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Drittes Kapitel.
Sappho

»Den Menschen Liebe und den Göttern Ehrfurcht!«

 

Der Kapellmeister Weigel sucht einen Opernstoff. Beethoven lebt noch und so ist Herr Weigel vorderhand eine musikalische Größe dritten Ranges, zweiten Ranges wird er erst nach dem Tode des Titanen sein. Aber der Mann stammt aus Eisenstadt, wo Haydn gewirkt hat, und wie Haydn stand er dort eine Zeitlang im Dienste des Fürsten Esterházy. Davon zehrt der bescheidene Ruhm des auf ausgetretenem Pfade in Wien Zugewanderten, der im übrigen ein tüchtiger, fleißiger Musiker und sogar erster Hofkapellmeister und Opernchef ist. Er hat schon ein ansehnliches Kapitälchen von Beliebtheit aufgehäuft, so daß er sich wohl zutrauen darf, eine große Oper zu komponieren. Was er beherzt seinem Freund, dem gleichfalls beliebten Wiener Rechtsanwalt Dr. Joel, anvertraut. Der Joel kennt ja sogar den jungen Grillparzer. Vielleicht erwähnt er's ihm gegenüber, denkt sich der Weigel.

Der Dr. Joel erwähnt es; er weiß, was er sich und seiner gesellschaftlichen Beliebtheit schuldig ist. Eines Tages, beim Pratereingang mit dem ziemlich unbeschäftigt heranspazierenden Dichter der »Ahnfrau« zusammentreffend, läßt er, wie man das so nennt, ein Wort fallen. »Der Weigel sucht einen Opernstoff!« sagt er und läßt eine Pause eintreten wie bei Gericht. Dann fährt er entschlossen fort: »Ich wüßt' einen: die Sappho!« Und er gibt zu bedenken, daß die leierschlagende Dichterin und Erfinderin der Sapphischen Strophe, in ein hoffnungsloses Liebesabenteuer verstrickt, ihrem verhältnismäßig jungen Leben durch einen Sprung vom Leukadischen Fels »bekanntlich« ein Ende gemacht hat. Er sagt bekanntlich, denn er hat's erst gestern im Bildungslexikon nachgelesen; der Artikel war sogar illustriert, in einem ausgesprochen Altwiener, sparsam griechischen Stil. Grillparzer, Sohn eines Advokaten, läßt den Advokaten ausreden. Dann sagt er: »Das wär' allenfalls ein Trauerspiel«, zieht den Hut und spaziert weiter in den Prater hinein.

Als er spät nachts nach Hause findet, ist das Stück in seinem Kopf fertig. Was ihm fehlt, ist nur Sapphos Ode »An die Liebesgöttin«, die er tags darauf in der ihm vertrauten Hofbibliothek aus dem griechischen Urtext übersetzt und mit der er, als mit einer goldenen Spange, seinen ersten Akt beschließen wird. Dann fängt er gleich fünffüßig zu schreiben an. Die Hauptsache ist ja, daß man anfängt, dann geht's schon weiter. Das hat er bei der »Ahnfrau« vom welterfahrenen Schreyvogel gelernt. Nach weniger als vier Wochen setzt er die zwei letzten Verse aufs Papier:

Es war auf Erden ihre Heimat nicht.
– Sie ist zurückgekehret zu den Ihren!

Die technischen Schwierigkeiten, die bei diesem Stück zu überwinden waren, lagen nicht im Stoff, sondern in einer Backstube. Sie befand sich unter den zwei Wohnräumen, die eine mildtätige Tante, Eleonore von Paumgartten, deren Ältester bereits in der Kabinettskanzlei Ihrer Majestät angestellt war, der verwitweten Frau Grillparzer und ihrer zusammengeschrumpften Familie im Schottenhof eingeräumt hatte, nach Begleich der rückständigen Miete, der den Abschied von der Wohnung »Im Elend« ein paar Monate vorher erleichtert hatte. Der Nachteil der neuen Behausung bestand bloß darin, daß sich just Franzens Kabinett, Schlafzimmer und Studierstube in einem, über dem Backofen befand, der gleich nach Mitternacht zu wärmen und zu lärmen begann. Bäcker arbeiten wie Journalisten, die Grillparzer auch nicht leiden kann, vorzugsweise bei Nacht, damit das frische Gebäck knusperig auf dem Frühstückstisch stehen kann, und gerade bei Nacht muß Grillparzer, der tagsüber in der Hofbibliothek beschäftigt ist, entweder schreiben oder schlafen. Beides kann er nicht in dem schwelenden, hochsommerlich überhitzten Dunst und dumpfen Gepolter, das von unten heraufdringt, und wie soll er da mit seiner griechischen Liedersängerin zu Rande kommen. Glücklicherweise findet sich ein naheliegender Ausweg. Die reichverzweigte Familie Sonnleithner, der die Mutter Grillparzers entstammt, weist noch andre Tanten auf. Es gibt auch eine Tante Franziska, die gleichfalls im Schottenhof wohnt, und sogar unter sehr patrizischen Bedingungen. Tante Franziska, die Gattin des angesehenen Advokaten Johann Sigismund Rizy und Mutter von acht Kindern, benötigt trotz der zahlreichen Familie einen Teil ihrer Wohnung nur tagsüber aus repräsentativen Gründen. Und da sie überdem eine gute Tante ist, überläßt sie ihrem Neffen Franz ihre Stube zum nächtlichen Schlafen oder Dichten. Franz, bürgerlich erzogen, wie er anders in einer so tantenreichen Familie gar nicht sein kann, tut das eine nach dem andern. Er legt sich in der Dämmerung schlafen, um in der Dämmerung aufzustehen und die vor dem Einschlafen gewissenhaft ausgebrütete Szene in Jamben zu Papier zu bringen. Goethe hat dasselbe in Italien bei seiner »Iphigenie« gemacht; wenn auch ohne Tante. Die Tanten sind ein wienerisches Element im Leben Grillparzers; wir wollen sie uns gar nicht wegdenken. Denn wenn man dann die fertige Sappho neben Goethes Iphigenie stellt, wo sie, zu Racines Phaedra hinüberwinkend, in der Literaturgeschichte zu stehen kommt, so mag man finden, daß die aus einem noch weißeren Marmor gebildete Iphigenie vergleichsweise etwas Tantenhaftes hat. Die in Leidenschaft hochlodernde Sappho Grillparzers hat es ganz und gar nicht. Vielleicht war er so frei, weil er so unfrei war.

*

Goethe, als Emeritus des Weimarer Theaters, das er durch fünfundzwanzig Jahre nachdrücklich geleitet hatte, sagt einmal zu Eckermann, der es gleich aufschreibt, ein gutes Stück müsse sich in zwei Sätzen erzählen lassen. Auf die »Sappho« angewendet, die nicht nur ein gutes, sondern, auch der Mache nach, ein vortreffliches Stück ist, könnten diese zwei Sätze ungefähr lauten: Die große griechische Dichterin kehrt lorbeergekrönt von den Festspielen in Olympia zurück, in Begleitung eines reizenden jungen Mannes, Phaon mit Namen, den sie in Olympia aufgelesen und zu ihrem Gefährten erkoren hat. In der ersten Nacht geht er mit einer schönen Sklavin durch, die ihre Tochter sein könnte, und bei Sonnenaufgang, nachdem sie der Aphrodite geräuchert und die Liebenden zusammengetan hat, hüpft sie verzichtend ins Meer. Wenn das kein Trauerspiel ist, gibt es keines.

Daß diese Sappho mehr Weib als Dichterin sei, warf ein zeitgenössischer Kritiker Grillparzer vor. Es gab kein Lob, das den Getadelten mehr befriedigt hätte als dieser Tadel. Denn wie anders könnte Sappho auf dem Theater interessieren, als indem sie über ihrem Phaon die Sappho vergißt? Das eben ist ja das Mißliche bei Künstlerdramen, daß man den Ruhm auf der Bühne voraussetzen muß, ohne daß ihn der Berühmte beweisen könnte. Höchstens kann er dies mittelbar, gemäß dem Worte Carlyles, daß man aus der Art wie jemand singt, schließen könne, wie er kämpfen würde. Das gilt auch für Grillparzers Sappho. Wie muß diese Frau gedichtet haben, denkt man bewundernd, wenn man sie fünf Akte lang lieben gesehen.

Das gleiche gilt von der sogenannten Psychologie einer sogenannten Künstlerseele; nur daß sie eine Seele ist, ohne Künstler, kann sie aus der theatralischen Verlegenheit retten. Charlotte Wolter, die große Wiener Tragödin, als sie fünfzig Jahre nach der Schröder im Burgtheater die Sappho übernahm, wurde auf einem Jour von einer wißbegierigen kleinen Gräfin gefragt, was für eine »Auffassung« sie denn eigentlich von ihrer neuen Rolle hätte. Sie antwortete: »Auffassung? Gar keine, mein liebes Kind. Ich spiel' eine schon etwas ältere Frau, die das Pech hat, in einen ganz jungen Mann verliebt zu sein.«

Das ist alles, so einfach es sich sagt und liest. Denn in der Einfachheit steckt alle Vielfalt der Welt und alles kommt am Ende auf jene »Natürlichkeit« an, »ohne die doch alle Bildung nur eine klingende Schelle ist«, wie der alte Grillparzer viele, viele Jahre später einmal an den König von Bayern schreiben wird. So einfach, so natürlich wie dieser ungekünstelte Satz ist auch seine Sappho. Sie ist durchaus das, was ein Professor der Ästhetik als ein edles Weib klassifizieren würde. Was nicht hindert, daß sie auf der Höhe des dritten Aktes den Dolch zückt gegen die fünfzehnjährige Rivalin, nur weil diese sich weigert, eine Rose zurückzugeben, die ihr Phaon geschenkt hat.

Das Natürliche natürlich zu machen und damit zu überraschen, ist die Kunst des Dramatikers. Von jenem Dolch irregeleitet, erwartet der Zuschauer, daß Sappho am Schlusse des Trauerspiels sich mit ebendemselben Dolche töten werde. Aber nein, sie ersticht sich nicht, sie ertränkt sich. Es ist das Natürliche. Ist Sappho doch, nach griechischen Begriffen, die Nachbarin der Aphrodite, der schaumgeborenen Göttin der Liebe und des Meeres. Aus der Mutterlauge der Schöpfung stammend, kehrt sie mit einer letzten großen Wendung zu ihr zurück.

*

Beethoven ist Beethoven in jedem Takt einer seiner großen Symphonien, und so ist Grillparzer Grillparzer in jedem Vers der Sappho. Das ist bei dem launenhaftesten aller großen Dramatiker nicht ausnahmslos der Fall, die besten seiner Akte immer ausgenommen. Aber wenn seine Diktion mit der Zeit aus einer tiefen Abneigung gegen alles Süßliche hin und wieder etwas hartmäulig und pedantisch trocken wirkt – hoppetatschig nennt man es auf wienerisch – in der Sappho ist noch alles weich und biegsam, eine leicht atembare Sommerluft weht durch das ganze liebliche Stück und es gibt Verse darin, die sich wie Falter auf windgewiegten Blumen niederlassen. Einen solchen Vers zu analysieren, ohne den Schmetterling an den Flügeln zu fassen und seinen Farbenschmelz zu gefährden, ist freilich ein hoffnungsloses Beginnen. Aber der Fortschritt gegenüber der »Ahnfrau« liegt auf der Hand und läßt sich nicht übersehen. Dort war manches überhitzt und überspitzt und noch das Beste im Ton der Bravourarie vorgebracht. Hier ist alles Maß und Melodie. Auch das diesmal jambische Versmaß ist ein anderes und von dem seines Schicksals müden Schicksalsdramatiker mit Bedacht gewählt. Der Trochäus galoppiert, der Jambus trabt, und im Traben hat das Pferd einen längeren Atem, worauf es in der Tragödie vorzüglich ankommt. Darum hat Grillparzer hier sich für den klassischen Blankvers entschieden, weil er aus einer Art Trotz gegen den ihm angehängten Schicksalsdramatiker sich entschlossen hat, dem Publikum zu zeigen, daß er seinen Euripides so gut wie einer gelesen hat. Seine Verse schreien nicht mehr effekthascherisch wie in dem schauerlichen Gespenstermärchen, sondern singen zuchtvoll mezza voce. In dem halben Jahr seit der »Ahnfrau« ist Grillparzer um zehn Jahre älter geworden. Jetzt ist er zugleich jung und reif: herangereift, wie die Bonzen der Literaturgeschichte sagen.

Der Grundton des Sappho-Dramas ist elegischer Verzicht. Verzicht worauf? Im Anfang, da das Trauerspiel festlich anhebt, mit der Heimkehr der ruhmgekrönten Sappho auf ihr kleines Inselkönigreich, scheint die im siebenten Liebeshimmel Schwebende nicht abgeneigt, auf alle Genugtuungen Olympias zu verzichten zugunsten alles dessen, was das sogenannte »Leben« ihr zu bieten hat, und muß sich von ihrer späteren Rivalin, der kleinen Melitta, erst erinnern lassen, was das ihr zuerkannte Lorbeergewinde bedeutet:

Der schöne Kranz! Wie lohnt so hohe Zier,
Von Tausenden gesucht und nicht errungen!

Aber im dritten Akt, als der im Schlaf ertappte Phaon verrät, daß er von einer sich in Melitta verwandelnden Sappho geträumt hat, zielt der Verzicht vorahnend in die entgegengesetzte Richtung. Nun sieht sie sich, wie Grillparzer selbst in dem Schlüsselgedicht »Der Bann«, zwischen Kunst und Leben gestellt und erkennt ihren tragischen Irrtum.

Der Bogen klang,
(die Hände über der Brust zusammenschlagend)
es sitzt der Pfeil!

beginnt dieses großartige Selbstgespräch, und schon diese zwischengestellte Regie-Anmerkung, die Grillparzer der nahen Berührung mit dem lebendigen Theater verdankt, ist ein Meisterstück, um das sich ganze Ketten schönster Verse schlingen. »O Törin!« ruft Sappho sich selber zu:

O Törin! Warum stieg ich von den Höh'n,
Die Lorbeer krönt, wo Aganippe rauscht,
Mit Sternenglanz sich Musenchöre gatten,
Hernieder in das engbegrenzte Tal;
Wo Armut herrscht und Treubruch und Verbrechen?

Wen Götter sich zum Eigentum erlesen,
Geselle sich zu Erdenbürgern nicht,
Des Menschen und der Überird'schen Los,
Es mischt sich nimmer in demselben Becher.
Von beiden Welten Eine mußt du wählen.
Hast du gewählt, dann ist kein Rücktritt mehr!
Ein Biß nur in des Ruhmes goldne Frucht,
Proserpinens Granatenkernen gleich,
Reiht dich auf ewig zu den stillen Schatten,
Und den Lebendigen gehörst du nimmer an.
Mag auch das Leben noch so lieblich blinken,
Mit holden Schmeichellauten zu dir tönen,
Als Freundschaft und als Liebe an dich locken:
Halt ein, Unsel'ger! Rosen willst du brechen
Und drückst dafür dir Dornen in die Brust!

So weit die Elegie. Aber was der Elegie vorantritt, ist der aus seiner Erniedrigung aufbäumende Stolz der verschmähten Sappho:

Sappho verschmäht, um ihrer Sklavin willen!
Verschmähet! Wer? Beim Himmel und von wem?
Bin ich dieselbe Sappho denn nicht mehr,
Die Könige zu ihren Füßen sah,
Und, spielend mit der dargebotnen Krone,
Die Stolzen sah und hörte, und – entließ! …

Einen Akt später kann man ihr und kann sie sich die Wahrheit nicht länger verhehlen: Das Liebespaar ist, scheinbar uneinholbar, nach Chios entflohen. Da wankt die stolze Sappho, die treue Gefährtin stützt sie, doch schon ist ihr Ende beschlossen, und sie weiß es:

O, laß mich sinken! Warum hältst du mich?

Welch ein Aktschluß! Ein Vers, so gedrängt voll dramatischer Kraft wie das »Triff noch einmal!« der griechischen Elektra in der Tragödie des Euripides.

Auch sonst fehlt es dem zärtlichen Trauerspiel nicht an griechischen Anklängen, die doch nirgends den Eindruck epigonenhafter Anlehnung machen. Das griechische Drama ist doppelten Ursprungs: der eine ist die gottesdienstliche Handlung, der andere die Gerichtsverhandlung. Zwischen Ankläger und Verteidiger unter Vorsitz des Dichters wird das Thema des Trauerspiels sittlich abgehandelt. Es fehlt in keinem an dialektisch zugespitzten Reden und schlagenden Repliken, an denen der Zuschauer und die immer im Saal anwesende Menschheit ihre Freude haben. So sagt etwa die Sophokleische Antigone, die dem Verbot des Königs zu Trotz den Landesfeind, weil er ihr Bruder ist, begraben hat: »Nicht mit zu hassen, mit zu lieben bin ich da!« Und so sagt Sappho, bevor sie im Purpurkleide von der Klippe springt, gewandelt und verzeihend zu Phaon: »Ich suchte dich und habe mich gefunden!« So spricht die Opfernde das vom Chor der Inselbewohner nachgebetete »Den Menschen Liebe und den Göttern Ehrfurcht!« Ein Griechenwort. Voran ging die Gerichtsverhandlung gegen das flüchtige, von den Häschern eingebrachte Liebespaar, in deren Verlauf der playboy Phaon zum Manne erwächst und mit Argumenten, die ihm der Advokatensohn Grillparzer in den Mund legt, sein Recht verteidigt: das Recht auf Liebe, das oberste der Menschenrechte, das keine Gewalt der Erde verbieten kann. Auch das ist griechisch.

Griechisch ist auch die Architektur des Dramas, die schlanke Säulenreihe dieser fünf Akte, durch die hindurch man überall in einen südlich blauen Himmel blickt. Der Schauplatz braucht nicht zu wechseln, denn er ist ewig; die Handlung rollt in einem Zuge von einer Morgenstunde bis zum Sonnenaufgang des nächsten Tages ab; ihre Einheit ergibt sich aus ihrer Intensität. Aristoteles kommt auf seine Rechnung und ebenso der Theaterdirektor, der sich eine ganze Reihe nebensächlicher Dekorationen erspart. Und alle diese Vorteile ergeben sich zwanglos aus dem Stoff, den der Dichter der gotischen »Ahnfrau« mit Bedacht gewählt hat. Was er, um sich zu unterscheiden, diesmal suchte und fand, war, um es mit seinen eigenen Worten zu sagen: »Ein Sammelplatz glühender Leidenschaften, über die aber eine erworbene Ruhe, die schöne Frucht höherer Geistesbildung, das Szepter führt.« Erworbene Ruhe im Tumult der Leidenschaft! Die Griechen haben es mit einem unvergeßlichen Bilde das Atemanhalten auf dem Gipfel der Woge genannt. Grillparzers »Sappho« ist ein solcher tiefer Atemzug des Schicksals, aber zugleich auch – und das ist ihre Bedeutung für das Theater – eine aus den Urtiefen der Menschennatur aufrauschende, uns mitreißende Schicksalswoge.

Und all dies wird in dem schlanken Trauerspiel mit den bescheidensten Mitteln erreicht. Sechs Darsteller, davon zwei Nebenrollen. Von den übrigbleibenden vier Rollen sind drei Hauptrollen, jede für Gastspielzwecke geeignet: Sappho, Melitta, Phaon. Und selbst die vierte, der treue, so österreichisch anmutende Haushofmeister Rhamnes, entwickelt sich im fünften Akt zu einem reizvollen Charakterbild, um das sich ein Künstler der Szene bemühen kann. Kein Wunder, daß die Schauspieler des Burgtheaters von dem Stück, an dem nichts zu streichen und nichts zu bessern ist, entzückt sind; daß sie den jungen Autor, da er in seinem fadenscheinigen Überrock auf der Probe erscheint, »wie einen Halbgott« verehren, und daß ihm die große Schröder, die erste Tragödin des damaligen Deutschland, eine Frau in reifen Jahren schon, die gerne etwas jünger wäre, hingerissen die Hand küßt. Das tut auch das Publikum, indem es dem jungen Stück einen jubelnden Empfang bereitet. »Der Lärm am Schlusse wollte kein Ende nehmen«, berichtet der ausnahmsweise mit sich zufriedene Verfasser. Er gibt sogar in seiner immer etwas verdrießlichen Art zu, daß er sich auf den zweiten Akt der »Sappho« etwas einbilde.

In diesem aus dem Idyllischen ins Tragische aufglühenden zweiten Akt tritt Sapphos Gegenspielerin, die naive, reizend »geistesarme« Melitta in den Vordergrund, und mit ihr gab es auf der letzten Probe eine halb lustspielmäßige Schwierigkeit. Die kleine Madame Korn, die sie auf Wunsch des Dichters übernommen hatte, war nämlich eigentlich eine Lustspiel-Liebhaberin, und es spricht für den Theatermann Grillparzer, daß er ihr trotzdem einen Platz in seinem Trauerspiel anwies. Leider erwies sie sich dieser Auszeichnung zunächst wenig würdig, da sie von Probe zu Probe affektierter wurde. Der Autor merkt es mit Betrübnis und gibt als ein richtiger Österreicher, der er ist, den Abend, ohne sich zu äußern, gleich verloren. Aber wenn es zur schauspielerischen Begabung gehört, auch das Unausgesprochene zu hören, so ist die kleine, bildhübsche Madame Korn zumindest nicht unbegabt. Im letzten Zwischenakt der Generalprobe, während die Bühnenarbeiter hinter dem Vorhang bereits den Leukadischen Felsen zum Todessprung aufbauen, hört der bekümmert im Dunkeln sitzende Dichter plötzlich etwas hinter sich rascheln. Es ist die an sich unsicher gewordene Melitta, die, von rückwärts an ihn herantretend, über seine Schulter geneigt, flüsternd fragt, wie sie die Melitta denn eigentlich spielen solle. »Spielen Sie sie, wie Sie Ihre übrigen Rollen spielen!« lautet seine fachmännische Auskunft. »Ja, aber«, wendet sie zaghaft ein, im Theater hätte man ihr gesagt, in einem griechischen Trauerspiel müsse alles gehoben sein. »Richtig!« erwidert Grillparzer, aber der Vers, ihre Umgebung – ihr Talent, will er noch hinzufügen, verschluckt's aber – werde schon die »nötige Hebung hineinbringen.« Die zierliche Madame Korn nimmt sich den guten Rat zu Herzen; sie kann auch natürlich sein und wird es wieder, über Nacht. Der jubelnde Erfolg am nächsten Abend war zu nicht geringem Teile der holden Überraschung zu danken, die dem Wiener Publikum seine im griechischen Trauerspiel ganz bodenständig auftretende Lustspiel-Naive bereitete. »Über alle Beschreibung liebenswürdig«, nennt dreißig Jahre später der sich dankbar erinnernde Dichter ihre Leistung. Sie war »die Krone des Abends«. Das in Schauspielerkreisen weitverbreitete Vorurteil, daß derjenige, der am wenigsten vom Theater verstünde, der Autor sei, scheint damit ausnahmsweise widerlegt. Schon jene in den Vers geklammerte Regie-Anweisung: »die Arme über der Brust zusammenschlagend« beweist das Gegenteil.

Die Wiener Kritik war mehr als gnädig, die reichsdeutsche, die erst der Erfolg hervorrief, etwas weniger als herablassend; wie immer seit einem Jahrhundert behandelt sie den österreichischen Autor zu sehr als »kleinen Bruder«, wobei sie völlig außer Betracht läßt, daß er weder Bruder noch klein ist. Nur der nach Nazi-Begriffen »artfremde« Herr Ludwig Börne in Frankfurt, Deutschlands sauberste und spitzeste kritische Feder seit Lessing, läßt der »Sappho« volle Gerechtigkeit widerfahren in einer schönen Besprechung, die mit den Worten schließt: »Grillparzer ist ein Dichter«, was festzustellen in Frankfurt offenbar Mut erfordert. In den diesem Kernsatz vorangehenden Sätzen preist er die Verspracht der Dichtung, die er als einen »paradiesischen Garten« in einen witzigen Gegensatz bringt zu dem »Fruchtmarkt« anderer neuerer Dichter. Lord Byron, der die »Sappho« auf Italienisch liest, nennt sie hingerissen eine »große Tat«, und ein Herr Valentin Teichmann, Sekretär des theatergewaltigen Grafen Brühl, spricht unter dem Eindruck der Lektüre von einem »singenden Griechenland«.

*

Nachdem er den tragischen Konflikt zwischen Kunst und Leben endgültig erledigt zu haben glaubte – er hat es keineswegs, wie sich noch zeigen wird –, nahm der körperlich erschöpfte junge Dichter bereitwillig eine Einladung des Lilienfelder Abtes Ladislaus Pyrker an, mit ihm zusammen nach Gastein hinaufzufahren, eine viertägige, an sich genußreiche Wagenfahrt durch das österreichische Gebirge. Der erfolgreiche Dichter der »Sappho«, plötzlich von allerlei Mäzenaten umworben, konnte sich einen Urlaub von seiner bescheidenen Beamtentätigkeit jetzt leicht gönnen. Auch sein Vetter, Ferdinand von Paumgartten, mag bei der Ermöglichung dieses Urlaubs für den im Range weit hinter ihm Stehenden mitgeholfen haben, wie er ihm bald auch die Möglichkeit weiterreichender Reise-Unternehmungen verschaffen wird. Der Verdacht liegt nahe, daß er es nur tat, um seine Frau Charlotte vor dem gefährlichen Franz in Sicherheit zu bringen, und es ist begreiflich, daß ein neuerer, höchst mittelmäßiger Grillparzer-Roman sich dieses wohlfeile Motiv nicht entgehen läßt. Aber natürlich ist dies nur eine romanhafte Unterstellung. Herr von Paumgartten, derzeit bereits Sekretär der Kaiserin, war viel zu selbstsicher und ahnungslos, um ein derart schlaues Manöver auch nur in Betracht zu ziehen.

Wie immer sich dies verhalten mag, die Gasteiner Landschaft, mit ihren dunkelgrünen Tannenwäldern und dem schneeweißen Wasserfall, der sie tosend durchpfeilt, tut Wunder: Grillparzer erholt sich und schreibt zum Abschied ein herrliches Gedicht, »Abschied von Gastein« betitelt. In feierlichen Stanzen, wie sich ihrer, ohne Feierlichkeit, auch sein Zeitgenosse Byron gern bedient, beklagt und würdigt er zugleich sein Dichter-Schicksal in drei der Natur abgelauschten Vergleichen. Der vom Blitz getroffene Baum lodert zum Himmel auf wie eine Fackel; die Auster, »das arme Muscheltier«, bildet aus einer Verletzung ihres zarten Innenlebens eine Perle: »daß sie die Perle trug – das macht die Muschel krank!« Der dramatische Wasserfall schließlich, wer denkt daran, um wieviel lieber er ein Wiesenbach gewesen wäre als aufgerissen, im malerischen Sturz, zum Regenbogen zu zerstäuben. Und dann der, wenn man so sagen darf, Aktschluß des Gedichtes, der wiederum Grillparzers außerordentliches Talent für das, was man im Englischen last lines nennt, beglaubigt. Dem Dichter, als dem tertium comparationis, ins Gesicht leuchtend, schließt der Poet den Verserguß mit den rückbezüglichen Worten:

Und Flammen, Perlen, Schmuck, die euch umschweben,
Gelöste Teile sind's von meinem Leben!

Das ist es und das ist »Sappho«: Kein gräzisierendes Vasenbild aus der späten Empirezeit, die solche Bilder in Emailfarben liebte; auch keine Wortoper, wie sie etwa Browning oder D'Annunzio über diesen schönen Gegenstand geschrieben haben könnten, sondern ein feuerflüssig gemachter »gelöster Teil des eigenen Lebens«, der in die Biographie des Dichters gehört als ein Teil von ihr. Grillparzer war ein Erlebnis-Dichter wie Goethe, wie Molière einer war; auch an Ibsen mag man denken, an sein »Gerichtstag halten über das eigene Ich!« Aber freilich, es gibt Erlebnisdichter und Erlebnisdichter: solche, die schreiben, was sie erlebt haben, und solche, die erleben, was sie geschrieben haben, in geheimnisvoller Vorahnung jenseits von Zeit und Raum. Ein solcher Dichter war Oscar Wilde, als er sein »Bildnis des Dorian Gray«, ein junger Mann noch, schrieb, und ist, auf ungleich höherer Stufe, der Urheber der »Sappho«. Eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Gewissen, stellt sie, auf das Leben des Dichters bezogen, den Versuch dar, den Ausgleich zwischen Kunst und Leben, die für Grillparzer als Todfeinde einander gegenüberstehen, durch heroischen Verzicht herbeizuführen. Aber ach! es ist ein Verzicht auf der Seufzerbrücke der Kunst. Vom Ich ihres Dichters aus gesehen, war Sappho nur ein Symbol. Und blieb eines.


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