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Erstes Kapitel.
Schule der Armut

»Es scheint was Höheres in uns zu walten!«

(Ein Vers des Achtzehnjährigen)

 

Grillparzer ist unter dem fernen Wetterleuchten der Französischen Revolution am 15. Jänner 1791 in Wien geboren und hat, achtzigjährig, die Geburt des aus »Blut und Eisen« verheißungsvoll entbundenen Deutschen Reiches, Schlimmes ahnend, noch erlebt. Mit diesem Stundenschlag der Weltgeschichte hob der fünfte Akt der österreichischen Tragödie an, in dessen Verlauf das durch die nachfolgende »Deutsche Orientierung« wehrlos gemachte alte Habsburgerreich in seine Bestandteile zerfiel und sich schließlich zur Idee verflüchtigte. Der Reliquienschrein dieser Idee sind die Werke eines Dichters, der, Verklärung und Rechtfertigung zugleich, für Wien nicht weniger bedeuten mag als einer der großen griechischen Tragiker für ein nur noch aus ein paar schönen Tempelresten bestehendes, politisch ausgebombtes Athen.

Es war ein noch halb mittelalterliches, von einer Bastei statt einer Ringstraße hochgeschnürtes Wien, das die Wiege unseres Literaturheiligen umdämmerte, eine barocke »Kaiser-Stadt« mit einem himmelsbrünstigen gotischen Kathedralenturm und einem Wirrsal erbärmlich gepflasterter, bei Nacht völlig unbeleuchteter Gassen und schwibbogiger Gäßchen. Wand an Wand mit dem adeligen Nachbar, dessen Behausung auch in der Schauseite die zierlichen Maße eines Palästchens entre cour et jardin verriet, wohnte da der Bürger in moderigen Zinsburgen, deren lichtscheue Stuben mit den ihnen anhängenden einfenstrigen »Kabinetten« und den nur durch ein Vorderzimmer einen kümmerlichen Lichtschimmer empfangenden »Alkoven« das Labyrinth einer Stadtwohnung bildeten. Die pagodenartigen weißen Kachelöfen, die vom Korridor her mit langen Buchenscheiten geheizt wurden, rauchten mehr als sie wärmten; Badezimmer gab es keine, der Unrat wurde auf die Gasse geschüttet. Bei Tag las man am Fenster, nachts bei einer Kerze; Öllampen besaßen nur die Wohlhabenden; auch Wachskerzen waren ein Luxus, die meisten behalfen sich mit einer schwelenden Unschlittkerze, deren tropfenden Docht man, wenn er zu knistern begann, mit einer Lichtschere »schneuzte«. In einem solchen Hause, einer solchen Wohnung wuchs der kleine Grillparzer auf und wurde groß.

Das Haus war ein Eckhaus, was ihm einen etwas höheren Rang unter seinesgleichen verlieh und der Adresse zustatten kam, obwohl die unfreundliche Wohnung der Grillparzer auf das kellerartige Hasengäßchen blickte. Um die Ecke herum aber stand es am »Bauernmarkt«, was wie eine Anspielung klang, denn väterlicherseits stammte die Familie vom Lande, wie schon der bäurische Name Grillparzer vermuten ließ, und die Mutter war eine Sonnleithner, was in die gleiche Richtung wies. »Hält man diese beiden Namen, Grillparzer und Sonnleithner, nebeneinander, so glaubt man, eine niederösterreichische Dorfstraße entlang zu blicken«, schrieb Hofmannsthal, der unter allen österreichischen Dichtern dieses unseres Jahrhunderts der berufenste Nachfahr Franz Grillparzers war. Unverbrauchtes Bauernblut also, beiderseits. Immerhin war der Sonnleithnerische der eingesessenere und in gleichem Maße angesehenere Teil in der Verbindung des Rechtsanwaltes Dr. Wenzel Grillparzer und seiner mehr patrizischen Ehehälfte. Es war ein Verhältnis wie zwischen Bauernmarkt und Hasengasse. Der Bauernmarkt war die Sonnleithnersche Schauseite, aber den Haushalt bestritt am Ende doch die kleinbürgerlich enge Hasengasse.

Es war, alles in allem, ein armes und unfrohes Haus, in dem der Advokat Grillparzer mit den Seinen sein Leben mühsam abhaspelte. Ein Mann von saurer Rechtlichkeit, wie man ihr bei charaktervollen Juristen begegnet, galt er unter Kollegen und Nachbarn für einen »Josephiner«, was in Wien kein unbedingtes Lob bedeutete. Ein Josephiner war ein rationalistischer Doktrinär, der genau wie sein Vorbild, der erst kürzlich verstorbene rechthaberische Kaiser Joseph, das Prinzip über die Gefälligkeit, ja sogar über das Herkommen zu stellen wagte, was ganz unwienerisch ist. Auch waren die verstandesklaren Josephiner keine unbedingten Anhänger einer auf ererbten Vorrechten und Vorurteilen gegründeten Gesellschaftsordnung und standen schlecht mit der Klerisei; manchmal waren sie geradezu Freimaurer. Nun, die geborene Sonnleithner machte diesen Mangel an Kirchlichkeit in entgegengesetzter Richtung mehr als gut. Von Haus aus fromm, huschte sie, zumal in späteren Jahren, immer häufiger auch an Wochentagen über die finstere Gasse, um im Weihrauchdunkel einer benachbarten Kirche zu verschwinden. Dabei wurde ihre lange Nase in dem gottergeben gekränkten Gesicht, die irgendwie an einen Papageienschnabel erinnerte, immer länger und hing immer trübseliger herab. Am wohlsten war ihr, der Tochter eines begabten Komponisten augenscheinlich, wenn die Nachbarn sie Klavierspielen hörten, was sie stundenlang tat, und worin sie auch ihren Erstgeborenen, Franz, frühzeitig mit damenhafter Ungeduld unterwies. Sie hatte keinen leichten Stand neben ihrem morosen Gatten und den vier Buben, die satt zu machen von Jahr zu Jahr immer schwieriger wurde. Ihre Schwestern hatten es freilich besser getroffen; die gehörten ebenso wie der wohlhabende Bruder Sonnleithner zur »Gesellschaft«; manchmal, wenn sie in die Kramergasse auf Besuch kamen, waren sie geradezu von Hofluft umwittert.

Die Gasse war eng und ohne Ausblick; aber die Wohnung, in der Franz heranwuchs und die er uns in seinen Erinnerungen beschreibt, war von unverhältnismäßiger Weiträumigkeit. Sie schlotterte gleichsam in ihrer angemaßten und schlecht ausgefüllten Raumvergeudung, hierin dem damaligen Österreich vergleichbar, das erst später zusammenrückte. Da gab es etwa ein viel zu großes, reitschulartiges Kinderzimmer, das nur durch die auf den Lichthof hinausführenden Fenster und Glastüren ein ungesund käsiges Licht empfing, und, jenseits des Korridors, durch den man zur Kanzlei des Vaters gelangte, das bis zum Dach emporreichende schauerliche »Holzgewölb«, in dem die Kinder spielen durften und das ihre Phantasie mit Räubern und Gespenstern bevölkerte. Dieses Phantasiespiel nahmen sie sogar in die weit lebensfrohere Landwohnung, ein gemeinsames Besitztum der Grillparzerschen und Sonnleithnerschen Familie mit und dort geschah es auch einmal, daß der sechsjährige Franz im selben Augenblick wie sein um ein Jahr jüngeres Brüderchen ein schwarzverschleiertes Frauengespenst aus dem Zwielicht hervorgehen und nach einem majestätischen Marsch über den Schauplatz sich in Luft auflösen sah. Beide Kinder schrien auf bei diesem Anblick; aber während der Fünfjährige, Karl, den Schreck vergaß, verdichtete Franz zwanzig Jahre später das Familiengespenst zu seinem erfolgreichsten Stück »Die Ahnfrau«.

*

Die Familie war arm und wurde schrittweise ärmer in dem Maße, als das von Napoleon wiederholt besiegte Österreich verarmte. Franz wuchs unter Niederlagen heran. Als er zehn Jahre alt war, verlor Österreich im Frieden von Lunéville seine linksrheinischen und italienischen Besitzungen. In diesem Zeitpunkt geschichtlicher Entwicklung hatten die Grillparzer immerhin noch ein Stubenmädchen und einen männlichen Bedienten, der, wochentags als Kanzleidiener beschäftigt, am Sonntag der Mutter, wenn sie zur Kirche ging, das Gebetbuch nachtrug. Einige Jahre später, im Friedensvertrag von Preßburg, der den nächsten Krieg beendete, mußte sich das Kaisertum zu neuerlichen Abtretungen fruchtbarer Gebiete bequemen und außerdem eine beträchtliche Kriegsentschädigung aufbringen. Jener »Garten vor der Stadt« im Hügelgelände von Brunn-Maria-Enzersdorf, wo die kränkliche Mutter und die blassen Stadtkinder sommerüber etwas Landluft atmen konnten, war um diese Zeit der letzte Rest eines vormals bürgerlichen Wohlstands der Familie. Dann aber kam 1809, das Jahr tiefster Erniedrigung Österreichs im Friedensvertrag von Schönbrunn. Österreich wurde eines Fünftels seines Länderbestandes beraubt und die Währung auf ein Fünftel ihres Wertes herabgedrückt. Der Garten vor der Stadt wurde verkauft, der Diener entlassen. Und die Vereinfachung des Haushaltes ging bald darauf noch einen Schritt weiter, als der Rechtsanwalt, ein verbitterter österreichischer Patriot, es vorzog zu sterben. Er hatte sich mit dem Stücke schreibenden Sohn, den er lieber zu seinem Nachfolger in der Kanzlei erzogen hätte, nie besonders gut vertragen. Nun saß der Achtzehnjährige an seinem Totenbette und wollte reuig des Vaters Hand küssen. »Zu spät!« sagte der Advokat und zog die Hand zurück. Es war sein letztes Wort. Man hat Grillparzer zuweilen vorgeworfen, daß er – im Leben, nicht in seiner Dichtung – einen gewissen Mangel an Zärtlichkeit an den Tag legte. Er selbst wirft es sich oft genug vor. War es der Fall, wen trifft die Schuld? Der Zwölfjährige schloß einen lateinisch abgefaßten Glückwunsch an den Vater mit dem Satz: »Schenken kann ich nichts. Könnt' ich's, sicherlich schenkt' ich's Dir!« Ist das nicht Zärtlichkeit? Sie wurde nicht erwidert.

Nach dem Tode des Ernährers und der Auflösung der Kanzlei sah die Witwe mit ihren vier Söhnen sich gezwungen, die stattliche, wenn auch verdrießliche Wohnung am Bauernmarkt zu verlassen und sich am Rand des Wohlstandsviertels in einer Stadtgegend anzusiedeln, die bezeichnenderweise »Im Elend« hieß. Wien ist gleich Paris eine Stadt phantasievoller Straßennamen. Paris hat seine »Rue de la lune«, seine »Rue de la Fidélité«, ja sogar seine »Rue du chat qui pêche«; in Wien gibt es einen ganzen Bezirk »Mariahilf«, eine »Himmelpfortgasse«, eine »Sechsschimmelgasse«, und gab es, zu Grillparzers Zeit, ein totes Straßenende des »Tiefen Grabens«, das sich ohne Beschönigung »Im Elend« nannte. Die Bezeichnung ist noch ausdrucksvoller für den Sprachkundigen, der weiß, daß im Mittelhochdeutschen »Elend« und »Ausland« gleichbedeutend waren; das eine Wort schreibt sich vom anderen her; die Armen lebten gleichsam im Exil. Grillparzer, der als ein werdender Dichter im Quellgebiet seiner Sprache zu Hause war, wußte den metaphorischen Wert der neuen Adresse gewiß richtig einzuschätzen.

Er war damals schon seit zwei Jahren, nach Absolvierung des Anna-Gymnasiums, Universitätshörer und sollte Jus studieren. Das tat er versuchsweise, und daß er es tat, wird später dem Dramatiker zugute kommen, aber gleichzeitig hatte er einen spanisch gestiefelten Fünfakter »Blanka von Kastilien« im schönsten Schillerstil geschrieben. Er stand damals noch ganz unter dem Einfluß des eben erst verstorbenen großen Dichters; bei der Wiener Gedächtnisfeier im Jahre 1806 wäre er, ein schmächtiger Knabe noch, fast erdrückt worden. Zu Goethe fand er erst später.

Als das redselige Trauerspiel vollendet und von Franz und seinem Schulfreund Altmütter abgeschrieben war, wurde es anfangs 1811 beim Burgtheater eingereicht. Ein Onkel Grillparzers, der in den Augen des verstorbenen Advokaten, weil er sich mit Theaterleuten eingelassen hatte, nur ein »Windbeutel« war, bekleidete dort die sehr maßgebende Sekretärstelle. Die notleidende Familie erhoffte sich etwas von seinem Einfluß. Aber als die Entscheidung auf sich warten ließ, nahm der junge Trauerspieldichter zunächst eine Stelle als Korrepetitor bei zwei lebenslustigen jungen Grafen an, die auch die Rechte studierten oder studieren sollten, und an die ihn einer seiner Lehrer empfohlen hatte. Es war ein verheißungsvoller Anfang, der bald weiterführte; denn einen unbemittelten bürgerlichen Studenten, der fleißig war, heranzuziehen, um dem adeligen Faulpelz die Mühe des Lernens zu erleichtern, entsprach durchaus einer in Österreich fortwirkenden Überlieferung. Wenn nichts anderes, entstanden daraus Gönnerschaften. Zur andern Hand genoß auch der Erzieher auf diesem Wege eine Art weltlicher Erziehung und konnte sich zumindest sattessen und dadurch mittelbar zum eingeschränkten Haushalt etwas beitragen.

siehe Bildunterschrift

Hofansicht des Geburtshauses Grillparzers auf dem Bauernmarkt. Aquarell von Erwin Pendl. 1894.
Wien, Städtische Sammlungen. Bildarchiv der österreichischen Nationalbibliothek.

Der bewährte Weg führte auch im Falle Grillparzer weiter. Die beiden Gräflein zwar verzichteten bald darauf, sich einen tieferen Einblick in das Römische Recht zu verschaffen, dafür aber fand sich ein älterer Graf Seilern, der einen vertrauenswürdigen Hofmeister für einen mit Franz ungefähr gleichaltrigen Neffen suchte. In diesem Falle ergab sich ein weiterer Vorteil daraus, daß dem jungen Hofmeister ein weitausgedehnter Landaufenthalt auf dem mährischen Schloß des alten Grafen winkte, wo die schlimmste Zeit nach dem Staatsbankrott und vor der endgültigen Besiegung Napoleons etwas leichter zu überstehen war. Er schränkte daher zumindest für einige Zeit seine literarischen Bemühungen ein, die dem leicht Entmutigten ohnehin ziemlich aussichtslos erschienen. Was er nicht aufgab, weil ihn das Triebwerk seines inneren Wesens dazu verpflichtete, war eine fortgesetzte Selbsterziehung. Es befand sich eine schöne Bibliothek in dem gräflichen Wohnhause, und nachdem er gelernt hatte, den riesigen Schlüssel in dem verrosteten Türschloß zu handhaben, was die übrigen Mitglieder der Familie längst aufgegeben zu haben schienen, machte er lesend von ihr den ausgiebigsten Gebrauch. Er bemühte sich, wenn auch zunächst wegen der mangelhaften Sprachkenntnisse noch erfolglos, um den sichtlich nur auf eine Berührung mit seinem Genius wartenden Shakespeare und las Goldsmiths »Vicar of Wakefield« während des Sonntagsgottesdienstes in der Kirche, neben den, wie er sich ausdrückt, »erhabenen Personen« des Grafen und der sehr frommen Gräfin im Gestühle sitzend. Niemand nahm Anstoß daran, daß seine Augen auch während der Heiligen Messe in dem aufgeschlagenen Text verankert blieben, da alle davon überzeugt waren, daß ein Buch, das den Titel »Der Pfarrer von Wakefield« führte, nur ein Gebetbuch sein konnte.

siehe Bildunterschrift

Maria Anna Grillparzer, die Mutter des Dichters. Farbiges Wachsrelief.
Wien, Städtische Sammlungen. Bildarchiv der österreichischen Nationalbibliothek.

Die adelige Familie, zu der auch Grillparzer zwischen seinem zwanzigsten und zweiundzwanzigsten Jahr notgedrungen gehörte, weist einige für die damalige österreichische Landaristokratie – und vielleicht nicht nur für die damalige – charakteristische Züge auf. Der Graf, vormaliger Gesandter in Bayern, wird in einem Erinnerungsbild des Hofmeisters, mit dem er täglich stundenlang den Speisezettel erwog, nicht eben liebevoll als geizig, bigott, eigensinnig und beschränkt geschildert. Die Gräfin, die als Tochter eines Fürsten Oettingen-Spielberg im Hause die »Fürstin« hieß und brieflich als »Durchlaucht« angesprochen wurde, war nicht weniger beschränkt als ihr hochgestellter, wenn auch nicht fürstlicher Gatte, aber noch viel bigotter. Sie fuhr auch während der Woche, wann immer es der Graf der Pferde wegen für statthaft hielt, zur Kirche und sprach sich in endlosen Gebeten mit dem Himmel aus; übrigens war sie herzensgut und hatte die besten Manieren. Der Neffe war ein lebenslustiger junger Herr, dessen vermutlich unerschütterliche Überzeugung, daß er ja doch am Ende auch ein Gesandter werden würde, kein ungesunder Bildungsdrang aus den Angeln heben konnte. Später gab es auch noch ein halbwüchsiges Nichtchen im Haus, die Komteß Maria Crescentia, die im Kloster erzogen und romantisch war. Eine in Österreich beliebte Mischung, die, von Einsamkeit angefeuert, Sprengstoffwirkungen in sich birgt. Hierüber wird noch zu berichten sein.

Trotz der Eintönigkeit des Hintergrundes, von der sich diese Schloßidylle abhebt, war die Zeit, die Grillparzer auf dem feudalen Kastell verbrachte, dem Dichter nicht verloren. Das Drama braucht Charaktere und Charaktere kann man nicht erfinden; man muß sie aus dem Leben nehmen, aber sie müssen, sozusagen, absichtslos erlebt sein. Das war hier der Fall, wie sich ein paar Jahre später zeigte, als der zu sich selbst zurückgekehrte Hofmeister sein erstes gemeistertes Stück schrieb, die »Ahnfrau«. Da heben sich die erlebten und wohl auch erlittenen Gestalten des hinterwäldlerischen Grafenschlosses noch einmal aus dem Nebel seiner Erinnerungen: der elegisch seiner Jugend nachklagende pfeifenschmauchende alte Schloßherr; die romantische Nichte; die ahnfrauenhaft das Sittengesetz behütende »Fürstin«; und, als Kontrapunkt zu dieser stillen, stockenden Welt, der malerische »Räuber Jaromir«, den glaubhaft darzustellen der Dichter nur dem eigenen Ich den farbigen Mantel seiner Phantasie überzuwerfen brauchte. War dies realistische Element ein unbeabsichtigter Gewinn für sein in der Entfaltung begriffenes Talent, so kam der dem »Elend« entronnene bürgerliche Hofmeister auch sonst auf seine Rechnung. Kost und Quartier, die in dieser Zeit vor der Schlacht bei Leipzig eine Rolle spielten, ließen sich mit der armseligen Wirtschaft im Hause seiner Mutter nicht vergleichen. Seine hofmeisterliche Tätigkeit nahm ihn bei der gegebenen Lässigkeit seines Zöglings kaum ein paar Stunden täglich in Anspruch; die übrige Zeit konnte er auf seine Selbsterziehung in der Bibliothek verwenden. Die aristokratische Lebensform hat nicht nur ihre Reize, sondern auch ihre Vorteile für die Ausbildung des inneren Menschen, die nur Aristokraten oft unausgenützt ruhen lassen. Der bürgerliche Schloßgast verstand sich besser darauf als der adelige Schloßherr. Er lernte reiten; er ging spazieren; er ging auf die Jagd. Er studierte Bücher; er studierte Menschen. Und für all das bezog er schließlich noch ein wenn auch kleines Gehalt.

Um so merkwürdiger, daß Grillparzer in der »Selbstbiographie« diese auf dem Grafenschloß verbrachte Zeit die »traurigste« seines Lebens nennt. Das war sie höchstens in den allerletzten Wochen, als er an Typhus erkrankte und die abreisende Familie Seilern den Hofmeister in einem elenden Badhaus sich selbst überließ. Das Schlimmste war, daß man diesen unwürdigen Rückzug vor dem Kranken geheimhielt, vielleicht aus Menschlichkeit, wahrscheinlich aus Feigheit. Nur die »Fürstin« tat ein übriges, indem sie ihn in seiner jämmerlichen Unterkunft besuchte und eine Zeitlang weinend an seinem Bette saß, bevor sie ihn seinem, wie ihr schien, unvermeidlichen Schicksal unter Tränen überließ. Bald darauf erschien, sichtlich von ihr geschickt, der Kurat des Dörfchens, das zur Herrschaft gehörte, um die Letzte Ölung vorzunehmen. Aber der Sohn des »Josephiners« wandte ihm, das Gesicht gegen die Wand kehrend, ungnädig den Rücken. »Er phantasiert«, sagte der Geistliche, würdevoll abgehend.

Die Natur half sich, und der Patient lebte um sechzig Jahre länger, als Ihre Durchlaucht und der Bader berechnet hatten. Trotzdem man ihn nicht mehr erwartet hatte, fand Grillparzer bei seiner Rückkehr nach Wien die Stelle im Hause des Grafen Seilern noch unbesetzt, nur das Gehalt für die Zeit seiner Krankheit schien man ihm schuldig bleiben zu wollen; es bedurfte einer Befürwortung des Beichtvaters, um es schließlich flüssig zu machen. Allerdings hatten die »erhabenen Personen«, wie Grillparzer an dieser Stelle seines Lebensberichtes sagt, wie sie glaubten oder zu glauben vorgaben, triftige Gründe, dem wiederkehrenden Gespenst ihres Hofmeisters zu zürnen oder zumindest sich beleidigt zu stellen. Es waren romantische Gründe, die mit der kleinen, romantischen Nichte, der Maria Crescentia, unliebsam zusammenhingen.

Das engelsgute, mit körperlichen Reizen nicht übermäßig gesegnete Kind, im Kloster zu jeder Art von Selbstaufopferung und Entäußerung erzogen, glaubte eine Gelegenheit hierzu gefunden zu haben, als sie von der Heimkehr des Todkranken in das Elendsquartier seiner Mutter erfuhr. Sie raffte ihre paar Schmuckstücke zusammen und opferte sie auf dem Altar der Nächstenliebe, indem sie die Jungfer der »Fürstin«, der sie sich anvertraute, beauftragte, sie, ohne ihren Namen zu nennen, der Mutter Grillparzers zu überbringen. Die Jungfer übernahm den Auftrag, vertraute sich aber ihrerseits der Fürstin an, bevor sie ihn ausführte. Die Fürstin sagte es ihrem gräflichen Gatten, der als ein Mann von Welt und ehemaliger Gesandter gelernt hatte, Intrigen zu vermuten und Liebesmotive in Rechnung zu stellen. Auch mochte er in seiner Jugend die »Liaisons dangereuses« gelesen haben. Kurzum, er nahm eine unerlaubte Beziehung zwischen der Maria Crescentia, die alles nur nicht hübsch war, und dem galanten Hofmeister, der alles nur nicht galant war, ohne weitere Beweise als gegeben an und richtete sein Benehmen dementsprechend ein. Später klärte sich alles auf, die fälligen Bezüge wurden berichtigt und die Tätigkeit konnte weitergehen wie bisher. Im darauffolgenden Jahr, dem schicksalsreichen Jahre 1813, kehrte Grillparzer sogar noch einmal mit der gräflichen Familie auf einem ihrer mährischen Güter ein und blieb dort, bis eine gleich hastige wie überflüssige Flucht den Aufenthalt beendete. Man hatte in dem hochadeligen Haus, auf echt österreichische Art aus der Vergangenheit auf die Zukunft schließend, berechnet, daß die Napoleonische Armee, vor der man davonlief, die österreichische schlagen werde. Das Gegenteil geschah, und auf die nachdrücklichste Art, bei Leipzig, so daß die »erhabenen« Flüchtlinge und mit ihnen der bürgerliche Hofmeister unter Glockengeläute und Siegesjubel in Wien einziehen konnten. Aber mittlerweile war Grillparzer um Gewährung einer Praktikantenstelle beim Gefällsamt eingekommen, durch deren Verleihung sich eine längere Abwesenheit von Wien verbot. Übrigens wurde der vermeintliche Verführer von dem Grafenpaar auch nicht mehr eingeladen. Die kleine Maria Crescentia heiratete später einen Grafen Szechenyi.

Die Haltung Grillparzers dem Adel gegenüber, derjenigen seines großen Zeitgenossen Beethoven vergleichbar, blieb von dieser und ähnlichen Erfahrungen unberührt. Er schätzte das kulturelle Verdienst einer kunstbeflissenen Wiener Aristokratie, ohne sich deshalb von ihren klerikalen und sonstigen Vorurteilen abhängig zu machen. Er gab jedem seinen Rang und Titel, aber er vergab sich nichts und wußte, wenn es darauf ankam, auch einer schranzenhaften Bürokratie gegenüber nackensteif sein gutes Recht zu wahren. Bevor er in der Zollverwaltung unterkam, hatte sich der Zwanzigjährige um eine Praktikantenstelle in der Hofbibliothek beworben, die mit Übergehung seines Gesuches einem gleichaltrigen adeligen Protektionskind verliehen wurde. Sofort setzt er sich hin und schreibt dem betreffenden Amtsvorstand einen Brief, in dem er seiner »Verwunderung« Ausdruck gibt, daß der später eingebrachten Bewerbung eines »minder qualifizierten« Aspiranten der Vorzug gegeben wurde. Zum Glück war Österreich nicht Preußen. Man nahm dem ungestümen jungen Menschen die begründete Widerrede nicht übel und verlieh ihm ein Jahr später die angestrebte Stelle.

Mittlerweile war eine epochale Abrechnung der Geschichte fällig geworden. Napoleon war auf Elba verbannt und in Wien fand der große Kongreß statt, der die Weltuhr richtigstellen sollte. Sechs »Könige auf Ferien« wohnten beim Kaiser von Österreich in der Hofburg, und eine Sturzflut von neugierigem Gesellschaftsgelichter ergoß sich über die alte Kaiserstadt, in deren Mittelpunkt Metternich im weißgoldenen Saal des alten Kaunitz-Palais den Friedensverhandlungen vorsaß. Bälle und Redouten und die neuestens so beliebten Schlittenfahrten auf künstlich vereister Straßenbahn fanden täglich statt, der Magistrat Wien ließ sich nicht spotten, Feuerwerke wurden im Prater abgebrannt, der Prince de Ligne, Jubelgreis des Wiener Kongresses, machte seine letzten Witze und Wortspiele noch im Sterben, und »man amüsiert sich«, berichtete Rahel Varnhagen, die beste Briefschreiberin des Zeitalters, ihren Freunden in Berlin. Grillparzer war zu dieser Zeit bei einer entlegenen Maut weit draußen in der Vorstadt an der Verzehrungssteuergrenze damit beschäftigt, Protokolle mit Schleichhändlern und Gefällsübertretern aufzunehmen. Wie wenig er sich aus dem Wiener Kongreß machte, geht daraus hervor, daß er ihn in seinen liebevoll ausführlichen Jugenderinnerungen nicht einmal erwähnt. Er gehörte mitsamt seiner Familie zu den Armen, die, unter dem Druck der Teuerung seufzend, sich mehr von den neuen Steuern bedrückt als vom Sieg erlöst fühlten. Von ihnen wird berichtet, daß sie während der kostspieligen »Schlittagen« die schöne Welt, wie sie da in Pelz und Seide lachend an ihnen vorübersauste, mit giftigen Blicken begleiteten und, mit kalten Füßen im Spalier stehend, gehässig maulten: »Da fahren s' dahin für unsere fünfzig Perzent!« Das nämlich war der Steuerzuschlag, den der Magistrat Wien über die von zwanzig Kriegsjahren erschöpfte Bevölkerung verhängt hatte. Auch Siege wollen bezahlt sein.

Ob Grillparzer, wenn er in der Zollverwaltung Protokolle schmierte oder entzifferte, noch an sein spanisches Mantel- und Degen-Stück, die »Blanka von Kastilien«, dachte? Es war erst nach einem Jahr vom Burgtheater zurückgekommen, was vielleicht ein gutes Zeichen war. Begründung: daß es dem Grafen Palffy, dem Leiter der Hofbühne, nicht gefiele. Worauf Bezug nehmend Franz lakonisch in seinem Tagebuch notiert: »Ein Palffy soll über mein Werk urteilen!« Doch war er inzwischen selbst von dem Stück abgekommen, das, ein Bergwerk von dramatischen Möglichkeiten und Gedanken, bei allem Talent vermissen läßt, worauf es auf dem Theater vor allem ankommt: erlebtes Leben, das nachzugestalten kein siebzehnjähriger Autor jemals sich unterfangen konnte. Der Zwanzigjährige sieht das ein und anstatt den verfrühten Versuch noch einmal zu wagen, was zu tun er sich verschworen hat, unternimmt er, damals noch Student, mit seinem Schulfreund Altmütter, der in alle seine Pläne eingeweiht ist, lieber Ausflüge in den Wienerwald – nicht das Schlimmste, was ein junger Dichter in seinen Entwicklungsjahren tun kann. Auf einem solchen weiterreichenden Spaziergang auf der Höhe des Kahlenberges angelangt, genießen die beiden Freunde, Arm in Arm auf dem Postament einer umgestürzten Gartengöttin stehend, die herrliche Aussicht, als ein älterer Herr, ein Norddeutscher, behauptet Grillparzer, bedächtig wandelnd des gleichen Weges kommt und, im Vorbeigehen, mit einem erstaunten Blick die sich umschlungen haltenden Wiener Jünglinge mißt. Was soll das Postament im Walde, was die zertrümmerte Sandsteingöttin zu Füßen dieser lachenden Jugend? Aber der spitzzüngige Altmütter ist um eine Aufklärung nicht verlegen. »Ja – staunen Sie nur!« ruft er dem kopfschüttelnd Weitergehenden nach: »Der da« – auf Grillparzer deutend – »wird einen Tempel aufbauen und ich werde einen Tempel niederreißen!« Das war nicht so umstürzlerisch gemeint, als es gesagt war, erwies sich aber in der Folge als eine zutreffende Prophezeiung. Der Tempel, den der junge Chemiker Altmütter umzustürzen gedachte und tatsächlich in Trümmer legte, war Lavoisiers System der Chemie, und der Tempel, den Grillparzer über einem griechischen Grundriß zu errichten sich erkühnte, war das österreichische Drama. Vorerst freilich war er nur ein der Schule der Armut sich mühsam entwindender Schüler, ein Dichter in der Knospe, nichts weiter. Erst wenn die Knospe sich auftun wird, mag seine Kunst sein wahres Leben offenbaren, Hand in Hand mit seinem Werk. Denn der geborene große Schriftsteller, wie Grillparzer einer war, schreibt nicht, was er ist: er ist, was er schreibt.


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