden Euch sagen, dass, wie es einen Durchschnittsgehalt gibt, es ein Durchschnittsavancement gibt. Dieser fatale Durchschnitt entsteht aus der Kreuzung der Rangliste und der Sterblichkeitsziffer. Das heisst: Ihr könnt als sicher annehmen, dass, wer mit achtzehn Jahren in ein beliebiges Amt eintritt, es nicht vor dem dreissigsten Lebensjahre zu einem Gehalt von achtzehnhundert Franken bringen kann; und dass einer, um mit fünfzig Jahren sechstausend erreichen zu können, schon ein administratives Genie, der Châteaubriand der Berichte, der Musset der Zirkulare, der Lamartine der Denkschriften, das Wunderkind der Depeschen sein muss.
Erwäget, Ihr ehrenwerten und stolzen Familien, dass es nicht eine freie und unabhängige Karriere gibt, in der ein junger Mann, der geimpft, vom Militärdienst befreit und im Vollbesitze seiner Kräfte ist – er muss nicht gerade eine überlegene Intelligenz sein – in zwölf Jahren nicht ein Kapital von fünfundvierzigtausend Franken und so und so vielen Centimes zurücklegen könnte. Dies aber repräsentiert eine Rente, gerade so gross, wie die Bezüge des Beamten, die grösstenteils nicht einmal für Lebenszeit ausgesetzt sind.
Während dieser Periode muss irgendein Gewürzkrämer seine zehntausend Franken Rente verdient, seine Bilanz deponiert, eine Revolution angezettelt haben, oder zumindest einmal Präsident des Handelsgerichtes gewesen sein.
Ein Maler muss Kilometer der Mauern von Versailles bepinselt haben und mit der Légion d'honneur geschmückt sein oder sich wenigstens als verkanntes Genie aufspielen.
Ein Schriftsteller wird Professor von irgend etwas oder Journalist mit einem Honorar von hundert Ecus für tausend Zeilen, schreibt Physiologien oder sitzt hinter den Gefängnismauern von Sainte-Pélagie, – infolge der Veröffentlichung eines lichtvollen Pamphlets über die Verwirrung der Zustände, das für seinen Teil weitere Verwirrung und Unzufriedenheit anstiftet, was einen enormen Wert bedeutet und ihn zu einem politischen Faktor macht.
Ein Publizist hat so und so oft seine Reisepässe genommen, zehntausend Franken dafür ausgegeben und hat fremde Länder auf Kosten Frankreichs bereist.
Ein Müssiggänger, der gar nichts getan hat, – denn es gibt auch solche, die etwas tun, – hat Schulden gemacht und eine Witwe gefunden, die sie bezahlt.
Ein Priester hat Zeit gehabt, Bischof »in partibus« zu werden.
Ein Vaudevillist muss Hausbesitzer geworden sein, wenn er auch nie allein ein ganzes Vaudeville angefertigt hat.
Ein intelligenter nüchterner Junge, der mit einem ganz kleinen Kapital, nehmen wir an, zweitausend Franken, ein bescheidenes Wechselgeschäft begonnen hat, muss sich schon mit einem Viertel an einer grossen Aktienbank beteiligen können.
Ein kleiner Schreiber ist Notar geworden, ein Lumpensammler hat tausend Ecus Rente, die armseligsten Arbeiter haben Fabrikanten werden können – – –
Während einzig und allein in der rotierenden Bewegung dieser Zivilisation, welche die unendliche Arbeitsteilung für den Fortschritt hält, Euer Sohn
von zweiundzwanzig Sous pro Kopf gelebt hat!
Sich mit seinem Schneider und seinem Schuster herumschlägt!
Nichts ist!
Schulden hat!
Und verblödet ist!
Im Schosse seiner trostlosen Familie jammert nun der Unglückliche, dass man, um vorwärts zu kommen, die Unterstützung einiger Pairs von Frankreich, mehrerer einflussreicher Deputierter, dreier Minister und zweier Zeitungen braucht: eines regierungsfreundlichen und eines oppositionellen Blattes.
Was dieser Unglückliche sagt, es ist die stereotyp wiederkehrende Klage, Ihr ehrenwerten und stolzen Familien! Man sage es sich immer wieder! Man wiederhole es sich!
Mit dem Staate ist kein Staat zu machen!
Warum? fragt Ihr! Nun darum, weil dem Staate dienen heute nicht mehr heisst, dem Fürsten dienen, der zu strafen und zu belohnen wusste. Der Staat ist heute jedermann, und jedermann sorgt sich um niemanden. Jedermann dienen, heisst niemandem dienen. Niemand interessiert sich für jedermann. Und der Beamte lebt so zwischen zwei Negationen. Jedermann hat kein Erbarmen, keine Rücksicht, kein Herz, keinen Freund; jedermann ist egoistisch, vergisst morgen den Dienst, den man ihm gestern erwiesen hat. Jedermann ist blind: er gibt dem Mann, der in der Erde herumgräbt, viertausend Franken Rente und bietet dem Gelehrten, der den Erdbohrer erfunden hat, nicht zwei Pfennige.