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Dreizehntes Kapitel.
Nur ein Lustspiel

»Wenn ein Buch und der Kopf eines Lesers zusammenstoßen und es klingt hohl – ist dann immer das Buch schuld?«

(Lichtenberg)

 

Die Tragödie, wurde behauptet, ist eine Wette mit dem Schicksal, die der Held verliert. Und das Lustspiel? Der Verfasser, der auf die Frage vorbereitet war, ist um eine Antwort nicht verlegen. Das Lustspiel ist eine Wette mit dem Schicksal, die das Publikum gewinnt. Das klingt ganz ähnlich, und mit Fug, denn die beiden Gattungen, Tragödie und Komödie, scheinbar so gegensätzlich wie Weinen und Lachen, sind im Grunde eines Stammes, sind Geschwister, wenn nicht Zwillinge. Worauf sie es im Theater abgesehen haben, ist in beiden Fällen das gleiche: die fragwürdige Unsicherheit menschlicher Entwicklungen auf einem fesselnd erdichteten Umweg ins Licht zu rücken: ins Totenlicht der umgestürzten Fackel das Trauerspiel, ins Morgenlicht eines neuen Tages die Komödie.

Tragödie und Komödie sind griechische Wörter und wie die Benennung ist auch, was sie bezeichnen, griechisch. Was immer Sinologen dagegen einwenden mögen, das Drama ist eine Erfindung der Griechen. Nur sie konnten es erfinden, denn nur sie hatten die Vermessenheit, mit dem Schicksal zu wetten, was orientalisches Denken und Fühlen durch Nichtanerkennen der Willensfreiheit a priori ausschließt. Auch die Bibel ist keine Ausnahme; die Wette, die das Schicksal Hiobs so erschütternd macht, ist eine Wette Satans, nicht Hiobs selbst. Im übrigen ist die Bibel reich an tragischen Begebenheiten – eine Begebenheit ist noch lange kein Drama –, aber zur Geschichte der Komödie trägt sie höchstens ein paar scharfsinnige Lösungen bei. Das Salomonische Urteil ist ein solches Dénouement oder die Entlarvung der beiden Alten in der Geschichte von Susanne im Bade. Auf die Bühne gebracht wäre das freilich höchstens ein Schwänklein, kein Lustspiel. Um ein solches aus der Begebenheit herauszuspinnen, müßte Susanne eine Persönlichkeit sein, die nach einem eigenen ihr innerlich vorgeschriebenen Gesetz handelt, das heißt, von einem nicht vorhandenen freien Willen Gebrauch macht. Sie dürfte sich nicht damit begnügen, tugendhaft zu sein und ungestört baden zu wollen. Sie müßte wollen, noch bevor sie badet, und das Bad müßte diesen Willen kreuzen.

Gleichen Ursprungs müßten die beiden Gattungen des Dramas – auch das Lustspiel ist ja ein Drama, obwohl dies sogar Theaterdirektoren manchmal bezweifeln – auch vollkommen gleich geachtet sein. Sie waren es, auch wieder bei ihren Erfindern, den Griechen. Die anerkannten ihre Zusammengehörigkeit, indem sie auf die Tragödie, in der grundsätzlich alles schlecht ausgeht, unmittelbar und sozusagen in einem Atem, die Komödie folgen ließen, in der grundsätzlich alles gut ausgeht. Das griechische Wort Komödie heißt auf Deutsch Dorfbelustigung. Auf ländliche Verhältnisse angewendet ist die Komödie das Totenmahl nach dem Leichenbegängnis. Dort endete ein Leben; hier beginnt es bei Tisch aufs neue und bald genug unter Gelächter.

In Hollywood kam ich auf dem Sunset Boulevard regelmäßig an einem spielerisch wie aus Marzipan hergestellten zierlichen Gebäude vorbei, in dem ein Mortuary, eine Leichenbestattungsunternehmung, und anschließend daran ein Beauty-Shop, ein Schönheitssalon, sich befindet. Nehmen wir an, daß ein und derselbe Unternehmer diese beiden durch eine Tür verbundenen Ladengeschäfte betreibt, was für einen Hollywooder Nestroy kein übler Einfall wäre, so haben wir ein gemeinverständliches Gleichnis für die Situation eines Trauerspieldichters, den es nach einem Lustspiel gelüstet: er braucht nur durch die Tür zu treten.

*

In dieser Lage befand sich Grillparzer, als er, ein Mann in reifen Jahren schon, auf ein halbes Dutzend Tragödien sein erstes und letztes Lustspiel folgen ließ. Er war, was auch wieder für die organische Verwandtschaft der beiden Gattungen ein Zeugnis ablegt, keineswegs der einzige Trauerspieldichter großen Formats, der dieser Versuchung erlag. Es ist vielmehr eine fast regelmäßige Anwandlung der Kraft, nicht der Schwäche, der gerade die Größten ausgesetzt sind. Von Shakespeare nicht zu reden, der als Lustspieldichter ebenso bahnbrechend war wie als Tragödiendichter, kann man noch andere erlauchte Namen anführen. Corneille schrieb einen »Menteur«, Racine die »Plaideurs«, Kleist den »Zerbrochenen Krug«, Hebbel den »Diamant«, Goethe die »Aufgeregten«, und der immer aufgeregte Schiller, der tränenseligste, weil er nicht nur tragisch, sondern außerdem sentimental ist, schrieb zwar nicht, aber übersetzte, und offenbar mit Lust, den »Neffen als Onkel« des Picard. Die großen spanischen Dramatiker, bei denen Grillparzer in die Schule ging, die grausamsten von allen, erholten sich von Gift und Dolch, indem sie ihrem verwöhnten Publikum in bunter Abwechslung ein leckeres Lustspiel ums andere auftischten. Kein Wunder, daß Grillparzer, ihr aufmerksamster Leser, sich von der Lust angewandelt fühlte, es ihnen gleichzutun, indem er sich damit vergnügte, eine unheroische Komödie zu erfinden, deren Held ein junger Koch ist. Noch dazu ein französischer, der auf einer Irrfahrt im mittelalterlich deutschen Barbarenlande sich den genäschigen Vers leistet:

Hier nährt man sich, der Franke nur kann essen!

Die organische Zusammengehörigkeit von Trauerspiel und Lustspiel, Komödie und Tragödie vorausgesetzt, ergibt sich die Frage, ob derjenige, der die eine Form beherrscht, sich auch zutrauen darf, die andere zu meistern. Dagegen spricht scheinbar, daß die genannten Meisterlustspiele großer Tragiker, von Shakespeare abgesehen, fast ausnahmslos vom Publikum abgelehnt wurden oder sich mit ein paar Respektaufführungen begnügen mußten. Kleists »Der zerbrochene Krug«, eines der drei anerkannt »besten deutschen Lustspiele« – das vierte, nicht so einmütig anerkannt, ist Grillparzers »Weh dem, der lügt« – wurde, unter Goethes Leitung am Weimarer Hoftheater aufgeführt, lärmend abgelehnt, Racines entzückende kleine Komödie »Les Plaideurs« zum Verdruß Ludwigs des Vierzehnten, der ein Gönner des großen Racine war, vom Pariser Publikum ausgezischt. Der einzige Molière, Statthalter des lachenden Gottes auf Erden, hatte den Mut, für den durchgefallenen Autor einzutreten, indem er bei Verlassen des Theatersaales äußerte: »Que ceux qui se moquaient de cette pièce meritaient qu'on se moquait d'eux!« – Daß diejenigen, die sich über dieses Lustspiel lustig machten, verdienten, daß man sich über sie lustig mache. Aber Molière war eine Ausnahme unter den Komödiendichtern, wie anderseits geringe Neigung auch unter den Tragikern besteht, die Vollwertigkeit und Ebenbürtigkeit des Lustspiels anzuerkennen. Sie halten es mehr oder weniger doch alle mit dem Wiener Theaterdirektor, der einmal in einer Protestversammlung dramatischer Autoren dem Vorwurf, nur minderwertige Stücke zur Aufführung zu bringen, mit der unvergeßlich ernsthaften Versicherung entgegentrat: »Glauben Sie mir, meine Herren, wir wissen auch, ein wertvolles Stück von einem Lustspiel zu unterscheiden!« Dieser zumal in Deutschland weitverbreiteten Geisteshaltung ernsthafter oder vermeintlich ernsthafter Bühnenschriftsteller, die in der Abfassung von Lustspielen nur eine leichtfertige Nebenbeschäftigung erblicken, treten die komischen Autoren ihrerseits mit dem ernsthaften Zweifel entgegen, ob denn wirklich die Tragödie die ein für allemal »höhere« Gattung wäre. Der französische Lustspieldichter Lesage erörtert diese Frage in einem reizenden Kapitelchen seines auch sonst vom besten Lustspielgeist gesegneten »Diable Boiteux«. Ein mittelmäßiger Trauerspieldichter glaubt sich herabzulassen, indem er seinem Zimmernachbar, dem Lustspieldichter, eine Anzahl soeben angefertigter pompöser Alexandriner vorliest. Aber der Mann des Lachens weiß diese Auszeichnung nicht nur nicht zu schätzen, er weist auch die Anmaßung zurück, mit der der hochtrabende Tragiker auf das Lustspiel als eine mindere Form herabblickt. Umgekehrt scheint er nicht abgeneigt, die gattungsmäßige Überlegenheit der Komödie für sich in Anspruch zu nehmen. Sie scheint ihm die zugleich menschlichere und göttlichere Form des Dramas, bei welcher Auffassung ein zeitloser Verteidiger des Lustspiels sich zugleich auf die Religion und die Philosophie berufen könnte. »Ein Heiliger, der nicht lachen kann, ist ein trauriger Heiliger!« sagte der Heilige Sales. Vom »heiligen Lachen« spricht Nietzsche. Und Schopenhauer sagt: »Kein Tier lacht!« Was die Humorlosigkeit des Faschismus erklärt.

*

Diese Gedankengänge lagen dem Dichter der »Medea« zeit seines Lebens nicht ferne, aus naheliegenden Gründen. Er war ein Österreicher, er war in Wien aufgewachsen. Das Wiener Theater war immer zur guten Hälfte, zuweilen sogar zur besseren Hälfte, ein Lustspieltheater gewesen. Es gab in Wien, was Grillparzer in London vermißte, ein zur literarischen Andacht erzogenes Burgtheaterpublikum, aber es gab auch ein herzlich unliterarisches Volkstheater, in dem man sich über den geschwollenen Burgtheaterstil herzhaft lustig machte und es mit dem Schalk Papageno in Mozarts »Zauberflöte« hielt, der komisch kleinlaut gesteht: »Mir schmerzen die Augen vom Zuhören!« Noch als Greis konnte Grillparzer, der als kleiner Junge auf den Knien des Stubenmädchens seiner Mutter im Textbuch der »Zauberflöte« buchstabieren lernte, über diese unschuldige Bemerkung Papagenos lachen. Es ist derselbe Papageno, der hoffnungslos verliebt und auf ein Wunder wartend, das ihm den Besitz seiner geliebten Papagena verschaffen soll, beschließt, bis drei zu zählen und sich aufzuhängen; und der, nachdem er den Strick sich zu Häupten am Ast befestigt hat, zu zählen beginnt: »Eins – zwei – –« und, nach einer längeren Pause: »Halbdrei!« Das ist der Humus und die feuchte Laune, aus denen in Wien das Lustspiel erwächst: bei Raimund, bei Nestroy, bei Bauernfeld und einmal sogar bei Grillparzer. Er war mit Raimund und Bauernfeld auch persönlich befreundet, was bei Raimund, dessen Volkstümlichkeit er höherstellte als Bauernfelds Salongeplauder, auf einer ursprünglichen Veranlagung beruhte – Raimund war eine Art Vorstadt-Grillparzer – aber auch noch bei Bauernfeld weit genug reichte, um ihn zu veranlassen, dessen reizend angesponnenes Lustspiel »Die Bekenntnisse« mit einem dritten Akt aus eigenem zu krönen. Übrigens steckt auch in Grillparzers Epigrammen, die er bei Lebzeiten ängstlich geheimhielt, eine in seiner Schreibtischlade versteckt angebrachte Batterie zündenden Lustspielgeistes. Etwa in einem weniger bekannten, in dem er mit seinen beiden humorlosen Zeitgenossen Friedrich Hebbel und Richard Wagner, ihren deutschtümelnden philosophischen Galimathias verurteilend, lustig ins Gericht geht:

Richard Wagner und Friedrich Hebbel
Tappen beide in romantischem Nebbel.
Das doppelte b gefällt dir nicht?
Ja, mein Freund! Der Nebel ist dicht!

*

Wie die Trauerspiele Grillparzers, so entspringt auch diese neue Komödie uraltem Legendengut. Nur daß er diesmal das Samenkorn, das seine Phantasie zum Blühen bringt, nicht im Hyginus, sondern in einer fränkischen Chronik aus dem frühen Mittelalter aufliest.

Gregor, Bischof von Langres, hat einen adeligen Neffen, der nach Friedensschluß als Geisel widerrechtlich festgehalten jenseits des Rheins in deutscher Kriegsgefangenschaft schmachtet. Die Barbaren, durch keinerlei sittliche oder religiöse Bedenken gebunden und fast so unchristlich wie ihre Nachfolger im zwanzigsten Jahrhundert, verlangen ein unerschwinglich hohes Lösegeld, zu dessen Aufbringung die Mittel der Diözese heranzuziehen Gregor ablehnt und das aus eigenem aufzubringen er bei äußerster Sparsamkeit nicht imstande ist. Seine Knauserei geht schließlich so weit, daß ihm sein Koch den Dienst aufsagt, weil es ihn bitter verdrießt, einem so filzigen Herrn zu dienen. Bei dieser Gelegenheit erfährt der muntere Leon die Wahrheit, warum und für wen der Bischof hungert, und gutherzig wie er ist, macht er sich erbötig, über den Rhein zu ziehen und den Neffen Atalus »herauszulügen«. Aber davon will Gregor erst recht nichts wissen. »Weh dem, der lügt!« ist das Thema einer Predigt, die der fromme Mann eben vorbereitet. Leon muß ihm versprechen, im Zuge seiner Unternehmung jede Lüge zu vermeiden, denn wer lügt, ist ein Feind Gottes. Leon verspricht es schließlich am Schluß des ersten Aktes, als er sich auf den Weg macht, und hält im großen, ganzen sein Versprechen allen lebensgefährlichen Schwierigkeiten zu Trotz, die der Dichter mit Lust und Laune im Naziland für ihn erfindet. Denn das sind die heidnischen Mordgesellen überm Rhein im Grunde: Hitlerleute ein Jahrhundert vor Hitler und prophetisch vorgespiegelt von dem Österreicher, dessen klarer Seherblick das Unheil herannahen sah. Was freilich Leon seine Lustspielwette mit dem Schicksal gewinnen läßt, ist etwas ganz anderes, das mit einer späteren Entartungsform des Deutschtums nichts zu tun hat. Es ist Grillparzers fast voltairisch heitere Erkenntnis, daß in einer niederträchtigen menschlichen Gesellschaft niemand auf die Wahrheit bedacht und gefaßt ist, so daß man sich ohne Schaden zur Wahrheit bekennen darf, weil sie einem ja doch niemand glaubt. So macht Leon schließlich sein Versprechen wahr, indem er mit der Wahrheit lügt. Das ist die Lustspielidee und es ist tatsächlich eine Idee, nicht bloß ein Einfall wie in irgendeinem Wald- und Wiesenlustspiel. »Nu? Hübsch gelogen?« fragt der Bischof nach der wunderbaren Rettung des fünften Aktes, indem er Atalus aus Leons Hand übernimmt:

Nu? Hübsch gelogen? brav dich was vermessen?
Dem Feinde vorgespiegelt dies und das?
Mit Lug und Trug verkehrt? Ei, ja – ich weiß!

Und Leon darauf:

Nu, gar so rein ging's freilich denn nicht ab!
Wir haben uns gehütet, wie wir konnten.
Wahr stets und ganz war nur der Helfer: Gott.

Das zuzugeben hat Leon freilich alle Ursache, denn er hat bei den Nazi nicht nur beten gelernt, er bringt auch eine Braut mit, des bösen Rheingaugrafen schöne Tochter Edrita, die ihm auf den gewundenen Wegen der Komödie zugelaufen ist, obwohl er ihr verboten hat, ihm zuzulaufen, was die kluge Edrita auch ohne Einschränkung zugibt. »Er ist –« sagt sie:

Er ist ein Mann des Rechts, des trocknen, dürren,
Das eben nur den Gegner nicht betrügt.
Allein durch ungekünstelt künstliches Benehmen
Vertraun erregen, Wünsche wecken, denen
Sein wahres Wort dann polternd widerspricht,
Das mag er wohl und führt es wacker aus!

Ein reuiger Seitenblick Grillparzers, der zu Charlottens Grab zurückschweifend mit der Komödie als solcher nicht mehr zu tun hat, als daß auch sie ein moralisches Problem abwandelt. Der Bischof aber, in den der sonst so unkirchliche Dichter des »Campo Vaccino« sich diesmal verkleidet hat, zieht in der meisterhaft geführten Schlußszene zuletzt die Summe aus den kurzweilig aus Wahrheit und Schwindel und Fügung gemischten Begebenheiten mit den Versen:

Wer deutet mir die buntverworrne Welt?
Sie reden alle Wahrheit, sind drauf stolz,
Und sie belügt sich selbst und ihn; er mich
Und wieder sie; der lügt, weil man ihm log –
Und reden alle Wahrheit, alle, alle …
Das Unkraut, merk' ich, rottet man nicht aus,
Glück auf, wächst nur der Weizen etwa drüber.

Und nachdem er Edrita, auf die der ohne sein Zutun befreite, ahnungslos hochmütige Atalus sich Hoffnung gemacht hat, mit dem kecken Leon verbunden, zu dem enttäuschten Neffen gewendet:

Du bist betrübt? Heb nur dein Aug vom Boden!
Du wardst getäuscht im Land der Täuschung, Sohn!
Ich weiß ein Land, das aller Wahrheit Thron!
Wo selbst die Lüge nur ein buntes Kleid,
Das schaffend Er genannt: Vergänglichkeit,
Und das er umhing dem Geschlecht der Sünden,
Daß ihre Augen nicht am Strahl erblinden.
Willst du, so folg, wie früher war bestimmt.
Dort ist ein Glück, das keine Täuschung nimmt,
Das steigt und wächst bis zu den spätsten Tagen
Und diese da –
(mit einer Bewegung der verkehrten Hand sich umwendend)
Sie mögen sich vertragen.

Sind das schon Kirchenglocken oder sind es noch Verse? Was sie in Schwung setzt, ist in jedem Falle ein milder, österreichischer Katholizismus, der das Sittengesetz ohne Dogmatik bejaht. Dieses, das Sittengesetz, bejaht auch der Dichter; er tut es als Christ, aber auch als Dramatiker. Denn ohne Sittengesetz gibt es kein Drama. Und darum muß es ihm doppelt schmerzlich gewesen sein, als das Burgtheaterpublikum seinen heiteren theologischen Gottesbeweis ablehnte. Ist es möglich, mochte er sich erschrocken fragen, daß man das Sittengesetz ablehnt?

Es war möglich, offenbar; und aus einiger Entfernung gesehen ist es sogar begreiflich. Das wahrhaft Große und Bedeutende wird auch vom Theaterpublikum selten auf den ersten Blick erkannt. Sogar Sophokles' »König Ödipus« mußte sich bei seiner Erstaufführung in Athen mit dem zweiten Preis begnügen.

*

Henri Bergson, der Aristoteles des Lustspiels, hat in seinem klassischen Werk »Le Rire« eine Rangordnung des heiteren Stücks geschaffen. Der mechanische Schwank, der eine abenteuerliche Situation erfinderisch abwandelt, und den man in der erzählenden Literatur der Mystery-Story oder dem Detektivroman vergleichen mag, nimmt die unterste Stufe ein. Das um ein menschliches Problem sich drehende, mit Charakteren und einem auch geistige Ansprüche befriedigenden, zum Mitdenken einladenden Dialog ausgestattete Lustspiel – das, was man im Englischen unter »comedy of manners« versteht – ist die nächsthöhere Form der Komödie; das Charakterlustspiel die höchste. Hier handelt es sich nur noch um ein Quidproquo menschlicher Eigenschaften und Schwächen, die ein überlegener Geist mit Humor betrachtet, mit Witz durchleuchtet und denen er mit seiner nachsichtigen Philosophie die heitere Seite abgewinnt. Die Charakterkomödie ist die schwierigste, seltenste, aber auch dauerndste Form des Lustspiels – so dauernd wie das cor humanum, das menschliche Herz – des Kirchenvaters und Philosophen, der Bibel und des La Bruyère –, das in seiner Vielfalt und Einfalt doch immer dasselbe bleibt. Aber vielleicht gibt es eine um nichts geringere, wenngleich nicht so wirklichkeitsnahe, auf luftigeren Wegen zur letzten philosophischen Verallgemeinerung hinstrebende Form der Komödie: das Ideenlustspiel. Ein solches ist Shakespeares »Tempest«; ein solches Raimunds »Alpenkönig«; ein solches Grillparzers »Weh dem, der lügt«. Man gerät nicht in Gefahr, ein halbes Dutzend von dieser Gattung aufzuzählen.

Das Charakterlustspiel hat es nicht leicht im Theater und das Ideenlustspiel am allerschwersten. Wo gibt es ein Parkett von Philosophen? Wo auch nur ein philosophisch geschultes Publikum? Und wenn es eines gäbe, welches Theater der Welt könnte mit den Karten, die diese Kategorie an der Kasse bezahlt, sein Auslangen finden? Das Theater für wenige ist ein Widerspruch in sich, worüber die schönsten Ideen, die ins Spiel verwoben sind, nicht hinweghelfen können.

Anderes kam dazu an jenem Maiabend des Jahres 1838, als das Wiener Burgtheaterpublikum, wie Grillparzers großer dichterischer Zeitgenosse Hebbel es ausdrückt, »vor Franz Grillparzer durchfiel«! Auf eine lärmende Weise durchfiel, muß man hinzufügen; denn es wurde auch gepfiffen und gezischt.

Die Ursache dieses lärmenden Mißerfolges war nicht nur das Unverständnis des Publikums; es gab auch noch einige andere Gründe, die unheilvoll zusammenwirkten. Einer dieser Gründe, vielleicht der Hauptgrund war, daß der Künstler, sei er nun ein Musiker, ein Maler oder ein Dichter, mehr oder weniger doch immer an die Gattung gebunden bleibt, durch die er sich zuerst erfolgversprechend eingeführt hat. Grillparzer war als tragischer Dichter in Wien berühmt geworden. Sein Ruhm gipfelte in dem für seine Laufbahn bestimmenden Augenblick, als sein drittes Stück »Medea« zum ersten Male aufgeführt eine solche Brandung von Beifall heraufbeschwor, daß er sich länger nicht verheimlichen konnte. Vom Publikum herausgerufen, lief er, wie ihn eine Zeile in einem zeitgenössischen Tagebuch verewigt »im blauen Frack lächelnd über die Bühne«. Daß aus diesem Lächeln jemals ein Lustspiel werden könnte, darauf war niemand im Zuschauerraum gefaßt, und da man nicht darauf gefaßt war, ließ man es ihn entgelten. Man wollte ihn nach einem neuen Trauerspiel lächeln sehen, nicht nach einem Lustspiel. Lustspiele schrieb der Bauernfeld oder der Nestroy oder der Raimund – wozu auch noch der Grillparzer? Schuster bleib bei deinem Leisten! Das Publikum bleibt bei seinen Schustern, auch wenn sie Stücke schustern. Es mißtraut grundsätzlich allen, die sich auf diesem empfindlichen Gebiet in einem neuen Fach versuchen.

Aber das Publikum war nicht nur empfindlich, es war auch gereizt, besonders das in den sich selbst maßgebenden Logen war es. Dort saßen mit traditionell hochgezogenen Augenbrauen die Adeligen, und auf den Adel war das neue Lustspiel genau wie sein Verfasser nicht eben gut zu sprechen. Atalus, der Neffe des frommen Bischofs, der sich seiner Befreiung so liebreich annahm, war nicht wert, befreit zu werden. Neffe Atalus ist ein Aristokrat von jener Sorte, von der es in Beaumarchais' »Figaros Hochzeit« heißt: sie haben sich die Mühe genommen, geboren zu werden. Er ist nicht nur lächerlich hochmütig, sondern auch faul und undankbar. Nachdem Leon sich glücklich bis zu ihm mit der Wahrheit durchgeschwindelt hat, indem er sich dem Grafen Kattwald, der ihn gefangenhält, als Koch verkauft, sagt Atalus naserümpfend zu dem neuen Gefährten, der ihn als Küchenjungen anspricht: »Koch? Da bist du schon was recht's!« Und zwei Akte später, da, schon auf der von Atalus nur widerwillig unternommenen Flucht, Leon die Geduld reißt und er dem untätig sich auf den Einfluß des Onkels verlassenden Bürschchen zu verstehen gibt, daß, was er für ihn tut, nur dem Onkel zuliebe geschieht: »Wär's nicht um ihn, ich ließ Euch längst im Stich!« antwortet er seinem Wohltäter: »Das wär' mir eben recht, du bist mir widrig!« Sogar Edrita, in die er doch verliebt ist, gäbe er nicht die Hand, wäre sie nicht des Grafen Kattwald Tochter, eines Barbarenhäuptlings zwar, der aber immerhin ein Graf ist. Grillparzer kannte diesen Typus; er kannte ihn von seiner Hofmeistertätigkeit im Hause des Grafen Seilern her und aus seiner amtlichen Verwendung, wo er dem bürgerlichen Kollegen trotz Unfähigkeit, Arbeitsscheu und mißgünstiger Unbeliebtheit doch immer wieder den Rang ablief, weil er eben einen Onkel hatte, auf den er sich verließ und verlassen konnte im alten Österreich. Übrigens ist die, wenn auch österreichisch angefärbte Figur, keineswegs auf Österreich beschränkt. Sie gedieh allenthalben am Rand der europäischen Fürstenhöfe und Grillparzer konnte sie, wie in der Wirklichkeit, ebensowohl im spanischen, französischen und italienischen Lustspiel studieren. Nur daß in diesen anderen Ländern die sich für ihren Stand verantwortlich fühlenden Aristokraten über sie lachten. In Österreich nahmen sie übel, daß ein bürgerlicher Komödiendichter öffentlich auszusprechen sich erdreistete, was im Grunde ihrer eigenen Meinung entsprach.

Eine dritte Fehlerquelle kam dazu und brachte das Gefäß zum Überfließen. Man versprach sich nichts von dem neuen Stück im Burgtheater, auf das es doch ausschließlich angewiesen blieb. Daß man es als eine Nebenarbeit, wenn nicht Schrulle des großen Dichters von Haus aus scheel ansah, geht schon aus dem Datum der Erstaufführung hervor. Man spielt das neue Stück eines anerkannten Dramatikers, der sich im damaligen Wien einer ebenso hohen Schätzung wie neugieriger Anhänglichkeit erfreute, nicht am 6. Mai bei zu Ende gehendem Spieljahr zum ersten Male, wenn man sich einen nachhaltigen Erfolg verspricht. Aber wer war es, der dieses unausgesprochene Urteil über Grillparzers neue Arbeit fällte? Ein neuer, höchst unbedeutender Direktor, der auf den bedeutenden Schreyvogel folgte und dem auf andere Art ebenso bedeutenden und vielleicht noch tüchtigeren Laube voranging. Es war keine gute Zeit des Burgtheaters, in welcher diese Premiere vor sich ging; es war eine blasse, ausgelaugte Epoche in seiner Geschichte wie in der Geschichte Österreichs; es war die späte Metternichzeit, in der alles überständig und alt geworden war, vom richtunggebenden Staatskanzler angefangen. Auf das Theater bezogen waren die jungen Kräfte, die Schreyvogel zwanzig Jahre früher herangezogen und erzogen hatte, nachgerade herangealtert, und die jungen Kräfte, mit denen Laube sein Theater verjüngte, waren noch nicht da. Dazu kam, daß der mittelmäßige Direktor sein subalternes Urteil auch insofern bewährte, als er, um seinen Respekt zu betonen, das unerwünschte Lustspiel in einer feierlichen Tonart von seinen alten Knaben und bejahrten Liebhaberinnen spielen ließ, wodurch er ihm alle natürliche Lustspielfrische nahm, die es besitzt trotz seiner geistigen Überlegenheit und dem klassischen Versmaß. Die beiden jungen Leute im Stück, der muntre Koch und die entzückend frauenzimmerliche Edrita, die sich auf barbarischen Umwegen am Ende doch ihren Mann holt, sind Geschöpfe eines im Herzen jung gebliebenen Dichters. Sie konnten in dieser Vollendung nur von einem reifen Meister, der über die Tragik der Liebe zu ihrem Humor vorgedrungen ist, gestaltet werden, aber sie durften um Himmels willen nicht von überreifen Schauspielern mit gesichertem Pensionsanspruch dargestellt werden.

Alle diese Gründe des theatergeschichtlich merkwürdigen Fehlschlags sind mehr oder weniger örtlich bedingt, aus der Natur Wiens und seines Publikums erklärbar. Aber einer kommt noch hinzu, der, ganz allgemeiner Natur, nicht nur in Wien, sondern überall in der Welt das Verhalten eines Theaterpublikums mitbestimmt. Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß ein enttäuschtes Lustspielpublikum sich viel grausamer zeigt als dasjenige einer enttäuschenden Tragödie. Ein schwaches Trauerspiel langweilt, ein lahmes Lustspiel erbittert; bei jenem gähnt der Zuschauer, bei diesem zischt er. Es scheint, daß man eine ungeweinte Träne leichter verschmerzt als ein ungelachtes Lachen, zu dem man eigens eingeladen wurde. Das Lustspiel ist eine vereinbarungsgemäß beglückende Gattung; es ist der in der amerikanischen Konstitution vorgesehene »Pursuit of happiness« eines Theaterabends: Wenn dann das auf dem Theaterzettel in Aussicht gestellte Glück ausbleibt, fühlt der Besucher sich nicht nur enttäuscht, sondern geradezu geprellt und wird unangenehm.

Laube, der zweite große Burgtheaterdirektor, den Grillparzer erlebte und als Direktor überlebte, behauptet, der Fehlschlag hätte sich vermeiden lassen, hätte man das neue Stück auf dem Anschlagzettel nicht Lustspiel, sondern Schauspiel genannt. Für ein Lustspiel wäre es nicht lustig genug. Auch hier wieder das traurige Mißverständnis mit einer auf Deutschland beschränkten Geschmacksrichtung. Das Lustspiel ist eine heitere Gattung, aber keine notgedrungen lustige. Oder anders ausgedrückt, es ist lustig, aber nicht ulkig, zwei Geschmacksschattierungen, die der sehr reichsdeutsche Laube etwas korporalsmäßig miteinander verwechselt. Gerade das feinere Lustspiel und erst recht das große wendet sich weit eher an den philosophisch lächelnden als an den animalisch brüllenden Betrachter. Ist der »Selbstquäler« des Terenz, ist Molières »Misanthrope« lustig? Ist es, um im Bereich deutscher Literatur zu bleiben, Lessings bezaubernde »Minna«? Zu dieser Gruppe, der erlesensten, aber zählt »Weh dem, der lügt«. Als Lustspiel hat diese geistreich lächelnde Auseinandersetzung mit dem Sittengesetz eher etwas von der umflorten Heiterkeit eines Mozartschen Scherzos, als den banalen Jubel eines siegreich vordringenden Militärmarsches.

Derselbe Laube, dessen kritischer Maßstab der Bakel des Schulmeisters ist, findet auch, daß vom dramaturgischen Standpunkt die Handlung von »Weh dem, der lügt« mehr ein Nacheinander als ein Ineinander wäre. Auch das ist richtig. Das Stück ist, musikalisch geredet, auf welchem Wege man Grillparzer, dem »Halbbruder Mozarts«, vielleicht am nächsten kommt, weniger eine Symphonie als eine Fuge, aber wenn Fuge, dann von Bach. Nur der Umstand, daß das Publikum jener ersten Nacht auf ein so kunstvoll aufgebautes Ideenkonzert nicht vorbereitet war, mag schuld gewesen sein, daß es die vom Dichter vorgeschlagene Lustspielwette verlor. Oder hat es sie gar nicht verloren und war an einem schlechtgelaunten Abend bloß nicht aufgelegt zu wetten? Das kommt beim Theater vor und ändert nichts daran, daß »Weh dem, der lügt« eines der edelsten deutschen Lustspiele bleibt und, darüber hinaus, eines, in dem die Schaubühne, nach oben deutend, sich zu dem bekennt, was sie abstammungsgemäß ist, aber nur in den seltensten Augenblicken wird: als eine weltliche Verbeugung vor Gott.


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