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Sechstes Kapitel.
Die eine und die andere

»Ein jeder tötet, was er liebt!«

(Oscar Wilde)

 

Ein wohlerzogener junger Mann und Dichter bringt in seiner verschwiegenen Studierstube hinter verriegelter Tür den erstaunlichen Satz zu Papier: »Ich habe auf diese Art (nämlich durch seinen Mangel an ›Liebesfähigkeit‹) das Unglück von drei Frauenzimmern von starkem Charakter gemacht. Zwei davon sind nun bereits tot.« Der junge Mann ist also ein Mörder, wenn auch, zum Glück, nur in seinen eigenen Augen. Zugleich aber ist er ein Moralist, der etwa in sein Merkbuch den Sittenspruch einträgt:

Meint ihr, man könne kosten vom Gemeinen?
Du mußt es meiden oder dich ihm einen!

Wenn also Mörder, ist er jedenfalls ein sehr idealistischer Mörder, wie er, zur anderen Hand als ein Idealist, ein Idealist mit recht schauderhaften Möglichkeiten sein mag.

Im Falle Charlotte hat der einzige, der ihn richten durfte, er selbst, Grillparzer nicht freigesprochen; im Falle Marie Piquot – dies ist der Name seines zweiten Opfers – wird keine andere Stimme als die seines mitternächtigen Gewissens zu behaupten wagen, daß er sie ins Grab gebracht hat. Aber es ist doch eine kuriose Geschichte, in die sich das schwindsüchtige Mädchen sterbend hineingedichtet hat und von der ein fahles Totenlicht ausgeht, das den Charakter Grillparzers in eine merkwürdige Beleuchtung rückt. Er selbst hat die ihn erschütternde Begebenheit aufgezeichnet, die sich wie ein wehmütiges Biedermeier-Novellchen liest, und da der Dramatiker Grillparzer ein nicht minder geschulter Erzähler ist, lassen wir ihn in dieser Sache am besten selbst sagen, was er zu seiner Verdammnis oder zu seiner Entschuldigung vorzubringen vermag. Seine Eintragung stammt aus dem Frühjahr 1822; Grillparzer war also bereits etwas über dreißig Jahre alt, als er diese ihn tief bewegende, schmerzliche Erfahrung machte.

Ein Erlebnis

(5. Mai 1822)

Gestern begegnete mir einer der sonderbarsten Vorfälle in meinem Leben. Frau von P., deren Tochter, die ich gekannt, vor einiger Zeit gestorben ist, läßt mich bitten, sie zu besuchen. Beinahe ein volles Jahr vor dem Tode ihrer Tochter war ich aus ihrem Hause weggeblieben, teils weil ich in dem dort herrschenden Ton etwas Gesuchtes zu bemerken glaubte, teils weil ich fürchtete, es könnte durch Zeit, Gewohnheit und Gerede der Leute ein näheres Verhältnis zwischen mir und der Tochter vom Hause, einem übrigens höchst geistreichen, gebildeten, guten Mädchen, entstehen, das, wenn auch nicht gerade schön, doch besonders durch ihren über allen Ausdruck schönen Wuchs auch äußerliche Vorzüge genug besaß, um eine solche Furcht nicht unbegründet zu machen. Zu alldem gesellte sich noch meine alte Menschen- oder vielmehr Gesellschaftsscheu, und kurz, ich blieb weg. Nach einigen nur schwachen und bald ganz aufgegebenen Versuchen, mich wieder in ihren Kreis zu ziehen, stellte sich auch die P.sche Familie darüber zufrieden und ich hatte alle Ursache, zu glauben, daß sie mutatis mutandis ebensowenig mehr an mich dächten als ich an sie. Verflossenen Winter hörte ich plötzlich, Marie P. sei schwer krank. Sie war mit ihrem Bruder bei meinem Onkel S. (Sonnleithner) auf dem Balle gewesen, hatte stark getanzt, während ihr Bruder, der sich unwohl fühlte, übermäßig Tee trank, um sich von dem starken Grimmen, das ihn plagte, zu befreien, dadurch aber nur das Übel stärker machte und vor Schluß des Balles mit seiner Schwester nach Hause fahren mußte. Zu Hause angekommen, nimmt der Schmerz zu; das Mädchen in ihrer Gutmütigkeit will niemand wecken, läuft selbst, noch vom Tanzen erhitzt, in die Küche, macht Tee, wärmt Tücher, besorgt den Bruder. Des anderen Morgens findet man sie in heftigem Fieber, sie hat sich erkältet und ist nun selbst sehr krank. Die Krankheit nimmt zu, greift besonders auf die Nerven, weicht aber doch endlich der vereinten Bemühung geschickter Ärzte und das Mädchen naht der Genesung.

Beinahe erst in diesem Zeitraum erfahre ich etwas über die ganze Sache. Im Zweifel, ob ich hingehen soll oder nicht, entscheidet sich meine Trägheit wie gewöhnlich für das letztere und ich ging nicht. Kurz darauf höre ich, das Mädchen sei von neuem in die Krankheit zurückgefallen, die nun ganz einen nervösen Charakter angenommen habe, und als ich eben bei meiner Tante bin, fragt mich diese, wie um etwas ganz Bekanntes, du weißt ja doch, daß Marie P. gestorben ist? Ich war heftig erschüttert; obgleich mehr über das Unerwartete als über die Sache selbst, obschon ich das Mädchen wahrhaft geschätzt hatte und ihren Umgang gewiß gesucht haben würde, wenn ich überhaupt Umgang suchte und der etwas gezierte Ton ihrer Verwandten nicht ein unangenehmes Licht auf sie selbst geworfen hätte. In ein paar Tagen darauf war das Leichenbegängnis. Ich ging an der Stefanskirche vorüber, als man eben die Anstalten dazu machte, und ward innerlich ergrimmt über mich, daß mich der traurige Fall so gleichgültig lasse. Ich nahm es als neuerlichen Beweis einer seit einiger Zeit nur zu deutlich empfundenen allmählichen Verhärtung des Herzens, die mich zuletzt noch zu einem Ideen-Egoisten machen wird, wie es Egoisten des Vorteils gibt. Wie gesagt, ich ärgerte mich über meine Gefühllosigkeit und ging in die Kirche, um mich auf die Probe zu stellen, wie weit das ginge. Der Leichenzug kam, die Bahre, mit der Jungfrauenkrone geziert, hinterher der alte grämliche Bediente, der mir oft, wenn ich neben dem Mädchen saß, die Teller gewechselt, sonst barsch, fast grob, jetzt in Tränen zerfließend, fast wankend bei all seiner derben Beleibtheit. Alle Anwesenden weinten über das »brave, schöne Fräulein, das so wohl ausgesehen und so früh hat sterben müssen«. Da kam mir denn doch eine Art Rührung an, aber mehr eine allgemeine, auf die Hinfälligkeit des ganzen Menschengeschlechts gehende; nur wenn ich mir in der Phantasie das Mädchen im Sarge liegend, mit geschlossenen Augen, mit gefalteten Händen, ausmalte, mischte sich ein persönliches Bedauern mit ein, das aber bald wieder verschwand.

Ich habe diese Verstocktheit, diese Gefühllosigkeit zu Zeiten, wenn mich fremdartige Ideen beschäftigen, oft mit innerlichem Grauen an mir bemerkt. Kurz, das Mädchen ward eingesegnet, ich lehnte während der Grabgesänge, in Dumpfheit versunken, an der Wand und ging ebenso wieder nach Hause. Am vorhergehenden Tage des Morgens hatte ich Vater und Bruder der Verstorbenen bei einem Spaziergang begegnet, ich wollte sie nicht ansprechen und grüßte nur im Vorübergehen. Der Bruder sah zur Erde. Der Vater aber warf mir einen halb trostlosen, halb grimmigen Blick zu.

Die Sache war für mich abgetan, ich dachte auf nichts weiter. Nur eins muß ich erwähnen, so lächerlich es klingen mag. Von Jugend auf war ich nicht frei von Gespensterfurcht, die aber von Zeit zu Zeit bei einzelnen Anlässen bis zum Törichten sich vermehrte. Zum Beispiel, als ich die »Ahnfrau« schrieb; nicht bei meines Vaters, wohl aber sehr bei meiner Mutter Tode. Seit einer längeren Zeit war ich frei davon geblieben. Nach diesem Begräbnis kehrte sie auf einmal sehr heftig wieder. Alle Abende glaubte ich, Marie P. müsse mir erscheinen und – sonderbar genug – müsse mir Vorwürfe machen, da ich mit Ursache an ihrem Tode sei; sie habe mich heimlich geliebt. Zu letzterer Vermutung hatte ich um so weniger einen Grund, da mir das Mädchen nie ein Zeichen von tieferer Neigung gegeben hatte und selbst wenn wir beisammen waren, sie sich immer mehr um meine Arbeiten als um mich zu interessieren schien. Genug, so war's. Auch diese Abendmahnungen gingen vorüber, und ich dachte nicht mehr an die Sache.

Vorgestern, beinahe sechs Wochen nach dem Todesfalle, kömmt der junge P. zu mir; in Tränen ausbrechend, bittet er mich im Namen seiner Mutter, sie nächsten Tages zu besuchen. Er ging bald und sagte nichts Näheres. Ich dachte: Sie wollen dem Mädchen einen Grabstein setzen und verlangen von mir eine Inschrift. Manchmal kam mir der Gedanke, sie habe mir ein Andenken, einen Ring oder dergleichen, hinterlassen, wie man wohl Bekannten zu geben pflegt, immer aber verwarf ich diese Idee wieder als Eingebung der Eitelkeit.

Des anderen Tages gehe ich hin. Die Mutter, in Trauer gekleidet, empfängt mich feierlich, ohne Tränen. Sie führt mich in ein entferntes Zimmer, schließt die Tür ab, setzt sich aufs Ruhebett, winkt mir, neben ihr Platz zu nehmen. Es geschieht. Nun zieht sie aus ihrem Arbeitsbeutel ein geschriebenes Heft heraus, es ist das Testament ihrer Tochter. Darin blätternd und den gehörigen Artikel aufsuchend, sagt sie: »Es war der Wunsch meiner Tochter, daß Sie als Andenken Ihr (mein) eigenes Porträt annehmen möchten, das sie selbst heimlich gezeichnet und sehr wert gehalten hat.« »Daß es doch lieber Ihrer Tochter eigenes wäre!« rief ich aus. »Ja?« versetzt die Frau: »Auch das bestimmt Ihnen meine Tochter, wenn Sie es selbst begehren würden.« Und nun bricht sie in Tränen aus und kann nicht länger mehr zurückhalten. Sie erzählt alles. Das Mädchen hatte zu mir eine heftige Neigung gefaßt, dieselbe aber mit so ungeheurer Selbstbeherrschung verborgen, daß weder ich noch ihre Eltern etwas davon bemerkten, erst das Testament gab darüber Aufschluß. Wohl war den Eltern ein gewisses Interesse für mich nicht verborgen geblieben, das sie aber, wie ich und jedermann, auf meine poetischen Arbeiten bezogen. Auch schien in der letzten Zeit ein Kummer an ihr zu nagen, aber man ahndete die Ursache nicht.

Das Testament machte alles klar. Mein Wegbleiben aus dem Hause ihrer Eltern hatte einen tiefen Eindruck gemacht. Sie suchte den Grund dazu in meinem bald darauf bekannt gewordenen Verhältnis mit Katty F. (Fröhlich) und schwieg gegen jedermann. Sogar an den Bemühungen ihrer Eltern, mich wieder für ihr Haus zu gewinnen, nahm sie keinen Anteil. Um so weniger konnten jene die Ursache des Trübsinns erfahren, der sie nunmehr befiel, und die sie in körperlichen Zuständen suchten. Bald darauf hatte das Mädchen einen Traum (welchen, habe ich noch nicht erfahren), der ihr ihren baldigen Tod ankündigte. Sie sagte niemandem etwas davon, setzte sich aber hin und schrieb auf zwei Bogen ihr Testament; in dem sie auch ihre tiefe Neigung mit den bestimmtesten Zügen ausdrückte. So verlebte sie den Sommer still und ruhig. Bei Anfang des Herbstes wiederholte sich ihr der vorige todverkündende Traum, und nun erzählte sie ihn ihren Eltern, indem sie ihre Überzeugung aussprach, daß sie gewiß sehr bald werde sterben müssen. Aber noch kein Wort über ihre Leidenschaft. Die Eltern suchen sie von dem Albernen ihrer Besorgnis zu überzeugen, Ärzte verlachen die Furcht der scheinbar vor Gesundheit Strotzenden. Im Winter erkrankt sie, wie oben erwähnt ist, wird besser, schlimmer, stirbt. Kurz vor ihrem Tod verließ sie jene früher auf ihr gelastete Melancholie; sie ward heiter, fröhlich, gesprächig und erklärte, daß sie nie glücklicher gewesen sei. Aber auch hier kein Wort von ihrer Neigung. So starb sie. Bis ans Ende ihrer Sinne mächtig, geduldig wie immer. Das erzählte mir nun die alte Mutter; klagte mich bald an, umarmte mich dann wieder, nannte mich Sohn. Die Tochter hatte in ihrem letzten Willen die Eltern gebeten, daß sie für mich sorgen, mich in ihr Haus nehmen, Verwandtenstelle an mir vertreten sollten. Das alles ward mir angeboten – und ich? Kalt, zerstreut, hörte ich das alles an, schlug aus, lehnte ab, spielte ein wenig Komödie, ward aber keiner Träne Meister und war froh, als ich wieder gehen konnte. Angegriffen hat es mich wohl, aber weil ich sonst die Frau etwas geziert und outriert in ihren Empfindungen gekannt habe, so konnte ich doch eines unangenehmen Gefühls nicht los werden, obgleich bittere Tränen die Wahrheit ihrer Reden nur zu sehr bekundeten. –

Verständige Männer haben es nie für schlechthin unmöglich gehalten, daß Abgeschiedene nach ihrem Tode den Rückgebliebenen erscheinen könnten. Ich habe an dem Gegenteil wohl nie im Ernst gezweifelt, halte es aber jetzt für apodiktisch unmöglich. Denn wäre es möglich, Marie P. würde mir gewiß erschienen sein.

*

Die ärztliche Diagnose liegt ziemlich klar zutage und läßt sich auch vom Laien mit einiger Sicherheit vermuten. Marie Piquot starb an Tuberkulose, wie Charlotte Paumgartten an Kindbettfieber gestorben war. Das war zeitüblich. Junge Frauen starben im Wochenbett, junge Mädchen an der Schwindsucht, die Todesursache war in beiden Fällen ein Bazillus. Übrigens hieß die Tuberkulose nicht umsonst die »Wiener Krankheit«: Sie war das Skelett im Hause jener nur scheinbar so sanften und wohlgenährten Epoche nach den Napoleonischen Kriegen und war es zumal in Wien, wo in gesteigerter Lebenslust noch etwas mehr gelacht, getanzt und geliebelt wurde als in anderen großen Städten.

Die seelische Diagnose, wenn man es so nennen will, steht, zumindest soweit das junge Mädchen in Frage kommt, nicht minder eindeutig fest. Marie Piquot, ein heiratsfähiges, schönes Mädchen aus allerbestem Haus – der Vater Gesandter eines deutschen Duodezstaates am Wiener Hofe – lernt bei Frau von Sonnleithner den jungen Dichter kennen, den trotz seiner Jugend ein blendendes Ruhmeslicht umstrahlt. Er hat die im Burgtheater mit so großem Erfolg aufgeführte »Sappho« geschrieben; er ist Sekretär des Finanzministers, Grafen Stadion, hat eine Italienreise im Gefolge der Kaiserin gemacht und ist festangestellter Theaterdichter der kaiserlichen Hofbühne mit einem Jahresgehalt von 2000 Gulden. Derartige Dinge bleiben kein Geheimnis in Wien, die Zahl geht von Mund zu Mund. Mag sie immerhin nach oben abgerundet sein und in Wirklichkeit, wie andere Quellen angeben, nur 1200 Gulden ausgemacht haben, es ist genug, um einen bescheidenen Hausstand zu gründen. Und warum sollte eine wohlhabende Gesandtentochter nicht bescheiden heiraten, wenn sie in einen jungen Mann verliebt ist? Marie Piquot verliebt sich also. Das ist unter so günstigen Voraussetzungen schneller getan als gesagt.

Die Eltern benehmen sich genau so, wie sich verständnisvolle Eltern, die eine heiratsfähige Tochter haben, in einem solchen Falle zu benehmen pflegen. Sie laden den vielversprechenden Neffen ihrer Freundin, der Frau von Sonnleithner, in ihr Haus, er nimmt die Einladung an und scheint nicht abgeneigt, auf einen gesellschaftlichen Verkehr mit jener Zurückhaltung einzugehen, die seiner hochgradigen Berühmtheit entspricht. Er kommt wiederholt und manchmal bleibt er sogar übers Nachtmahl. Dann setzt man ihn neben die Haustochter, die ihr Glück hinter einer ernsten Miene verbirgt.

siehe Bildunterschrift

Georg Altmütter, ein Jugendfreund des Dichters, Professor der Technologie. Lithographie.
Wien, Technisches Museum.

Marie Piquot ist kein Gänschen; sie weiß, was sie wert ist und daß sie nicht die erste beste ist. Sie ist nicht gerade schön, aber sie besitzt eine, wie er sich zwar nicht ihr gegenüber, aber in seinem Tagebuch ausdrückt, »über alle Beschreibung schöne Gestalt«, was bei näherer Bekanntschaft vielleicht noch mehr ist als vollkommen regelmäßige Gesichtszüge. Sie hat Geist, Bildung, ja sogar, als Zeichnerin, eine Spur von Talent. Ist das nicht genug, um einen Mann zu fesseln? Nicht einen Mann wie Grillparzer, ist sie klug genug, sich in hypochondrischen Augenblicken einzugestehen. Und sie grübelt, was sonst sie ihm noch bieten könnte. Dann fällt ihr etwas ein, was ganz zu ihrem bescheidenen, hingebungsvollen, schwesterlichen Wesen paßt: Bewunderung. Das ist es, was er braucht. Und von nun an, wenn er bei Tisch neben ihr sitzt, redet sie immer nur von seinen »poetischen Arbeiten«, von der »Ahnfrau« und der »Sappho«, die sie kennt, und von der »Medea«-Trilogie, auf die jetzt alle warten. Der alte Diener, während er die Teller wechselt, hört es mit Verdruß, Grillparzer mit Vergnügen. Glücklich darüber, einem so verständnisvollen Wesen begegnet zu sein, übersieht er völlig, daß Marie in ihn verliebt ist. Nun, wenigstens braucht er sich keine Vorwürfe zu machen, wenn er nach einiger Zeit seine Besuche einstellt; angeblich, weil der Ton des Hauses ihm zu geziert ist, in Wirklichkeit, weil er beim Bankier Geymüller Kathi Fröhlich kennengelernt hat.

Auch das bleibt kein Geheimnis in der Wiener Gesellschaft, und das Gesandtentöchterlein weiß bald genug, woran es ist. Er kommt nicht mehr, er wird nie mehr kommen, aus. Marie Piquot benimmt sich heldenmütig. Mit keinem Wort verrät sie ihr Geheimnis, sieht blühend aus und tut, als ob nichts geschehen wäre. Sie geht sogar mit ihrem Bruder tanzen zu den Sonnleithners, wo sie dem Dichter der »Sappho« möglicherweise noch einmal begegnen kann. Ihr »schöner Wuchs«, den das Ballkleid zur Geltung bringt, ihr »geistreiches Gespräch« – sie weiß, daß er es gerühmt hat –, wer weiß, alles ist möglich. Aber er kommt nicht. Was liegt daran? Sie tanzt wilder als es ihre Art ist, so daß es allgemein auffällt. Dann zu Hause, während sie mit tief entblößten Schultern in der kalten Küche steht, denkt sie wohl: Um so besser, wenn ich mich erkälte, dann muß er mich besuchen; gesellschaftliche Art erfordert es. Aber sie wird krank, sterbenskrank, dann wieder gesund, und er »läßt sich nicht anschauen«, wie sie in Wien so sinnfällig sagen. Nie mehr. Nie wieder. Da sagt sie mit Sappho: »O laß mich sinken, warum hältst du mich?«; macht ihr Testament; zeichnet sein Porträt; denkt ans Sterben bei Tag und träumt davon bei Nacht. Der Rest ist von Schubert. »Der Tod und das Mädchen« heißt das allgemein beliebte, rührende Musikstück. Die Schwestern Fröhlich, es sind ihrer vier alles in allem, singen es, wenn sie beim Bankier und in anderen ersten Häusern eingeladen werden. Auch Kathi singt ein bißchen. Man sagt, sie werde zum Theater gehen.

siehe Bildunterschrift

Marie Piquot. Farbzeichnung.
Wien, Städtische Sammlungen.

Ein Jahr bevor »Freund Hein«, der Tod mit der Fiedel, wie ihn die mittelalterlichen deutschen Meister darstellen, die schöngewachsene Marie zum letzten Tanz abholt, hat der dreißigjährige Grillparzer die nicht ganz so schön gewachsene, aber im übrigen bildschöne einundzwanzigjährige Katharina Fröhlich kennengelernt und sich sogleich in sie verliebt. Wenige Wochen bevor Marie sich ihre Todeskrankheit holte, hat er ein Gedicht veröffentlicht, das dies bezeugt. »Als sie zuhörend am Klaviere saß« heißt es und beginnt mit dem Vers: »Still saß sie da, die Lieblichste von allen.«

Den ersten Eindruck, den ihm dieses nun wieder andere Mädchen machte, hat er in einem Brief an seinen Jugend- und Busenfreund Altmütter für die Nachwelt festgehalten. »… die im roten Kleid mit dem geringelten, schwarzbraunen Haar. Jene – mit den Augen hätte ich fast gesagt; denn es war, als hätte niemand Augen als sie, und als wäre sie selbst nur da in ihren Augen, so blitzten die dunkelbraunen Bälle, scharf fassend, leicht beweglich, alles bemerkend, jede Bewegung, jedes Wort einträchtig begleitend.« Dann schildert er ihre Lebhaftigkeit, ihren spitzbübischen Humor und rühmt die »Ungebundenheit des Mädchens mit den schönen Augen«.

Ungebundenheit? Es sah nur so aus in dem von heiterer Wohlhabenheit beschwingten Salon des Herrn von Geymüller. Die vier Schwestern Fröhlich, alle vier zwischen zwanzig und dreißig, lebten in kleinbürgerlichen Verhältnissen. Der Vater, der diesen kleinen Mädchenharem in die Welt gesetzt hatte, war seines Zeichens Ausschwefler von Weinfässern. Wenn die erblühten Töchter mit ihren Noten in einem gastfreien Hause zur musikalischen Bewirtung einer vornehmen Gesellschaft eingeladen waren, blieb der Schwefler mit seiner ebenso bürgerlichen Ehehälfte vorsichtig zu Hause. Warum auch nicht? Die vier Mädchen waren alt genug, um allein und unbehütet auf einander acht zu geben, was sie denn auch taten, von ihren Tonleitern und ihrem guten Ruf beschützt. Drei von ihnen sangen, eine, Betty, bei der die Lieblichkeit manchmal ein bißchen ins Verschrobene überging, malte außerdem Blumenstücke, und die vierte, Kathi, die nicht abgeneigt schien, zum Theater zu gehen und die es auch getan hätte, wenn es ihr Grillparzer nicht »verboten« hätte, trug vorläufig wenigstens mit ihren Augen und ihrer schalkhaften Laune etwas zur allgemeinen Unterhaltung bei. Ein Hauch von Boheme, aber mit Lavendelduft gemischt, umwitterte das vierblättrige Kleeblatt dieser resoluten Kunstjüngerinnen, die bei aller Bescheidenheit ihres unbesorgten Auftretens keinen Zweifel aufkommen lassen, daß sie keine Singsangmädchen sind. Abgesehen von der Musik, haben sie nicht viel gelernt und ihre Liebesbriefe sind vermutlich unorthographisch. Aber ihre Kunstbegeisterung steht außer Frage. Der Schubert kommt zu ihnen und bald auch der Grillparzer.

Hier haben wir die Beziehung, wie sie sich beim ersten Blicke anspinnt. Wir schreiben 1821, »Medea« ist abgeschlossen, »Der Bann« geschrieben, die »Tragische Muse« blutenden Herzens entlassen. Grillparzers nächstes Stück wird ein verhältnismäßig heiteres Märchenspiel »Der Traum ein Leben« sein. Das Verhältnis zu Charlotte, die er nie vergessen wird, ist in einen unerfreulichen Zustand übergegangen, in dem Gewissensskrupel alles andere überwiegen. Außerdem erwartet sie ja schon wieder ein Kind. Und in diesem Augenblick begegnet ihm, als hätte sie ihm ein lieber Schutzgeist zugeführt, dieses reizende Mädchengeschöpf, das mit seiner gescheitelten Frisur, den baumelnden Korkzieherlocken und den schalkhaft äugelnden Augen nichts weniger als eine tragische Muse, vielmehr die verkörperte Munterkeit ist. Der Gegensatz ist erfrischend.

Grillparzer erfrischt sich. Anstatt einer Einladung seines Vorgesetzten, des Grafen Stadion, auf sein mährisches Schloß Folge zu leisten, nimmt der Sekretär des Finanzministeriums Franz Grillparzer den Sommer über eine Wohnung in Hietzing, dem zugleich ländlichsten und höfischesten der Wiener Vororte, um in dieser lieblichen Umgebung, unweit des Lustschlosses Schönbrunn, in dessen Park zur selben Zeit auch Beethoven spazieren geht, Pläne auszuarbeiten, die nicht ausschließlich literarischer Natur sind. Er hat vor Jahren, als Hofmeister des jungen Grafen Seilern auf dem Lande lebend, reiten gelernt und macht jetzt von dieser Fertigkeit Gebrauch, um seinem Mädchen zu gefallen, wenn er, von Hietzing zu ihr nach Döbling hinübertrabend, sie in der Sommerwohnung der Familie Fröhlich besucht, nicht anders, als fünfzig Jahre vorher der Straßburger Student Goethe seine Friederike auf dem Pfarrhof in Sesenheim besuchte. Freilich, Grillparzer ist kein Student mehr, er ist ein kaiserlicher Beamter, und wenn ihn der Minister Graf Stadion zu sich aufs Schloß lädt, so geschieht es, bei aller Wohlgeneigtheit, die er dem Dichter entgegenbringt, zum Teil auch, weil er sommerüber einen Sekretär benötigt. Der Dichter der »Medea« weiß das natürlich, setzt sich aber genießerisch darüber hinweg und entscheidet sich für Hietzing. Der schulmeisterliche Laube zieht daraus den Schluß, daß er ein nachlässiger Beamter war und die Vernachlässigung in der Beförderung, über die zu klagen er nicht müde wird, seiner eigenen Lässigkeit zuzuschreiben hatte. Mag sein, daß Laube recht hat und daß Grillparzer der Dichter, der er war, wichtiger war als der Konzeptspraktikant. Sicher ist jedenfalls, daß seine Dienstesnachlässigkeit in dem in Betracht kommenden Zeitabschnitt klar beweist, wie wichtig ihm in diesem Sommer, in dem Marie ihre bösen Träume hatte, seine Besuche in Döbling waren. Das unmittelbar benachbarte Grinzing ist eine berühmte Weingegend, das Yoshiwara von Wien, und es paßt zu dem Bilde, das wir uns um diese Zeit von Grillparzer machen müssen, daß er hin und wieder wohl auch vor einer der zahlreichen Buschenschenken abstieg und ein paar Gläser jungen Weines hinunterstürzte, bevor er zu seiner angebeteten Kathi auf den Berg hinaufritt. Einmal kam er wohl in angeheitertem Zustand bei ihr an und fing zu streiten an, weil er sie und ihre Stube nicht so spiegelblank aufgeräumt fand, wie er sich's im Salon Geymüller geträumt hatte, oder, weil sie schon wieder von ihren Theaterplänen sprach, wovon er kurioser Weise nichts hören wollte. Heftige Worte fielen, Kathi weinte. Um diese Zeit waren sie schon so gut wie verlobt. Aber eben nur »so gut wie«; die Hochzeit ließ auf sich warten. Sie ließ fünfzig Jahre lang warten und erfolgte nie.

Was ging vor zwischen diesen beiden jungen Menschen, die doch offensichtlich Hals über Kopf in einander verliebt waren? Was war der Grund einer fortschreitenden Entzweiung? Die ungelöste Frage beschäftigte die Zeitgenossen; sie beschäftigt, drei Vierteljahrhunderte nach Grillparzers Tod, noch immer die Nachwelt. Es gibt keine Antwort, nur Antworten.

Die nächsten, die dieses »Verhältnis«, wie Grillparzer in seinem Erinnerungsblatt sagt, obwohl es kein Verhältnis im heutigen Verstande war, anging, waren natürlich Kathis Eltern, der Weinschwefler und seine Ehehälfte, die mit Kopfschütteln viel Zeit verbracht haben mögen. Aber wenn man arm ist und abhängig von vier schönen Töchtern, von denen schließlich nur eine heiraten wird, lernt man die schweigsame Kunst, die Dinge gehen zu lassen, wie sie eben gehen. Die Schwestern Kathis verhielten sich nicht ganz so schweigsam und eine von ihnen, Betty mit Namen, die in Männerstiefeln einherstapfte und eine richtige Megäre war – übrigens war sie die einzige, die heiratete, was zu denken gibt –, wurde in späteren Jahren laut genug und machte dem Schwager, der kein Schwager werden wollte, die Hölle gehörig heiß. Das tat freilich, auf eine mehr mädchenhafte Art, bei aller Lieblichkeit auch Kathi selbst. Sie war ebenso rechthaberisch wie ihr Liebhaber und hatte zwischen ihren Korkzieherlocken eine etwas enge, eigensinnige Stirn, die es kategorisch ablehnte, sich in die Lage eines anderen hineinzudenken, was ein Dramatiker naturgemäß am wenigsten versteht, denn darin, gerade darin, besteht seine größte Kunst. Allerdings war es für sie ein besonderes Kunststück, sich der Lebenshaltung eines Mannes anzupassen, der, autokratisch erzogen wie alle Österreicher, mit einer durch seine Armut nur verschärften Unerbittlichkeit die höchsten Anforderungen stellte, weil – er sie stellen durfte.

Aber der wahre Grund ihres liebevollen Zerwürfnisses, das wie die Liebe mit den Jahren zunahm, lag tiefer. Er ist aufzuspüren in der kategorischen Zweiteilung zwischen sinnlicher und seelischer Liebe, zu der der Student Grillparzer in seinem Jugendtagebuche sich ein für allemal entschlossen hatte. Das Unglück war nur, daß er im gegebenen Falle die beiden Kategorien: die körperliche Liebe, bei der man auch die Busenhaftigkeit des geliebten Wesens in Betracht zieht, und die spirituelle Liebe, die sich solche abschweifende Blicke und Gedanken nicht gestattet, zwar nicht verwechselte, aber, was schlimmer ist, nachher verwechseln wollte. Bei der armen Marie war es, seinerseits, eine spirituelle Liebe, die sich in Hochachtung auslebt, von Anfang an, obwohl er immerhin ihren »über alle Beschreibung schönen Wuchs« bemerkte, ein Zugeständnis an die irdische Schwachheit der Mannsnatur; bei Kathi war es von Anfang an die andere Kategorie. Es war eine Liebe auf den ersten Blick, was eine Seelenliebe ihrer Natur nach unmöglich sein kann; denn die Seele lernt man, wie den Charakter, erst schrittweise kennen, das Leibliche leuchtet dem entzückten Auge unmittelbar auf dem kürzesten Wege ein. Daß dies im Salon Geymüller der Fall war, geht ebenso aus Grillparzers brieflicher Beschreibung – »die mit den Augen« – hervor wie aus dem Stammbuchvers, den er der sogleich Geliebten im ersten Anlauf widmete:

Zwar ird'scher Werke Meister
Webt lebenlang am Stück:
Für Herzen und für Geister
Regiert der Augenblick.

Über diesen Augenblick, der zugleich sehend und blind macht, weil in ihm der Trieb über das Urteil siegt, hat Goethe sich in seinen »Venezianischen Epigrammen« mit heidnischer Unbefangenheit ausgesprochen. »In den heroischen Zeiten« lautet der Vers:

… In den heroischen Zeiten
Folgte Begierde dem Blick, folgte Genuß der Begier.

Aber das war es eben. Die Biedermeierzeit war keine heroische Zeit, am wenigsten im bürgerlich gesitteten Wien, und Grillparzer hatte nach seinen Erfahrungen im Hause Paumgartten um so weniger Lust, in das einwandfreie Familienleben der Fröhlich heidnisch einzubrechen. Anderseits war er nicht weniger abgeneigt, seine Junggesellenfreiheit, die ihm, wahrscheinlich mit Recht, eine wesentliche Voraussetzung seiner dichterischen Freiheit schien, aufzugeben und dafür Haushaltsorgen einzutauschen, die sich angesichts des schwesternreichen, von einem erwerbslosen Elternpaar behüteten Hauses gar nicht berechnen ließen. Infolgedessen versuchte er, die von Haus aus triebhafte Beziehung in eine Art Charakterbeziehung, gemildert durch Liebreiz, umzudichten, was sich die Natur auf die Dauer nicht gefallen läßt, und wobei sich die Liebe, selbst wenn sie die Probe besteht, naturgemäß in Zank verwandelt. Er selbst war viel zu weise – weise auch schon in jüngsten Jahren – um diesen Zusammenhang nicht zu erkennen. An allem wäre nur »sein grillenhaft beobachteter Vorsatz, das Mädchen nicht zu genießen«, schuld, notiert er einmal, nach dem soundsovielten Bruch, in seinem Tagebuch. Und ein andermal, noch grillenhafter und noch deutlicher, weil bereits in Versform, die ihm immer die letzte Wahrheit abringt: »Wir glühten, aber ach wir schmolzen nicht!« Das wurde zur Tragödie seines Lebens, einer Tragödie in Fortsetzungen. Der erste Teil hieß Charlotte, der zweite, von dem Mädchen aus gesehen, Marie Piquot, der dritte heißt Kathi Fröhlich, der freilich mehr ein quälendes Schauspiel zu nennen wäre als ein richtiges Trauerspiel. Dann folgt, wie im griechischen Theater, als Abschluß ein verhältnismäßig heiteres Satyrspiel, dessen vergnügte Heldin die unsagbar schöne Maria Katharina Smolk von Smolenitz war. Sie heiratete später den Wiener Maler Daffinger, der sie malte und prügelte. Er malte auch Grillparzer in etwas verniedlichter Form und sichtlich ohne eine Ahnung von ihm zu haben, was man dem stutzerhaften Bildchen ansieht. Immerhin, wenn man es mit anderen, unfreundlicheren Bildnissen aus seinen jungen Tagen vergleicht, läßt sich ungefähr ermitteln, wie der Held so vieler Mädchenträume aussah. Grillparzer war auch in seiner Jugend, bevor die Unmutfalten in seinem Gesicht deutlicher hervortraten, nicht eben hübsch. Er hatte ein langes Kinn, einen breitgezogenen Mund mit etwas vorhängender Unterlippe und eine etwas knollige Nase. Nur die hoheitsvoll über dem spitzen Gesicht thronende Stirn war schön und sein blauer Blick gewinnend. Die schreibselige Karoline Pichler, deren heiratsfähige Tochter übrigens auch in ihn verliebt war, widmet ihm in ihren Denkwürdigkeiten einen ihrer sich regenwurmartig verschlängelnden Sätze, in dem sie die »blauen Augen, die über die blassen Züge den Ausdruck von Geistestiefe und Güte verbreiteten«, besonders hervorhebt. Die »Einfachheit und Herzlichkeit seines Benehmens«, sagt sie, hätte ihm in ihrem Hause, das damals maßgebend war, »unser aller Achtung und Zuneigung gewonnen«. Übrigens konnte er, davon abgesehen, in Gesellschaft auch ausgesprochen amüsant sein, wenn er es nicht vorzog, unausstehlich zu sein.

So geht er, ein Hagestolz auf Abwegen, durch die Wiener Gesellschaft seiner Tage und von der einen zur anderen. Daß er bei keiner glücklich wurde, ist seine einzige Entschuldigung; daß er, ein unheilbarer Schönheitsnarr, sich so leicht an gesteigerte weibliche Reize verlor und doch nie verlor, hat etwas Versöhnliches; daß ihn ein Schuldgefühl quälte, wann immer er vor seinen Gewissensspiegel trat, spricht für seine sittliche Integrität. Eine Art Erbsünde waltet durch seine Schriften und läßt sich aus der Aufeinanderfolge seiner Dramen deutlich herauslesen. Don Fedrigo in »Blanka von Kastilien« liebt die Frau seines Bruders; der Räuber Jaromir rettet sich aus seinen Schandtaten in die Liebe zu einem Mädchen, von dem sich später herausstellt, daß es seine leibliche Schwester ist; der von Sappho erwählte Liebesgenosse verläßt seine Inselkönigin um einer schönen Sklavin willen, und Jason, in »Medea«, verführt ein dunkelhaariges Barbarenmädchen, um sich zehn Jahre später mit einer blonden Griechin zu trösten. Die Reihe und der Schuldnachweis lassen sich fortsetzen bis zu seinem wahrscheinlich letzten Stück, der »Jüdin von Toledo«, wo wir in dem vom Tod entstellten Bilde Rahels noch einmal die Züge der spielerischen Marie Daffinger erkennen werden. Immer wieder ist die Frau das verklärte Opfer in seinen Stücken, die vielfach ja auch Frauennamen schon in ihren Titelaufschriften tragen oder, leicht durchschaubar, verbergen. Diese Voreingenommenheit mag ihn im Leben zu einem so gefährlichen Liebhaber gemacht haben, obwohl er nichts weniger als ein Troubadour war. Er selbst, der ein großer Menschenkenner war, weil er sich selber kannte, und ein großer Charakteristiker, weil ein großer Charakter, sagt einmal, höchst aufschlußreich, daß in ihm zwei völlig abgesonderte Wesen lebten: »ein Dichter von der übergreifendsten, ja sich überstürzenden Phantasie und ein Verstandesmensch der kältesten und zähesten Art«. Dies zweite Wesen beweist er oft zum Erschrecken. Als ihn die Familie Piquot um eine Grabschrift für die arme Marie anging, setzte er ihr nach reiflicher Überlegung auf den Stein: »Jung ging sie aus der Welt; zwar ohne Genuß, dafür aber auch ohne Reue.« Herzlos? Es ist nur ein echt österreichisches Understatement, das die Wahrheit lieber verschluckt als ausschreit. Die Wahrheit war, daß der große Trauerspieldichter sich auch den Schmerz nicht nahekommen ließ, weil er nur allzu gut wußte, wie leicht er ihm erlag. Er selbst nannte es entschuldigend seine »Schamhaftigkeit der Empfindung«. Man könnte es auch Einfachheit nennen, der alles Schwelgerische, auch das in Gefühlen Schwelgende, innerlich widerstrebt. Eine sehr österreichische Eigenschaft, die ihn einem brüllenden Deutschtum entfremdete, aber dem zurückhaltend sich selbst beherrschenden Angelsachsen, nach den gemachten Erfahrungen, nur um so näher verbinden müßte.


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