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Fünftes Kapitel.
Wetten mit dem Schicksal

»Halb Charis steht sie da und halb Mänade!«

 

Was ist die Tragödie? Eine Wette mit dem Schicksal, die der Held verliert. Und was ist der tragische Dichter? Ein Mann, der von verlorenen Wetten lebt.

Wenn man die männlich reifen Jugendjahre Grillparzers unter diesem Gesichtswinkel überblickt, so muß man sagen, daß die zwei Jahre zwischen der erfolgreichen Erstaufführung der »Sappho« und der Fertigstellung der zu einem noch höheren Rang berufenen Medea-Trilogie die zugleich glücklichsten und unglücklichsten, jedenfalls aber die dramatisch bewegtesten seines ganzen Lebens waren. Es war ein Frühsommertag des Daseins wie der in Beethovens Pastoralsymphonie musikalisch dargestellte. Eine halkyonische Landschaft breitet sich im ersten Satz vor dem beseligten Blick des Wanderers aus; aber schon im zweiten Satz steigen Gewitterstürme von überall dunkel-drohend herauf. Regen schauert herab, und es wird wieder helle.

Die erste Rückwirkung seines nachhallenden Bühnenerfolges macht sich bei dem berühmt werdenden jungen Autor durch ein Anschwellen seiner Korrespondenz bemerkbar, die jetzt zum erstenmal aus dem Bezirk des Privatlebens heraus in die Öffentlichkeit tritt. Da ist beispielsweise dieser Herr Böttiger in Leipzig, ein geschäftiger Altertumsforscher und guter Bekannter Schreyvogels, dem man einen verpflichtenden Brief schreiben muß, ohne allzuviel darin zu sagen. Der junge Autor besorgt das mit vollendetem Anstand. Ein andermal kommen »sechs leichte Dukaten« von dem vormals von Goethe geleiteten Weimarer Theater, für die man gleich danken muß, obwohl es sich um eine einmalige Abfertigung für die »Sappho« handelt. Ein anderes deutsches Hoftheater zahlt nur drei Dukaten, ein für allemal, und auch das muß man hinnehmen, weil eine Gegenforderung eines österreichischen Schriftstellers an das Wiener Burgtheater von der Annahme abhängt und dem Direktor Schreyvogel damit ein Gefallen geschieht. Übrigens hat auch jene sechs, leider leichten Dukaten ein Herr Lemm überbracht, der gleichzeitig am Burgtheater gastiert und dem es um ein Echo seines Erfolgchens im heimischen Blättchen zu tun ist. Der junge Grillparzer weiß, was er seiner sich immer mehr befestigenden Berühmtheit schuldig ist. Er streicht mit der einen Hand die wohlverdienten sechs Goldfüchslein ein und nennt mit der anderen in einem Brief an Herrn Böttiger Herrn Lemm einen »tüchtigen Mann«, der dem Wiener Publikum in mehreren Rollen gefallen habe; Herr Böttiger wird es weitergeben. Dazwischen schreibt er einen sorgfältig abgefaßten langen Brief an den theatergewaltigen Grafen Brühl in Berlin, dem er die eben herausgekommene Buchausgabe der »Sappho« und »Ahnfrau« schickt, ohne sie geradezu bei ihm einzureichen, aber doch in deutlichem Hinblick auf eine mögliche Berliner Aufführung. Sie hat augenscheinlich stattgefunden. Wenigstens sind wir berichtet, daß während der dortigen Aufführung ein berühmter Berliner Altphilologe von seinem Sitze hochsprang und mit dem Ausruf »Das ist dummes Zeug!« seiner Meinung über das Wiener Machwerk ungezwungenen Ausdruck lieh.

In Baden bei Wien, wohin der Herr »Konzeptspraktikant der K. K. Allgemeinen Hofkammer« – dies sein augenblicklicher Dienstrang – zusammen mit seiner Mutter zum Kurgebrauche sich begibt, macht Grillparzer die Bekanntschaft einer Mademoiselle Blandini, die am dortigen Theater jugendliche Liebhaberinnen spielt. Sie träumt davon, an ihrem Benefizabend, auf den sie große Hoffnungen setzt, die so erfolgreiche »Donna Diana« zu spielen, über die, als Übersetzer, der Burgtheaterdirektor Schreyvogel ausschließlich verfügt. Grillparzer rühmt zwischen zwei Schwefelbädern in einem Brief an seinen Freund Schreyvogel die bescheidenen Talente der vielversprechenden jungen Künstlerin, die dies und das und »was die Hauptsache ist, recht hübsch ist«. Daß hübsch zu sein den entscheidenden Vorzug einer weiblichen Bühnenbegabung ausmache, dürfte Schreyvogel bei diesem Anlaß nicht zum erstenmal von einem im Aufstieg begriffenen jungen Autor erfahren haben.

Wichtiger ist, daß der seit der Besiegung Napoleons in Österreich allgewaltige Fürst Metternich den Dichter der »Sappho« kennenzulernen wünscht und ihn in der Staatskanzlei im Beisein seines publizistischen Kabinettsdirektors Gentz in aller Form empfängt. Metternich war ein Tory, aber auch ein kennerischer Freund des Theaters und der Dichter, wenn auch auf Große-Herren-Art nur derjenigen, die schon berühmt waren. Grillparzer war es, und so trug ihm Metternich mit dem ganzen Charme, den er bei solchen Gelegenheiten aufbrachte, seine Protektion an. Grillparzer war in der angenehmen Lage, bis auf weiteres nur für das Anerbieten zu danken. Hatte doch bereits Graf Stadion ihn vom Gefällsamt weg in die Allgemeine Hofkammer verschoben und an einer ihm passend erscheinenden Stelle, in der Theaterabteilung, untergebracht.

Was, wird der in den Geheimgängen der österreichischen Bürokratie unbewanderte Leser fragen, hatte der Finanzminister Stadion mit dem Theater zu tun und was für ein Amt verbirgt sich unter dem aufgeschwollenen Titel einer »Kaiserlich Königlichen Allgemeinen Hofkammer«? Dieselbe Frage soll einmal Napoleons Söhnchen, der vormalige König von Rom, jetzt Herzog von Reichstadt, an seinen Großvater, den Kaiser Franz, getan haben, der, den Enkel an der Hand führend, mit ihm an einem riesigen quadratischen Gebäude vorüberkam, hinter dessen tausend Fenstern je eine Kerze brannte. »Was für ein Haus ist das?« fragte das Kind. »Das ist das Finanzministerium«, belehrte ihn der Großpapa. »Was ist das, das Finanzministerium?« fragte der unschuldige Knabe. Und darauf der Kaiser: »Das Finanzministerium ist die Allgemeine Hofkammer. Da gibt's viele hundert Kammern und in jeder dieser Kammern sitzen zwei Beamte und suchen jahraus, jahrein beim Schein einer Kerze einen Kreuzer und können ihn nicht finden.« Manchmal war dieser Kreuzer den Theatern des Hofes zugedacht, deren Fehlbetrag der Kaiser von Österreich bis zum Zusammenbruch der Habsburg-Dynastie jeweils aus eigenen Mitteln deckte. Zu welchem Zwecke man die Theaterabteilung in der Hofkammer eingerichtet hatte, zu welcher auch das Burgtheater ressortierte. Und da Grillparzer sich neuestens zum Stolz des Burgtheaters entwickelt hatte, war es naheliegend, ihn dort hineinzubugsieren.

Naheliegend, aber nicht eben beglückend für den jungen Burgtheaterautor. Der Amtsleiter der Theaterabteilung war ein wenig angenehmer Hofrat Fuljod, der, da er das dichterische Protektionskind von seiner Abteilung nicht hatte fernhalten können, es wenigstens nach Möglichkeit schlecht behandelte. Grillparzer rächte sich in einem Epigramm, in dem er von dem als Verbindungsoffizier zwischen der Hofbühne und der Regierung dienenden Hofrat sagt, er sei »Hofrat im Theater und Komödiant im Büro«. Dann geht er auf Urlaub.

Auch eine Korrespondenz mit Verlegern hat der junge Autor bereits. Der Verlag Brockhaus in Leipzig bewirbt sich um die Buchausgabe der »Sappho«. Grillparzer hält ihn vor der Aufführung brieflich hin, dann, vom Erfolg ermutigt, weist er ihn ab. Er bleibt seinem Wiener Verleger, Wallishauser, treu, der fünfhundert Gulden für die »Sappho« zahlt. Dennoch war es ein Fehler, denn was Herr Wallishauser in Wien druckt, bleibt ein Geheimnis in Deutschland. Nicht einmal Goethe, dem so leicht nichts entgeht, was bei Cotta oder Brockhaus erscheint, hat von dieser Buchausgabe etwas erfahren. Es ist anzunehmen, daß er sie nie in die Hand bekam.

Aber der Erfolg ist unberechenbar; sogar der österreichische Patriotismus kann sich, von ihm begünstigt, lohnen, was sonst kaum der Fall ist. Der ruhmgekrönte Dichter der »Sappho« erfuhr es, als ihm eine »Gesellschaft dramatischer Kunstfreunde« in Wien, ohne viel Worte, eine Ehrengabe von tausend Gulden in Form einer Bankaktie ins Haus schickte. »Von Tausenden gesucht und nicht errungen«, konnte er mit Sappho sagen. Kein Wunder, daß er, von solchen Ehrungen geschwächt, Ende August dieses glückverheißenden Jahres, anstatt ins Büro zurückzukehren, lieber nach Gastein hinauffuhr, um seine mit jeder gut besuchten Aufführung der »Sappho« schwankender werdende Gesundheit wieder herzustellen. Schließlich war er ja auch Theaterdichter, und ein Theaterdichter kann man auch in Gastein sein. Diese Doppelfunktion eines Dichters, der sich auf sein Amt, und eines Beamten, der sich auf die Dichtung ausreden kann, hätte Graf Stadion nicht liebenswürdiger erfinden können.

*

Festangestellter Theaterdichter, was heißt das eigentlich? Es heißt, daß das junge Genie darauf bedacht bleiben muß, immer wieder ein Erfolg versprechendes Stück fürs Burgtheater zu schreiben, was nicht so einfach ist, wie es sich der Laie vorstellt, da ein Stück zu schreiben nicht nur Talent, sondern auch einen Stoff, an dem es sich entzünden kann, voraussetzt. Nun, wir haben gesehen, wie ihm der Stoff der »Sappho« im Prater zuflog, und ganz ähnlich erging es ihm jetzt mit der »Medea« in Baden. Während er, frisch angekommen, auf das Freiwerden seines Zimmers wartet, blättert er ein für den Gebrauch wißbegieriger Badegäste bestimmtes »Mythologisches Lexikon« auf und liest darin, stehend, den Artikel über Medea. Zufall? Doch nicht so ganz. Grillparzer war immer ein großer Leser, wie es die großen Schriftsteller vergangener Tage alle waren. Der Schriftsteller, der nicht liest, um nicht in der Betrachtung des eigenen Nabels gestört zu werden, ist eine Ausgeburt erst des zwanzigsten Jahrhunderts. Eine allgemeine Literaturverschlechterung war die natürliche Folge; ohne Literatur keine Literatur.

So hat er also, drei Monate nach der »Sappho«, schon wieder einen anderen Stoff. Und was für einen! Euripides hat ihn nicht verschmäht, und die große Szene, in der der undankbare Jason der »Barbarin« den Abschied gibt, um die korinthische Königstochter zu freien, kann man kaum besser schreiben als er. Grillparzer wird sie in sein Trauerspiel einbauen. Denn wie Shakespeare, Molière, Racine ist er groß genug, um zu wissen, daß die großen Situationen des Theaters ewig wiederkehren und daß man sie nur neu durchbluten muß, um sie unsterblich zu erhalten.

Aber er will nicht wieder eine »Sappho« schreiben. Er will tiefergehen diesmal, und dazu muß er weiter in die Breite gehen. Da ist nicht nur diese wilde Zigeunerin Medea, die an dem geliebten Mann verzweifelnd ihre ihm geborenen Kinder tötet: da ist auch das »Goldene Vließ«, der Nibelungenschatz der Antike, das Sinnbild weltlichen Erfolges, das der Streber Jason in Kolchis zusammen mit der schönen Braut erbeutet hat, und das zehn Jahre später in Korinth seinen Charakter untergräbt. Der Streber Jason! Dabei fällt ihm von ungefähr sein Vetter Paumgartten ein und Charlotte, die er vor einem halben Jahr geheiratet hat und die mit ihren schwarzen Haarschlangen über der weißen Marmorstirn wahrhaftig wie eine Medea aussieht. Nun, zum Glück ist da auch noch eine andere Dame der Wiener Gesellschaft, die ihm zu einer Medea Modell stehen könnte, die Frau des Musikverlegers Mechetti, eine Italienerin. Er wird die Modelle mischen. Denn Modelle braucht er, damit beginnt bei ihm die Kunst der Charakteristik, worin er Meister zu werden verspricht. Er kann nicht Charaktere aus der Geschichte nehmen wie Schiller, er muß sie lebendig vor Augen haben – auch wenn er sie aus der Geschichte nimmt. Das ist das Neue an ihm, das in unserem Sinn Moderne, das ihn am Ende seines Jahrhunderts, lang nach seinem Tod, zu einem Vorläufer der jungen Wiener Dichterschule machen wird.

Vorläufig plant er seine Medea und plant sie sofort als Trilogie, um über den Abgrund der zehn Jahre zwischen dem Abenteuer in Kolchis und dem Entsetzlichen in Korinth hinwegzukommen. Aber noch fühlt er sich zu erschöpft, um ein solches Riesenwerk in Angriff zu nehmen, und die Badner Schwefelbäder erschöpfen ihn noch mehr. Statt kräftiger fühlt er sich nur immer schwächer werden. Da trifft es sich wunderbar und ganz im Stile dieses glückbedachten Jahres, daß es ihm die Einladung des Lilienfelder Abtes Ladislaus Pyrker ermöglicht, mit diesem nach Gastein hinaufzufahren. Zwei Stunden später sitzt er im Wagen, und das landschaftliche Bilderbuch der österreichischen Voralpen blättert sich vor ihm auf in köstlichen vier Reisetagen. Denn so lange brauchte man damals noch, um ohne Überstürzung in der Kalesche sich zum Kurgebrauch nach Gastein zu begeben. Schon die Fahrt war eine Kur.

*

Wenn Grillparzer, von den prickelnden Thermen neubelebt, glaubte, daß in Wien nur die neue Tragödie, die er in Gedanken auszuführen begann, auf ihn warte, so hatte das Schicksal anders gewettet, wie er alsbald merken sollte. Es spinnen sich noch andere Tragödien an, wenn auch von Medea mitbedingt. Als er in Baden das Mythologische Lexikon aufschlug, hatte er keine Ahnung, in was er sich eingelassen hatte.

Der erste verhängnisvolle Schritt, den er in Wien tat, war ja schon, daß er seine Jugendbekannte Charlotte von Paumgartten zu seiner »Tragischen Muse« ernannte. Das dunkle, phantastische Weib mit dem Medusenblick schien ihm allerhand von Liebestränken und den Urgeheimnissen des Frauentums zu wissen. Auch war sie für den Stoff, den er ihr anvertraut hatte, sofort Feuer und Flamme.

Aber nicht von dieser Seite drohte fürs erste das Unheil. Ganz im Gegenteil, das Unglück, das sich aus dieser Beziehung entwickeln sollte, kündigte sich, wie so oft im Leben, vorerst als ein außerordentliches Glück an. Während er beseligt und gebannt in diese Richtung starrte, brach das Grauenvolle aus der entgegengesetzten völlig unerwartet über ihn herein.

Es war wieder einmal die Familie; die kümmerliche und bekümmerte Familie des verstorbenen Advokaten Wenzel Grillparzer, die seinem Erstgeborenen, Franz, kaum daß man aus den schlimmsten Elendsjahren heraus war, immer neuen Kummer bereitete. Diese Familie, so durchschnittlich sie sich in ihrer gedrückten Kleinbürgerlichkeit ausnahm, war alles, nur nicht bürgerlich normal, und was noch schlimmer war, sie brachte dem hypochondrischen Dichter stets aufs neue zum Bewußtsein, daß auch er, der die Familie im Blute hatte, die abgründigsten Möglichkeiten in sich trug. Kaum war die »Ahnfrau« aufgeführt worden, als sich sein jüngerer Bruder Adolf, ehemaliger Sängerknabe und Konviktszögling, später Lehrling in einem Kolonialwarengeschäft, in einem Anfall liederlicher Geistesgestörtheit in die Donau stürzte. Seither hatte sich auch der Gemütszustand der Mutter unheilbar verdüstert, woran die Ehrungen, die ihr bei der Erstaufführung der »Sappho« zuteil wurden, nichts mehr ändern konnten. Sie kränkelte andauernd und schien sich innerlich reisefertig zu machen, was man auch daran merken konnte, daß sie immer frömmer wurde. Immer häufiger sah man jetzt die kleine Dame mit den hochgespannten Brauen und der elegisch gekränkten Papageiennase in dem unterernährten Gesicht im Kirchendämmer verschwinden und stundenlang im Gebet verharren. Die Nachbarn zwinkerten und redeten, lieblos, wie Nachbarn zuweilen sind, von beginnendem religiösem Wahnsinn. Auch Grillparzer spricht davon, wenngleich nicht so psychiatrisch determiniert.

Im Winter, der auf den Gasteiner Sommer folgte, verschlechterte sich ihr Zustand. Die rührige kleine Frau wurde bettlägerig, wollte aber nicht im Bette bleiben, sondern zur Beichte gehen. Der Arzt verbot ihr aufzustehen, was sie immer wieder versuchte. Franz, um sie zu beruhigen, versprach ihr, da es schon spät abends war, am nächsten Tag selbst den Pfarrer herbeizuholen. Sie ließ es scheinbar dabei bewenden und er legte sich schlafen. Nach Mitternacht trommelt die Magd an seine Türe: Die »alte Frau« – sie steht im zweiundfünfzigsten Lebensjahr – mache sich ausgehbereit. Grillparzer öffnet die Tür zu ihrem Zimmer und findet sie, merkwürdiger Anblick, zu Häupten ihres Bettes, halb angekleidet, stehen. Sie steht vollkommen bewegungslos. Er »befiehlt« – der autoritär gelenkte Staat verleugnet sich in der Wortwahl seines Berichtes nicht – den Mägden, die gnädige Frau zu Bett zu bringen, und eilt selbst zum Arzt. Der kommt und stellt fest, daß Marianne Grillparzer sich erhängt hat. »Die dummen Weibsbilder«, fährt Grillparzers autobiographische Darstellung fort, »hätten sich gescheut, die Leiche anzurühren.« Warum, fragt man sich, beschuldigt er die Dienerschaft, da er doch selbst verabsäumt hat, die Reglose aufs Bett zu heben? Vielleicht tut er es, um die eigene Kopflosigkeit zu bemänteln. Die ganze Erzählung macht einen möglicherweise nicht unbeabsichtigten verworrenen Eindruck. Er spricht immer nur vom Tod der geliebten Mutter, nie von ihrem Selbstmord. Wer wird dem wahrheitsliebendsten aller Dichter einen Vorwurf daraus machen, daß er in diesem Fall die ihn zutiefst erschütternde Wahrheit scheu verschleiert?

Wie so oft vor einem auf ewig verschlossenen Mund bleibt die Frage offen, was hat die Unglückliche dazu bewogen, den eigenmächtigen Schritt ins Nichts zu tun? Der religiöse Wahnsinn, von dem die Klatschbasen in ihrer Umgebung redeten, scheidet aus, weil ein gesteigerter Grad von Frömmigkeit die strenggläubige Katholikin eher davon hätte abhalten müssen, eine Tat zu begehen, die im Sinne der Kirche eine Todsünde ist. Bleiben also als vermutlicher Antrieb zu einer Verzweiflungstat nur die mißlichen Familienverhältnisse, die allerdings mißlich genug waren, daß eine Frau in dem verhängnisvollen Lebensstadium am Anfang des fünften Jahrzehnts darüber den Verstand verlieren konnte. Die arme Frau hatte ihren Mann verloren und vier Söhne behalten. Adolf, der jüngste, der während der Aufführung der »Ahnfrau« die ganze Zeit halblaut gebetet hatte, war ihr im Selbstmord vorangegangen. Karl, der Zweitälteste, der als Soldat vom Krieg gelebt hatte, war ein Opfer des Friedens; aus dem Heeresverband entlassen, hatte er sich, so hieß es, von der französischen Fremdenlegion anwerben lassen und galt seither als verschollen. Kamillo, der nächste, war ein hungriger, kleiner Schreiber. Blieb nur der Franz, den sie vergötterte und mit dem sie hin und wieder noch reden konnte, aber nicht in Worten, nur in Tönen, wenn sie zusammen vierhändig spielten und über Beethoven, Mozart, Haydn den jämmerlichen Alltag vergaßen. Aber auch Franz war ein Sorgenkind, was sie freilich kaum sich selbst, geschweige denn anderen einzugestehen wagte. Sie wußte alles von ihm, und seine häufiger werdenden Besuche bei der schönen und koketten Frau ihres Neffen mochten, wie sich unschwer erraten läßt, ihr frommes Gemüt mit zunehmender Besorgnis erfüllen. Auch der Ehebruch ist, nach katholischen Begriffen, eine Todsünde. Vielleicht beging sie die eine, um sich der Mitwisserschaft um die andere zu entziehen, seelisch in die Enge getrieben und ausweglos, wie sie sich sah. Aber freilich, all dies sind nur Vermutungen vor einem schweigenden Mund. Summierte Gründe waren, wie gewöhnlich, der letzte Grund. Die verzagte, kleine Frau gab den übergroßen Kampf um das armselige bißchen Leben auf.

Das Trauerspiel im Hause vergällte ihm die Lust an seinem Trauerspiel. »Medea« blieb liegen, als hätte sie ihn niemals angesprochen, und anstatt Vers auf Vers, Replik auf Replik, Szene auf Szene zu bauen, schrieb er nach einigen Wochen unschöpferischer Schwermut ein wohldurchdachtes Gesuch an den Präsidenten der Hofkammer, in welchem der Urlaubskünstler um Gewährung eines neuen, diesmal etwas längeren Urlaubs bittet. Sein Arzt hätte ihm zur Wiederherstellung seiner durch allertraurigste Erlebnisse schwer erschütterten Gesundheit eine italienische Reise verordnet, die ihm auch »als Dichter die klassischen Vorbilder näherbringen würde«. Nun wäre es klar, daß man vernünftigerweise nicht für ein paar Wochen nach Italien fahren könnte. Sechs Monate wären das wenigste. Aber als der gewissenhafte Beamte, der er ist, würde er sich mit drei Monaten begnügen. Ein Meisterwerk von einem Urlaubsgesuch.

Das Gesuch wird bewilligt und der gute Vetter Ferdinand tut ein übriges, indem er dem Vetter Franz einen Platz im Wagen des Grafen Deym bis nach Venedig verschafft. Franz darf sogar etwas zuzahlen, so daß er nicht das Gefühl hat, freigehalten zu sein. Worauf er Wert legt. Der Vetter Paumgartten kennt ihn.

Die beiden Herren fahren im Wagen bis nach Triest und schaukeln von dort in einem nach »Käse und Thran« übelduftenden »Handelstrabacolo« nach Venedig hinüber, das damals noch österreichisch war. Von Venedig ist Grillparzer entzückt wie jeder Dichter. Auch Lord Byron ist es, dessen aufsehenerregender Liebeshandel mit der schönen Frau eines venezianischen Bäckermeisters eben viel von sich reden macht. Der österreichische Gouverneur Graf Gös lädt den ihm von Paumgartten empfohlenen, durchreisenden Wiener Dichter zusammen mit Byron zum Essen ein. »Er wird kommen«, bemerkt er dazu echt österreichisch, »denn ich hab ihm erst unlängst eine Gefälligkeit erwiesen!« Die Gefälligkeit des Gouverneurs hatte darin bestanden, daß er Byron gegen Gewalttaten des mit Recht eifersüchtigen Bäckers und des von diesem aufgewiegelten Pöbels in Schutz nahm. Aber leider kam es nicht zu dieser Begegnung. Grillparzer mußte beim Grafen Gös absagen, weil Graf Deym die Karwoche in Rom nicht versäumen wollte und dies um so weniger, als sich der österreichische Hof dort eben eingefunden hatte. Es fügte sich nämlich, daß zur selben Zeit auch der Kaiser Franz und die Kaiserin eine politische Vergnügungsreise nach Italien unternahmen, die sich bis Sizilien ausdehnen sollte. Indem Grillparzer sich dem eiligen Grafen Deym anschloß, schloß er sich zugleich der österreichischen Hofgesellschaft an, mit der er in der Folge bis nach Neapel hinunter und dann wieder zurückfuhr. Er brauchte sich nicht einmal darum zu bemühen, da sich, von fünf einander ablösenden Grafen beschützt, wie er war, alles von selbst machte, und auf die bequemste Weise. Alles was er zu tun hatte, war, daß er die ihm von allen Seiten aufgedrängte Gunst auf ein vernünftiges Maß beschränkte, und wo sie dieses überstieg, wie sich später zeigen wird, die Grafen dafür verantwortlich machte.

Die Karwoche in Rom war ein Traum in einem Traum, der mit etwas römischem Fieber und einem empfindlich ins Schwanken geratenen Gesundheitszustand nicht allzu teuer erkauft war. Schließlich führt ihn sein Leiden, an dem, wie an allen Dichterleiden, die Phantasie reichlich Anteil hat, mit Dr. Jäger, dem Leibarzt des Fürsten Metternich, zusammen, was auch wieder seine Vorteile hat. Der Arzt in adeligen Häusern hatte in jenen Tagen der alten Ordnung eine ähnliche Stellung wie der Beichtvater, und so ist es durchaus möglich, daß er, indem er unauffällig auf die gleichzeitige Anwesenheit des Dichters aufmerksam machte, Metternich veranlaßte, Grillparzer zum Diner einzuladen. Diese Begegnung, die im Palaste des Herzogs von Salerno in Neapel stattfand, bot dem damaligen Lenker der Geschicke Österreichs zugleich Gelegenheit, sein Licht vor dem berühmten Gast leuchten zu lassen, indem er nach dem Essen den Vierten Gesang des Childe Harold von Byron frei aus dem Gedächtnis rezitierte. Sichtlich war diese Sondervorstellung darauf berechnet, auf den Dichter Eindruck zu machen, der die Auszeichnung zu schätzen wußte. Trotzdem spricht dieses eitle Gastgeschenk auch für Metternich, der ein Freund der Dichter war. Er korrespondierte mit Goethe und sogar der liberale Heine, dessen Gedichte er nach dem Essen seiner jeweiligen Gattin gerne vorlas, brüstet sich in seiner letzten Vorrede zum »Romanzero« mit seiner mehr als oberflächlichen Beziehung zu dem österreichischen Staatsmann.

Schon in Rom hatte Grillparzer einen dritten gräflichen Beschützer gefunden, in der Person des Grafen Wurmbrand, der ihm auf dem Wege nach Neapel auf feine Art einen Platz in seiner Kutsche anbot. Graf Wurmbrand war Obersthofmeister der Kaiserin, ein Vorgesetzter Paumgarttens, der ihn in einem nach Rom gerichteten Schreiben gebeten hatte, Grillparzer aufzusuchen. In Neapel angelangt, ging der gefällige Graf noch einen Schritt weiter, indem er seinem Reisebegleiter ein Zimmer in seinem vom König von Neapel ihm eingeräumten und bezahlten Absteigquartier zur Verfügung stellte. Grillparzer könne sich, wenn er Wert darauf lege, erkenntlich erweisen, indem er ihm, Wurmbrand, behilflich wäre, die Rechnungen Ihrer Majestät der Kaiserin einmal in der Woche in Ordnung zu bringen. Wieder hatte der feinfühlige Dichter das ihn beruhigende Gefühl, eine ihm zuteilgewordene Gunst durch eine Leistung zu erkaufen und dabei seine Unabhängigkeit zu wahren.

Aber Hofgunst ist ein Oktopus, dem sich zu entziehen nicht so leicht ist. Wurmbrand hatte es sich augenscheinlich in den Kopf gesetzt, seinen Reisefreund mit der Kaiserin in Verbindung zu bringen, über deren Tageseinteilung er als Obersthofmeister jederzeit ganz genau unterrichtet war. Wenn sie irgendwo ein Museum besuchte oder eine Aussicht bewunderte, sagte er es Grillparzer vorher, indem er ihm freistellte, sich zur selben Zeit am gleichen Orte einzufinden, um vorgestellt und ins Gespräch gezogen zu werden. Grillparzer, als der Sohn des Josephiners, der er war, lehnte dies ab. Wenn Ihre Majestät ihn dieser Gnade für würdig erachte, stehe er jederzeit und überall zur Verfügung, aber es widerstrebe ihm, sich durch die Hintertür an sie heranzudrängen. Eine ebenso stolze wie kluge Antwort, die er auch zu begründen weiß. Die Kaiserin, sagt er in der »Selbstbiographie«, wäre durch die Strenge ihrer religiösen Überzeugungen bekannt gewesen, »indes seine eigene Religiosität sich nicht sehr in den kirchlichen Formen bewegte«. Mit anderen Worten, die Kaiserin war klerikal, Grillparzer nur katholisch. Er wünschte, seine dichterische Freiheit nicht durch »aufgedrungene Rücksichten« zu beengen, die jede »ausgesprochene Gunst« ihm auferlegt haben würde. Den Habsburgerstaat konnte er freilich nicht ändern; aber auf die Gunst wollte und konnte er verzichten. Dennoch entging er seinem Schicksal nicht ganz. Das Gerücht, daß er im Gefolge der Kaiserin reise und ihr Privatsekretär geworden wäre – eine Stelle, die der gute Paumgartten innehatte –, war bis nach Wien gedrungen, und Karoline Pichler erkundigte sich bereits in einem ihrer nach Rom gerichteten Briefe, ob es denn wahr wäre, daß »Tasso« eine Stelle bei Hofe gefunden hätte? Und auf die jeder Weltdame geläufigen Liebesbeziehungen »am Hofe von Ferrara« anspielend, gab sie der eifersüchtigen Hoffnung Ausdruck, er werde sich nicht in eine schöne Hofdame verlieben. Vergessen wir nicht, die gute Karoline hatte eine heiratsfähige Tochter, die hin und wieder mit dem Dichter der »Sappho« auf dem mütterlichen Klavier vierhändig spielte.

siehe Bildunterschrift

Sophie Schröder als Medea. Ölgemälde von Josef Krafft.
Wien, Porträtgalerie des Burgtheaters. Bildarchiv der österreichischen Nationalbibliothek.

Mittlerweile ergab sich in Neapel eine andere Verwicklung. Graf Wurmbrand hatte sich bei Besichtigung des Schiffes, das die Majestäten nach Sizilien bringen sollte, das Bein gebrochen und lag zu Bette. Er bat Grillparzer, bei ihm auszuharren, was dieser um so weniger ablehnen konnte, als der Graf sich anheischig machte, die Verantwortung für die Verlängerung des Urlaubs zu übernehmen. Es dauerte einen vollen Monat, ehe sie sich nach Rom aufmachen konnten, wo dem Obersthofmeister der Kaiserin von Österreich und ihrem vermeintlichen Sekretär ein Appartement im Quirinal zur Verfügung stand. Mit einer solchen Unterkunft waren nicht zu unterschätzende Aufmerksamkeiten auch für den »Sekretär« verbunden, die dieser sich gefallen lassen mußte, obzwar sie nachgerade den Charakter lustspielmäßiger Übertreibung annahmen. Grillparzer erhielt eine päpstliche Equipage, einen Bedienten und einen Abbate zugewiesen. Der päpstliche Staatssekretär machte ihm gleich nach seiner Ankunft einen förmlichen Besuch, eine ungewöhnliche Auszeichnung, die sich nur damit erklären ließ, daß der Besuch dem Obersthofmeister der Kaiserin von Österreich zugedacht war. Grillparzer war eben in Hemdärmeln und langte verlegen nach seinem über eine Stuhllehne gehängten Rock. Aber der Staatssekretär Consalvi kam ihm zuvor und half ihm mit echt italienischer Höflichkeit und Beflissenheit in das mit gespreizten Fingerspitzen emporgehaltene Dichterröcklein. Eine andere Folge der ihm angemaßten Sekretärstellung war, daß Wurmbrand ihm anbot, ihm eine Privataudienz beim Heiligen Vater zu verschaffen. Aber der bockbeinige Josephiner Grillparzer scheute den Handkuß. Er wich höflich aus und fiel dabei in eine andere römische Grube. Ein wieder anderer Graf – ein reichsdeutscher Schaffgotsche, das Haupt der schlesischen Katholiken – bot ihm an, ihn in den Vatikan mitzunehmen, wo er eine Anzahl Rosenkränze, die seiner schlesischen Heimat zugedacht waren, vom Papst weihen lassen wollte. Diesmal wurde Grillparzer schwach. Er dachte an einige weibliche Bekannte in Wien, denen, da sie keine Josephiner waren, ein solcher vom Heiligen Vater gesegneter Rosenkranz Freude machen würde, kaufte rasch ein paar Gebetschnüre und schloß sich seinem liebenswürdigen Begleiter an. Die Rosenkränze vor sich auf dem Parkettboden des vatikanischen Audienzzimmers ausgelegt, nahmen sie nebeneinander in einer langen Reihe von Bittwerbern Aufstellung. Der Papst erschien »in einem weißseidenen Pilgergewande und einem rotseidenen Schifferhute«, ging die Reihe der Knienden entlang und segnete, von Mal zu Mal stehenbleibend, die zu seinen Füßen ausgebreiteten Devotionalien. Die kleine Zeremonie endete damit, daß er, bevor er den nächsten Schritt tat, jeweils »mit dem Fuß vorwärts schleifte«, der bei solchem Anlaß, der Etiquette entsprechend, geküßt werden mußte. Auch Grillparzer mußte sich, trotz Freisinn, dazu bequemen, da er andernfalls, wie er sich ausdrückt, in Gefahr gewesen wäre, »von den Schweizer Garden zum Fenster hinausgeworfen zu werden«. Und so kam es, daß er, der den Handkuß verschmäht hatte, den Fuß der Kirche küssen mußte. »Alles rächt sich!« schließt er, viele Jahre später, den launigen Bericht seines kleinen kirchlichen Abenteuers.

siehe Bildunterschrift

Der Michaelerplatz mit dem alten Burgtheater. Zeichnung von Rudolf Alt.
Lithographie von X. Sandmann. Wien, Städtische Sammlungen.

Als weit bedenklicher stellte sich ein anderer Zusammenstoß mit der Kirche heraus, der sich aus dieser italienischen Reise schicksalsmäßig ergab. An den hohen klassischen Vorbildern schrittweise erstarkend, wie er es sich in seinem Urlaubsgesuch vorgenommen hatte, machte er unterwegs ein paar Gedichte, darunter ein längeres unter dem Titel »Die Ruinen des Campo Vaccino«, das er an Ort und Stelle im römischen Kolosseum begann und auch noch während der Reise vollendete. Er hält es für besser als es ist, und überläßt es seinem Verleger Wallishauser für das von Schreyvogel herausgegebene Taschenbuch »Aglaja«. Von der Zensur beanstandet und nach Ausgabe von vierhundert Exemplaren des Almanachs eingestampft, hätte es den Verfasser fast seine Stellung, wenn nicht mehr gekostet. Eine Tragödie mehr nach allen seinen Tragödien.

Was war geschehen? Wessen war er schuldig?

Der »Campo Vaccino« war das römische Kolosseum, über dessen Eingang in jenen Tagen, als Rom noch die Hauptstadt des Kirchenstaates war, ein Kreuz angebracht war. Daran nahm der auf den Spuren der Antike lernbegierig in Rom vordringende Tourist Grillparzer Anstoß. Das halb zerstörte, aber noch in der Zerstörung gigantisch gebliebene Bauwerk war ihm das Sinnbild einer humanistischen Antike. Das Christentum hat die Idee der Antike religiös überwunden, aber zugleich kulturell übernommen. Ist es unter diesen Umständen gerechtfertigt, das Kreuz wie ein Symbol der Niederlage über den Ruinen der antiken Welt aufzurichten? Grillparzer, der von Euripides kommend gerade eine »Medea« austrägt, verneint die Frage offenherzig. Die griechischen Dramatiker sind ihm, dem letzten großen deutschen Klassiker, heilig; das Kolosseum ist ihm der Inbegriff dieser versunkenen, trotz alledem schöneren Welt (was die Stätte der Tierhetzen im Grunde gar nicht war). Darum: Weg mit dem christlichen Symbol über dem Eingang! Überall mag sein Platz sein, nur nicht hier. Oder in Versen:

Nehmt es weg, dies heil'ge Zeichen!
Alle Welt gehört ja dir!
Üb'rall, nur bei diesen Leichen,
Üb'rall stehe, nur nicht hier!

Ein Sturm der Entrüstung brach in München aus – dorthin waren die Dedikationsexemplare des der Königin von Bayern gewidmeten Büchleins zuerst gelangt – und pflanzte sich nach Wien fort. Die fromme Kaiserin, von ihren bayrischen Verwandten aufgehetzt, hetzte beim Kaiser. Kaiser Franz, obwohl seine Frömmigkeit über das Formale nicht hinausging und vielleicht eben darum, läßt sofort seinen Polizeiminister Sedlnitzky kommen und befiehlt ihm, nach dem Rechten zu sehen. Die zur Ausgabe bereitliegende Auflage des Almanachs wird aufgehalten und das peinliche Opus daraus entfernt, Schreyvogel, der Redakteur der »Aglaja« und zugleich ihr Zensor, der das sträfliche Gedicht zum Druck vorgeschlagen, zugelassen und befördert hatte, wankt bedenklich auf seinem Burgtheaterthron; nur daß er als Direktor so gute Geschäfte macht und das vom Kaiser zu deckende Defizit verringert, kann ihn retten. Er erhält schließlich einen nur leichten Verweis; Grillparzer einen desto schärferen. Das allerhöchste Mißfallen wird ihm von Sedlnitzky persönlich ausgesprochen. Aber das ist nicht alles. Grillparzer ist Burgtheaterdichter und zugleich Staatsbeamter, also in zweifacher Bindung vom Hof abhängig. Wenn »Sappho« sich im Repertoire und er sich in seiner Stellung behaupten soll, muß er in dem entstandenen Kesseltreiben sich von dem Verdacht der Religionsschändung reinwaschen. Er tut es in Form einer schriftlichen Eingabe, bei deren Abfassung ihm sein bißchen Jus und die Schule der väterlichen Kanzlei zustatten kamen.

Mit ciceronianischer Eloquenz und Argumenten, bei denen man wie bei Cicero das Gefühl hat, daß er sie selbst nicht ganz ernst zu nehmen vermochte, verteidigt er seine Sache gegen den Polizeipräsidenten. »Der Schein spricht gegen mich«, ruft er forensisch aus, »aber glauben Euer Exzellenz nicht, daß ich, wenn es mir um die Sache zu tun gewesen wäre, getrachtet und gewußt hätte, den Schein zu vermeiden. Konnte ich so unsinnig sein?« Mit anderen Worten und aus dem Ciceronianischen ins Gemeinverständliche übersetzt: seine Schuld beweist seine Unschuld. Wer das nicht einsieht, versteht nichts von Jurisprudenz.

Dies festgestellt, nämlich daß ihm jede böse Absicht gefehlt haben müsse, weil er anderenfalls den Schein sicher vermieden haben würde, geht seine Verteidigung von der Gekränktheit zur Belehrung über. Gedichte, setzt er dem störrischen Polizeiminister und dem schattenhaft hinter ihm stehenden Kaiser auseinander: Gedichte wären keine wissenschaftlichen Betrachtungen, man mache sie nicht, um eine Meinung auszudrücken. Alles was er in dem seinen hätte sagen wollen, wäre nur, daß es unzweckmäßig sei, das Christuszeichen im Kolosseum anzubringen. Und wer wären denn eigentlich die Leute, die mehr dahinter witterten? »Es sind diejenigen, die sich mit dem Mantel der Religion bedecken, weil sie so viel zu bedecken haben!« Der Hieb sitzt; Molière, in einem Alexandriner seines Tartuffe, hätte nicht artiger ausfallen, eine Pointe nicht besser mit dem für einen Theaterapplaus nötigen Sprengstoff laden können.

Am Ende beruhigen sich die Gemüter bei Hof und in der immer noch etwas höfischer gesinnten höfischen Wiener Gesellschaft. Man gibt sich mit der Erklärung des Dichters zufrieden, zumal er am Schluß seiner schlagkräftigen Beweisführung auch etwas von Reue murmelt. Trotzdem bleibt die Geschichte nicht ohne Folgen, die auf eine dauernde Verstimmung des Hofes deuten. Die Schwierigkeiten, die er Jahre nachher mit seinem übernächsten und wahrscheinlich bedeutendsten Stück, dem »Ottokar« hatte, mögen darauf zurückgehen, wie auch manches andere. Als er sich einmal um eine Stelle in der kaiserlichen Privatbibliothek bewarb – immer wieder zieht es ihn zu den Büchern –, sagte der Kaiser Franz, die übrigen Verdienste Grillparzers bereitwillig anerkennend: »Wenn er nur die Geschichte mit dem Papst nicht gehabt hätte!« und – verlieh die Stelle einem anderen. Bei einer anderen Gelegenheit, in einem Gedichte »Auf die Genesung des Kronprinzen«, worin er die unanzweifelbare Güte des ebenso unanzweifelbar geistig minderbemittelten Thronanwärters loyal herausstreicht, behaupten die seiner Loyalität ein für allemal mißtrauenden höfischen Leser, er habe mit der treuherzig am Schluß der Strophen wiederkehrenden Wendung: »Denn Du bist gut!« etwas ganz anderes sagen wollen, nämlich: »Denn Du bist dumm!« Und wieder ein andermal, da er seine Leier neuerlich auf Patriotismus stimmt und die Genesung des Kaisers nach schwerer Krankheit in Herzenstönen feiert, nimmt die Kaiserin verschnupft Anstoß an den zwei Frauen, die der im Gedicht heranschleichende Tod am Krankenbette des Monarchen wachend findet: die eine ist die Kaiserin, die andere die Kaiserin-Mutter. Aber daß die Schwiegermutter auch in die Geschichte kam, wollte die hohe Frau in ihrer kaiserlichen Beschränktheit nicht wahrhaben; schlimmer noch, sie witterte böse Absicht in dieser unerfreulichen Zusammenstellung. Stets aufs neue hatte der Dichter unter dem Mißtrauen, das er einmal herausgefordert hatte, zu leiden.

Über all den Aufregungen und Erschütterungen dieses wechselvollen Jahres war Grillparzer der Faden seiner »Medea«, an der er rastlos spann, aus der Hand geglitten. Nach dem gräßlichen Tod der Mutter konnte er sich des Zusammenhangs im letzten Teil der Tragödie nicht mehr entsinnen. Verloren das Bild, das er von Medea in dem Vers gemalt hatte:

Halb Charis steht sie da und halb Mänade!

Das war Charlotte, aber wo war jetzt Charlotte? Er fand sich, trübsinnig wie er war, in dem weitläufigen Gespinst seiner Trilogie nicht mehr zurecht und gab die Hoffnung auf, das gräßlich schöne Trauerspiel jemals zu beenden.

Da kam ihm die tote Mutter, deren Abgott er bei Lebzeiten gewesen war, noch einmal zu Hilfe. Er hatte in jenen Monaten vor der italienischen Reise, da er an dem Stoffe wob, oft mit ihr vierhändig gespielt und dabei mehr an seine tragische Muse gedacht als an die Mutter, die neben ihm die Tasten schlug. Von Italien zurückgekehrt, nahm er hin und wieder eine Einladung zu der guten Literaturtante Karoline Pichler an, deren unentrinnbare Gastfreundschaft in diesem Falle sich auch auf die heiratsfähige Tochter ausreden konnte. Das Mädchen spielte nicht übel Klavier, und wenn sie zusammen nach dem Essen vierhändig spielten, waren es dieselben Meister, deren Zwiesprache mit dem Göttlichen auch die Mutter immer wieder erhoben und getröstet hatte, Haydn, Mozart und Beethoven, der göttlichste und tragischeste von allen. Indem er den melodischen Überschwang seiner kämpferischen Auseinandersetzungen mit dem Schicksal aus der gemeisterten Tastatur des Instruments aufrauschen hörte, fanden sich auch die verlorenen Szenen und Verse seiner Medea anklagend und tröstend wieder ein. Vielleicht war es ein Echo dieser Töne, wenn er Medea am Schlusse der Tragödie zu Jason sagen läßt:

Was ist der Erde Glück? – Ein Schatten!
Was ist der Erde Ruhm? – Ein Traum!
Du Armer! der von Schatten du geträumt!

Wenige Monate später war die erste Niederschrift des Trauerspiels vollendet. Aber bis die Trilogie in ihrer endgültigen Form und von einem selbstbewußten Brief des Dichters begleitet auf dem Tisch des Burgtheaterdirektors anlangte, verging noch ein rundes Jahr. Er behielt sich in seinem Schreiben das alleinige und ausschließliche Besetzungsrecht an dem Stücke vor und deutete auf ein höheres Honorar, das zu bemessen er der Direktion anheimgab. Diese Forderungen mochte er wohl vorher mit seinen Freunden und Gönnern, dem Grafen Stadion und Schreyvogel vereinbart haben, die ja damals schon in Grillparzer den großen Autor erkannt hatten, dessen Unsterblichkeit mit derjenigen des Burgtheaters wetteiferte.

Übrigens fehlte es auch nicht an einem Satyrspiel nach der Tragödie. Schreyvogel, der anfangs von dem »Mondkalb«, wie Grillparzer seine anspruchsvolle Trilogie bei diesem Anlaß nennt, wenig entzückt schien, wußte sie am Ende doch sehr zu schätzen und wünschte auch dem Verlangen des Dichters Rechnung zu tragen. Die Tantieme war damals noch nicht erfunden, aber Graf Stadion hatte einen Einfall. Die beiden Herren gruben ein altes Hofdekret aus, wonach dem Verfasser in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen anstatt eines Honorars die gesamte Einnahme der zweiten Aufführung seines neuen Stückes überwiesen werden konnte. Überzahlungen seitens des Publikums waren bei diesem Anlaß gebräuchlich, so daß das Ganze auf eine Art Ehrengabe hinauslief. Grillparzer, auf seine Popularität und Beliebtheit in den Wiener Salons bauend, nahm den Vorschlag an. Allein es sollte sich herausstellen, daß Beliebtheit und die Geneigtheit, tiefer in die Tasche zu greifen, zwei verschiedene Dinge sind. Die zweite Aufführung des enthusiastisch aufgenommenen Trauerspiels war einigermaßen leer, von achtundsiebzig Logen waren nur siebzehn verkauft und das schöne Vorrecht, den Kassenpreis zu überzahlen, war auch nur von einigen der hohen Besucher in Anspruch genommen worden, so daß sich die Gesamteinnahme auf die bescheidene Summe von zweitausendvierundfünfzig Gulden achtunddreißig Kreuzer belief. Grillparzer, der groß, aber auch bitter sein konnte wie Euripides, schreibt darüber in seinem dreißig Jahre später verfaßten Lebensbericht, daß, wenn ihm die Wiener zum Vorwurf machten, daß er seine dramatische Produktion vorzeitig eingestellt hätte, man nicht vergessen dürfe, »daß sie mich jedesmal im Stich gelassen haben, wo ich von ihrer Anhänglichkeit mehr als leeres Händeklatschen in Anspruch nahm«. Ein nur zu begründeter Vorwurf, der freilich nichts daran ändern konnte, daß der auf eine höhere Einnahme spekulierende tragische Dichter diese andere Wette mit dem Schicksal schmählich verloren hatte.


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