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Elftes Kapitel.
Und nun: Europa!

»Freiheit, die ich meine!«

 

Im Jahre 1836 unternimmt der jetzt Fünfundvierzigjährige seine dritte große Reise, in anderer Richtung und anderer Absicht diesmal. Wenn er sich von seinem Amtssessel losringt – er ist mittlerweile Archivdirektor im Finanzministerium geworden – und Wien wieder einmal den Rücken kehrt, so geschieht es nicht, um italienische Madonnen und antike Ausgrabungen in Italien zu bewundern, noch auch, um einen Besuch bei Goethe zu machen. Nach Deutschland zieht es ihn jetzt am wenigsten, hingegen möchte er sich zur Abwechslung den Westen Europas etwas näher besehen. Veränderungen, die dort in den letzten Jahren sich begeben hatten, mochten ihn dazu veranlaßt haben. England hatte zwanzig Jahre nach der Besiegung Napoleons zum Liberalismus zurückgefunden und stand, wenn Metternich in Griechenland, in Italien oder in Spanien intervenierte, auf der anderen Seite. In Frankreich war die Julirevolution ausgebrochen, die auch dort nach dem Sturz Karls X. den vorläufigen Sieg der Fortschrittsidee gezeitigt hatte. Grillparzer hatte an diesen Entwicklungen lebhaftesten Anteil genommen, wie aus seinen lange geheimgehaltenen persönlichen Aufzeichnungen hervorgeht; nichts ungerechter, als ihn der politischen Teilnahmslosigkeit zu beschuldigen. »Die Angelegenheiten von Spanien interessieren mich bis zum Lächerlichen. Ich bin krank und zu allem unfähig, ehe ich weiß, daß Bilbao entsetzt ist … Ich leide überhaupt unter den Weltbegebenheiten …« Und noch einmal, an anderer Stelle: »Ich kann mich kaum der Tränen enthalten, daß Bilbao entsetzt ist …« Was ging ihn, der so aufmerksam die großen spanischen Dramatiker des sechzehnten Jahrhunderts las und daraus ein Lebensstudium machte, der Spanische Bürgerkrieg, was Bilbao an? Er wußte recht gut, warum er aufatmete, als sich »die Sache des Karlismus zum Untergang neigte«. Hören wir ihn selbst: Es wäre … »lächerlich, hätte ich nicht die Überzeugung, daß die Sache meines Vaterlandes dort ausgefochten wird … Nur durch den Fortschritt der politischen Regeneration in dem übrigen Europa ›könne‹ dieses Land – nämlich Österreich – aus seinem gegenwärtigen niederträchtigen Zustand herausgenötigt werden.« Einmal seufzt er geradezu: »Ich möchte ein periodischer Schriftsteller sein!« Periodischer Schriftsteller, das heißt Journalist, und wir wissen, wie Grillparzer über den Journalismus dachte und über – die Journalisten! In seiner Selbstbiographie lesen wir den Satz: »Nie hat ein Journalist von mir einen Brief erhalten, mit Ausnahme von zweien, als Antwort auf vorangegangene von ihrer Seite.« Übrigens schließt die Abneigung gegen den Journalismus die Befähigung zum Journalismus keineswegs aus, wie erfahrene Journalisten sehr wohl wissen. Grillparzers von ihm geheimgehaltene, aber erhalten gebliebene Charakteristik Metternichs ist ein Meisterstück säkularen Journalismus', und wie vollkommen er die zu seiner Zeit gängige Form des Reise-Feuilletons meisterte, beweist die schlanke, bewegliche Prosa seiner Aufzeichnungen von unterwegs. Er hat etwas zu sagen und sagt es oft genug auf eine wahrhaft amüsante Weise; so mißmutig er war, so kurzweilig ist es mit ihm zu reisen. Hätte Grillparzer in einem freien Land gelebt, so wäre er als Journalist ebenso groß gewesen wie sein Zeitgenosse Victor Hugo es war, und als Dichter ebenso groß geblieben wie der Verfasser der »Choses vues« und der revolutionären »Châtiments«. Daß literarische Hochbegabung die journalistische nicht ausschließt, bewies in unseren Tagen aufs nachdrücklichste Thomas Mann.

Wenn Grillparzer in diesen europäischen Werdejahren – denn das war die Zeit zwischen der Julirevolution und der Februarrevolution in Frankreich, wenn auch später nichts daraus wurde – das Schlachtfeld der Zeitideen überblickte, so tat er es als bewußter Europäer, und er war Europäer, nicht obwohl, sondern weil er Österreicher war. Dem aus einem übernationalen Staatswesen Entsprossenen war dies ebenso selbstverständlich, wie ihm das nationale Wesen und Unwesen eines im Reich aufkommenden Teutonentums absurd und lächerlich erschien. Als junger Mann in Italien macht er sich über die »Nürnbergerei« der neudeutschen Maler lustig, die in Rom in mittelalterlicher Tracht aufdringlich umherspazierten, und später wirft er einmal in einem Epigramm die Frage auf, worauf denn eigentlich die nationale Anmaßung des einzelnen sich gründe? Auf die Tatsache, antwortet er, daß man irgendwo geboren ist. »Was«, fügt er hinzu, »freilich sich von selbst versteht.« In diesem Punkte scheiden sich seine und Deutschlands Wege von allem Anfang an, im Punkte nationaler Unempfindlichkeit nämlich, und das eben ist das eminent österreichische an Grillparzers geistigem Habitus und dichterischer Erscheinung, das ihn von der zeitgenössischen deutschen Literatur, die im Exil lebende ausgenommen, auf den ersten Blick sich abheben läßt. Der Österreicher, obwohl dem deutschen Volksstamm zugehörig und in den deutschen Siedlungsraum geschichtlich eingegliedert, reagiert so grundverschieden auf die Prüfung seines Nationalgefühls wie das Lakmuspapier in dem bekannten chemischen Experiment, wenn es sich darum handelt, festzustellen, ob eine bestimmte Flüssigkeit eine Säure ist oder eine Base. Im einen Falle verfärbt sich das Lakmuspapier rot, im anderen blau. Die Romantische Schule deutscher Dichtung bekennt sich als politische Säure, sobald die nationale Vergangenheit Deutschlands und seine Gegenwart, die eine Wiederholung seiner Vergangenheit sein möchte, in Frage kommen. Sie läuft rot an; Grillparzer, obwohl es ihm weiß Gott nicht an Säure fehlt, reagiert als der Klassiker, der er ist, auf den Nationalismus im entgegengesetzten Sinne, nämlich blau, als eine völkerversöhnende politische Base. Nationale Unterschiede gibt es für ihn nicht, es wäre denn der Unterschied zwischen dem Österreicher und dem Deutschen, die ganz verschieden sind, obwohl sie sich derselben Sprache bedienen. Es ist eine grundsätzlich europäische Gesinnung, zu der Grillparzer in seinen Werken sich bekennt, und die ihn der nationale deutsche Schulmeister durch Nichtanerkennung seiner Bedeutung entgelten ließ. Den Deutschen des neunzehnten Jahrhunderts war er nicht deutsch genug. Aber wer sagt uns, daß der nationale Deutsche des neunzehnten – und des noch schlimmeren zwanzigsten – Jahrhunderts Deutschlands letztes Wort war? Vielleicht wird es der wieder übernationale des einundzwanzigsten Jahrhunderts sein. In diesem Falle wäre der angeblich Undeutsche nur etwas deutscher gewesen als deutsch, und Europa wird den Rang eines europäischen Klassikers, wenn nicht eines deutschnationalen, dem Manne zugestehen müssen, der, die Entwicklung der letzten zwei Jahrhunderte überblickend, das Seherwort sprach: »Von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität!« – und der, in einer Zeit nationaler Entartung, den Mut aufbrachte, der Humanität und Europa treu zu bleiben.

*

Armer Schlucker, der er zeitlebens war, wo nahm Grillparzer nach Bewilligung eines ihm zugebilligten dreimonatigen Urlaubs die Mittel her, eine so weitausgreifende Reise wie seine langgeplante Europafahrt anzutreten? Wohl, er war jetzt, nach zwanzigjähriger Dienstzeit – unter Einrechnung der unvergüteten Praktikantenjahre –, Archivdirektor und bezog als solcher ein genau bemessenes Staatsbeamtengehalt, das es ihm ermöglichte, seine Wohnung, sein Essen und sein bißchen Kleidung zu bezahlen. Es war genug, um nicht zu verhungern, aber nicht genug, um, beispielsweise, Einladungen in gastfreie Häuser, an denen es ihm nach wie vor nicht fehlte, durch Gegeneinladung der Gastgeber ins Gleiche zu stellen. Zusätzliche Einnahmen aus seinen am Burgtheater aufgeführten Stücken entfielen, weil nur ein neues Stück bezahlt wurde und nichts Neues seit Jahren aufgeführt worden war. In Deutschland aber wurde seit der »Sappho« überhaupt nichts mehr von ihm gespielt, er blieb auf Österreich beschränkt, das ihn nicht spielte. Ersparnisse hatte er keine und was er allenfalls von seinen zweihundert Gulden monatlich abknappen konnte, verschlang der hungrige Familienanhang, seine zwei Brüder, die als Kanzlisten ihr Leben fristeten, und deren immer noch sich mehrende Nachkommenschaft. Wer sollte ihnen, wenn Kindbetten, Krankenbetten, Unglücksfälle das armselige Budget in Unordnung brachten, beispringen, wenn nicht der hochgekommene Bruder? Und eine Reise mit der Post nach Paris und London und weiß Gott wohin noch kostete Geld, in Wien ging die Zinszahlung weiter, und England und Frankreich waren teure Länder, verglichen mit Österreich. Aber schließlich ergab sich doch eine Möglichkeit, dem Amt, den Brüdern und dem Geistesdruck der Zensur für einige Zeit zu entgehen und freier und tiefer zu atmen. Wallishauser, der treue und spekulative Verleger, der bis zu zwei Auflagen von den Stücken druckte, hatte eine Sammlung von Bekenntnis-Gedichten unter dem zeitgemäß trübseligen Titel »Tristia ex Ponto« herausgegeben, an denen er freilich nicht reich wurde, die aber wenigstens eine langsam anwachsende Verehrergemeinde festhielten. Darauf bauend, hatte er jetzt eine neue Idee. Grillparzer hatte vor zehn Jahren ein Opernbuch für Beethoven geschrieben: Melusine. Beethoven hatte es nicht komponiert, weil er vorher starb, hätte es nicht komponiert, auch wenn er länger gelebt hätte. Die kleine Dichtung, aus einer wohlgemeinten Anregung des Grafen Moritz Dietrichstein entstanden, hatte nebst einigen lyrisch-literarischen Vorzügen einen großen Fehler: sie war ein erträgliches Opernbuch für Mozart, aber nicht für Beethoven, der erhabene Auftritte, Urgefühle, Freiheitsmärsche komponierte und der nicht tändeln konnte wie Mozart, wenn er mit seinen Menschheitsideen heiligen Ernst machte. Immerhin, es war eine Dichtung, ein dramatisches Capriccio über das Thema »Bürgerlich und romantisch«, wie es der Wiener Lustspieldichter Bauernfeld mit glücklichem Griff etwas später zu einem anzüglichen Plauderstück verdichtete. Anzüglich war auch Melusine, wenn auch in einem ganz verschiedenen Sinne. Raimund, der Held des Spiels, steht zwischen zwei Frauen, die schon durch ihre Namen genügend charakterisiert sind. Die eine heißt Berta, die andere Melusine, und die gute Berta, die Raimund nachläuft, der Melusine nachläuft, klagt, als hieße sie Kathi Fröhlich, in anmutigen Versen:

Mag ich wachen, mag ich träumen,
Neigt mein Wesen sich zu dir;
Er, in weitentlegnen Räumen
Sieht nur junge Wünsche keimen
Und kein einz'ger spricht von mir!

Ein Frauenstück! mochte der findige Verleger denken: die Frauen werden das als Damentaschenbuch gedruckte Werkchen kaufen. Und beherzt zahlt er Grillparzer einen freigebig bemessenen Vorschuß, der es dem Dichter ermöglicht, sich in »weitentlegne Räume« nach dem Westen Europas zu verlieren.

*

Wenige Wochen nach dem Tode des Kaisers Franz, der in seinem Testament seiner Untertanen mit den Worten gedachte: »Meinen Völkern vermache ich meine Liebe!«, was die Wiener dann zum geflügelten Wort erheben, wenn sie einander spöttisch zurufen: Ich vermache dir meine Liebe! – Ende März 1836 versammeln sich ein paar genaue Freunde Grillparzers im Posthof auf dem Wiener Getreidemarkt, um dem Wandersüchtigen nachzuwinken. Bauernfeld ist darunter, Anastasius Grün nicht, der ein als liberaler Dichter aus dem adeligen Nest gefallener Graf Auersperg ist. Er wäre am liebsten mitgefahren. Aber Grillparzer redet ihm nicht zu. Er hat mit den Grafen auf Reisen nicht immer die besten Erfahrungen gemacht und kreidet ihnen auch sonst so manches an, was in seinem Leben schief ging, und bei allem Liberalismus ist der Auersperg ja doch ein Graf, was er in manchen Augenblicken auch merken läßt. Und dann: einen österreichischen Reisebegleiter zu wählen, widerspräche dem eigentlichen Zweck seiner Reise, der da ist, Österreich und ganz besonders Wien, wo auch Anastasius Grün geistig zu Hause ist, eine Zeitlang zu vergessen. Sie würden unterwegs ja doch die ganze Zeit von Wien reden, das Grillparzer liebt, aber kritisch liebt wie Ovid Rom, wie Dante Florenz geliebt hat, und über dessen »Nisis«, wie die Wiener sagen, wenn sie negative Einschränkungen machen, er sich längst nicht mehr täuscht:

Schön bist du, doch gefährlich auch
Dem Schüler wie dem Meister,
Verderblich ist dein Sommerhauch,
Du Capua der Geister!

Diesen erst sieben Jahre später, bei der Abreise nach Konstantinopel verfaßten Vers hätte er genau so vor der Reise nach Paris schreiben können, wohin die Wiener von jeher gerne reisten, wenn sie es in Wien und mit Wien nicht mehr aushielten.

Es war eine langwierige Reise damals, elf Tage und Nächte im Postwagen, der vorderhand noch das einzige Verkehrsmittel war. Sie geht über München, Karlsruhe, Straßburg. In Karlsruhe schreibt er an Kathi einen Brief, vergißt aber, ihn aufzugeben, und als er in Straßburg sich daran erinnert, bemerkt er, daß er ihn verloren hat. Also muß er in einem zweiten alles wiederholen. Es ist nicht viel. Schnee und Regen. Hin und wieder stieg eine hübsche Frau ein und saß ihm eine Weile gegenüber. Dann wieder eine andere, die er nach seiner Art abschätzig charakterisiert. Eine Schöne löst sie ab, die er von zu Hause kennt und mit Vergnügen sieht. Es ist die Tänzerin Hermine Elßler. Eine Meisterin des Tanzes, ist sie keine des Gesprächs; es gibt nichts, woran sie ein gemeinsames Interesse hätten; übrigens nimmt sie auch, bei aller Artigkeit, keines an ihm, was er immerhin zu bedauern scheint. Trotzdem tritt er ihr einmal über Nacht seinen, wie es scheint, besseren Platz im Postwagen ab, um dann, in Paris angelangt, die durchaus vorübergehend gebliebene Reisegemeinschaft mit dem reizend boshaften Satz zu krönen: »Das Mädchen ist gutmütig im höchsten Grade, aber nur lügenhafte Feinde können sie beschuldigen, das Schießpulver erfunden zu haben.«

Das erste, was er, in Paris angelangt und in einem kleinen Hotel mit dem großartigen Titel »Hôtel de l'Europe« abgestiegen, tut, ist, daß er die großen französischen Schriftsteller nicht besucht. Die Begründung, die er für diese seine Enthaltsamkeit anführt, ist wieder echt grillparzerisch. »Da die französischen Literaten«, sagt er, »von fremden Literaturen, großenteils mit Recht, nichts wissen«, gerät der zugereiste Auslandsdichter ihnen gegenüber nur allzu leicht in die peinliche Lage eines »Handwerksburschen, der auf seiner Wanderung bei einem fremden Meister vorspricht«. Das zielt offensichtlich auf die Pariser Tagesgötter, mögen sie nun Victor Hugo, Musset, George Sand oder wie immer heißen, aber man wird auch einen leisen Unterton nachhaltiger Gekränktheit heraushören, der von Weimar her nachklingt. Dort war er zum letzten Male Handwerksbursch gewesen, der als solcher vor einem allerdings alle anderen überragenden Meister aller Meister stand. Am Ende war es aber doch der Umstand, daß Goethe nichts von ihm gelesen hatte, der ihn sein verletztes Selbstgefühl in Paris so stolz behaupten läßt.

Nur mit Dumas dem Älteren wurde er durch Vermittlung eines schöngeistigen Arztes gleich bekannt. Es war ein gewisser Dr. Koreff aus Breslau, der es in Berlin bis zum »Obermedizinalrat« gebracht hatte, um dann fünfundzwanzig Jahre später in Paris zu sterben. Dumas lud den ihm zugeführten Gast aus Wien gleich zum Essen ein, zusammen mit Victor Hugo, der aber nicht kam. Eine Freundin des Hausherrn, die Schauspielerin Ida, die er später heiratete, machte die Honneurs bei Tische. Sie war aus Straßburg gebürtig und hatte dort sogar etwas von der »Ahnfrau« Grillparzers läuten gehört, was dem Verfasser der »Medea« und des »Ottokar« auf seiner »Wanderung« in der französischen Hauptstadt zustatten kam. Da sie überdies ein paar Worte Deutsch wußte, galt sie in weiten Kreisen für eine Kennerin der deutschen Literatur, ein Ruf, der in Paris leicht zu erwerben war, wie der auf amüsante Beobachtungen allenthalben erpichte Reisende alsbald merken sollte. Eines Abends saß er im Théâtre Français zwischen zwei Herren, die, in ihm den Deutschen witternd, ein Zwischenaktsgespräch über die deutsche Poesie anbahnten. Sie nannten »Go–e–thé« und »Schillair«, worauf ein vor ihnen sitzender »grand connaisseur de la littérature allemande« sich umwendend ihre Aussprache milde verbesserte: »On prononce Gouthe!«

Die Bekanntschaft mit Dumas, so warm sie eingeleitet war, verkühlte rasch, obwohl der Verfasser der »Drei Musketiere« nach seiner Art feurig ins Zeug ging. Er lud Grillparzer ein, sein neuestes Trauerspiel »Don Juan de Maraña« sich anzusehen, das eben zwölf mal hintereinander unter Beifallsstürmen aufgeführt worden war. Grillparzer hatte das Unglück, der dreizehnten Aufführung beizuwohnen, der ersten, die ohne bezahlte Claque stattfand und die infolgedessen kläglich durchfiel. Grillparzer wußte dem romantischen Machwerk wenig Gutes nachzusagen. Es gipfelte in einer »Geisterredoute von Toten, die der Held umgebracht hatte« und war »trotz einigen Zügen von Talent das Absurdeste, was man sehen konnte«. Daß er trotz Freikartenanweisung das Billett an der Kasse hatte voll bezahlen müssen, mag Grillparzers schlechte Meinung noch verschärft haben. Jedenfalls hatte es mit diesem seinem ersten Ausflug in die zeitgenössische französische dramatische Literatur sein Bewenden. Die klassische kannte er zur Genüge, und wie hoch er Racine stellte, beweist dem Kenner Grillparzers »Sappho«, die von der »Phädra« ebensoviel gelernt hat wie von der »Iphigenie«. Wenn er freilich jetzt eine von Racines Tragödien in der Comédie Française zu sehen bekommt, wirkt sie auf ihn »wie ausgewaschener Kattun«. Die Burgtheatererinnerungen begleiten den Wiener im Ausland überall hin und werden sein Maßstab. Sogar in den »Falschen Vertraulichkeiten« des Marivaux zieht er die Wiener Darstellerin Madame Löwe der weltberühmten Mademoiselle Mars vor, die in Paris immer noch die jugendlichen Koketten spielt, weil sie vor dreißig Jahren die Geliebte des großen Napoleon gewesen war.

Glücklicher als mit der Literatur ist er mit der Musik, vermutlich, weil sie ihn von jeher glücklicher gemacht hat. Mit Meyerbeer, dessen »Prophet« von Paris ausgehend soeben einen Welterfolg erzielt hatte, wird er rasch bekannt, ebenso mit Rossini, dem musikalischen Abgott des Zeitalters. Die deutschen Emigranten Heine und Börne sucht er persönlich auf. Beide kennen und schätzen ihn und er schätzt sie, wenn auch auf verschiedene Art: Börne wegen seines Charakters, Heine trotz seines Charakters. Bezeichnend, wie er seinen ersten Besuch beim Dichter des »Buches der Lieder« schildert. In der Cité Bergère, wo Heine in einem zweideutigen, kleinen Hotel vier Treppen hoch zwei Stuben bewohnt, findet die erste Begegnung statt. Es ist zwölf Uhr mittags, aber die winzige Wohnung ist noch unaufgeräumt, und während zwei liederlich aussehende Weibsbilder sich mit Betten und Kissen zu schaffen machen, erscheint der Hausherr im Schlafrock, um seinen Gast zu begrüßen. Er begrüßt ihn freudig, da er ihn für den französischen Reiseschriftsteller Custine hält, dem er ähnlich sehen soll. Dies aufgeklärt, überschüttet er Grillparzer mit Lobsprüchen, der sich mittlerweile aufmerksam im Zimmer umsieht. Es macht einen höchst armseligen Eindruck; die ganze Bibliothek des angeblich von der französischen Regierung subventionierten großen Schriftstellers besteht aus einem einzigen Buch, und das ist entlehnt. Doch im Gespräch entfaltet Heine sogleich den ungewöhnlichen Reichtum seines Geistes; »ich habe kaum je einen deutschen Literator verständiger reden gehört«, urteilt der Österreicher, ein Gesprächskünstler auch er. Grillparzer findet Heine »unter vier Augen reizend« und läßt sich, wahrscheinlich durch ihn, bei Rothschild zum Essen einladen, wo der Augen mehr sind und Heines Witz, den Rothschild offenbar fürchtet, sich etwas zu ungezwungen auf Kosten des Hausherrn auslebt. Auch auf dem Rückweg, den sie zusammen antreten, macht Heine sich über den gastfreien Baron lustig, was Grillparzer anstößig findet. »Denn«, sagt er in seinen Erinnerungen, »man muß nicht bei jedermann essen; aber wenn man bei ihm gegessen hat, muß man nicht nachher übel von ihm reden!« Trotzdem bleibt er nach dieser Richtigstellung, die er sich und seinem Charakter schuldig ist, Heine treu, wohingegen ihn der charakterfeste Börne, bei dem man immer nur Emigranten trifft, mit seiner charaktervollen Unentwegtheit langweilt. Einmal nimmt ihn Börne, bei dem er den Nachmittag verbracht hat, zu einem jener gemeinnützigen Zweckessen mit, die man in Amerika »tribute-dinner« nennt, und auf dem über die Menschenrechte gesprochen werden wird. »Sie werden hier die Refugiés aller Nationen antreffen«, bemerkt Börne feierlich beim Überschreiten der Schwelle des Versammlungslokals. Worauf der österreichische Dichter mit den Worten: »Ich werde in einem anderen Gasthaus essen!« den Rückzug antritt. Solche Antworten einstecken zu müssen war das Schicksal des Weltverbesserers, des immer in demokratischer Rüstung einherklirrenden, mit Menschheitssorgen schwer belasteten Dr. Börne. Einmal saß er bis Mitternacht am Bette des kranken Heine und begann nun auch noch von der Bedrängung der Juden in dem fränkischen Städtchen Offenbach zu reden, und daß da etwas geschehen müsse. Worauf ihn Heine, sich im Bett umwendend, mit der Bemerkung entließ: »Ich bin kein Gemeindeversorger!« Ein Gemeindeversorger war auch Grillparzer nicht, trotz seinem zweifellos vorhandenen, wenn auch etwas lichtscheuen Liberalismus.

Bei Rothschild traf Grillparzer auch Rossini. Er fragt ihn aus Höflichkeit, ob es denn wahr sei, daß er für die Krönung des Kaisers Ferdinand in Mailand eine neue Oper vorbereite, und erhält die bezeichnende Antwort: »Wenn Ihnen jemand sagt, daß Rossini wieder etwas schreibe, glauben Sie's nicht. Denn erstens habe ich genug geschrieben, und dann gibt es niemand mehr, der singen kann!« Rossini, der über Siebzig wurde, hatte nach dem »Tell«, siebenunddreißigjährig, das Komponieren ein für allemal aufgegeben und sich mittlerweile, der Mitwelt auf andere Art Vergnügen bereitend, zu einem Kochkünstler und Feinschmecker von hohen Graden ausgebildet. Derartige Neigungen machen in der Gesellschaft beliebt, der das Schmecken immer noch wichtiger ist als das Hören, und auch Rothschild hatte ihn aus diesem Grunde eingeladen. Der Baron hatte eine Kiste exquisiten Champagners zugesandt erhalten, die der Tondichter des »Wilhelm Tell« sachverständig begutachten sollte, welcher Aufgabe er sich im Beisein Grillparzers in der gewissenhaftesten Weise unterzog.

Es ist immer aufschlußreich, wodurch der Zugereiste in einer fremden Stadt sich in erster Linie angezogen fühlt. In Paris waren es das Theater und die Gesellschaft, die Grillparzer zu Eintragungen in sein Merkbuch veranlaßten, in London, einen Monat später, sind es die englische Politik und der englische Charakter. In Paris verbrachte er sechs Abende bei Meyerbeer, in London ebenso viele Nachmittage und Nächte, einmal bis vier Uhr morgens, im Parlament. »Schon als Schauspiel hinreißend!« verbrieft er bewundernd im Rückblick.

Einer Sitzung des Unterhauses über eine vermutlich antiklerikale »Zehent-Bill« verdankt er auch seine Bekanntschaft mit Bulwer, dem Verfasser der »Letzten Tage von Pompeji«. Bulwer ist der einzige englische Schriftsteller von Rang, den er in London persönlich kennenlernt, und auch ihn nur zufolge eines von seinem engeren Landsmann Figdor klug eingefädelten Mißverständnisses. Figdor, ein Vorfahr augenscheinlich des nachmaligen berühmten Wiener Sammlers, handelt im Londoner Marktgetriebe mit Textilien und hat den schönen Ehrgeiz, dem unbehilflich in der Riesenstadt herumtappenden Wiener Dichter als Fremdenführer zu dienen. Er begleitet ihn ins Parlament, wo er während einer Sitzungspause sich an einen der Saaldiener in eigentlich unerlaubter Weise heranmacht, indem er Bulwer durch ihn sagen läßt, ein Bekannter wünsche ihn zu sprechen. Bulwer, der eben nach einer großen Rede ist und von seinem Erfolg ganz berauscht in den Wandelgängen umhertaumelt, denkt: eine Gratulation mehr! und läßt sich den vermeintlichen Bekannten von dem Diener zuführen, um zu erkennen, daß er ihn nicht kennt. Worauf er, als ein englischer Gentleman, um den mit vornehmer Zurückhaltung vor ihm Stehenden nicht zu beschämen, so tut, als kenne er ihn. Er legt seinen Arm um Grillparzers Schulter und geht mit ihm ein paarmal in den Wandelgängen auf und ab, was vollständig genügt, um ihn unter den anwesenden Parlamentariern zu akkreditieren. Grillparzer nennt nicht einmal seinen Namen. Wozu auch? »Wenn ein Deutscher nicht Schiller oder Goethe heißt, geht er unbekannt durch die ganze Welt!« Eine empfindliche Bemerkung des deutschen Euripides und als solche nur dem Papier anvertraut.

Enthüllt sich in dem reizenden Verhalten Bulwers sogleich ein englischer Charakterzug, so kommen im Laufe eines mehrwöchigen Aufenthalts in der britischen Hauptstadt auch noch einige andere derartige Züge zum Vorschein, die einzusammeln der aufmerksame Beobachter keineswegs unterläßt. Da geht er etwa gleich am ersten Tage, seinen Scheck in der Tasche und den Stadtplan in der Hand, die Russel Street entlang, um seinen Bankier – dank Herrn Wallishauser hat er augenblicklich sogar einen Bankier – aufzusuchen, der sein Kontor in der seitlich abzweigenden Bishopgate Street hat. Er findet das Gäßlein zur Not, aber nicht das Bankhaus. Beherzt tritt er in eine am Wege gelegene Kolonialwarenhandlung, um zu erkunden, wo »Doxat et Comp.« – dies die Firmatafel des Bankiers – wohnen. Aber der Ladenbesitzer hat nie im Leben auch nur das geringste von Doxat et Comp. gehört, und nur um dem sich eines shakespearischen Vokabulars verlegen bedienenden Fremden sich gefällig zu erweisen, schlägt er in dessen Gegenwart ein Adreßbuch auf. Wobei sich herausstellt, daß Doxat et Comp. seit zwanzig Jahren ihm gegenüber wohnen. »Aber so sind die Engländer«, sagt Grillparzer, »sie kümmern sich nur um das, was sie unmittelbar angeht!« und, um seinen Fall zu erhärten, führt er gleich ein zweites Beispiel an. Er hat es sich in den Kopf gesetzt, den St. James-Palast ausfindig zu machen, das einzige Bauwerk, das den mit Bauwerken verwöhnten Wiener in London zu interessieren scheint, und da er auf seinen Wanderzügen in der angegebenen Straße an einem stattlichen alten Gebäude vorbeikommt, fragt er einen spazierengehenden älteren Herrn, ob das wohl der St. James-Palast wäre. »Nein«, sagt der ältere Herr, »das ist das Haus des Herzogs von Southerland!« und hält ihm einen längeren Vortrag über das ehrwürdige Haus und seine Bewohner. Dann zieht er den Hut und geht weiter. Kein Wort vom St. James-Palast, der der nächste in der Reihe ist, kaum dreißig Schritte entfernt. Warum? Weil der Fremde nicht gefragt hat: »Wo find' ich den St. James-Palast?« Sondern: »Ist dies der St. James-Palast?« Die Antwort Nein! war vollkommen korrekt. – Aber so sind die Engländer: sie antworten nur auf das, wonach sie gefragt werden! Und so sind die Österreicher, könnte ein Engländer antworten: Sie wollen, wenn sie undeutlich fragen, außerdem noch erraten sein. Sie setzen eine Phantasieanstrengung voraus. Mag sein auch deshalb, weil sie selbst einer solchen fähig sind.

Ein ernsteres Bild des englischen Wesens und Charakters vermittelt ihm der Schwurgerichtssaal, den Grillparzer nicht nur als eine Klinik des Lebens, sondern auch als eine Art Sprachschule aufsucht, weil er, mit seinem nur aus dem Wörterbuch und dem Shakespeare gelernten Englisch, die langsam sprechenden Gerichtsredner besser versteht als den Durchschnittsengländer – oder als dieser ihn. War es doch eine seiner ersten ihn verlegen machenden Londoner Erfahrungen, daß, als er in seinem »Kosthaus« »water« verlangte – wie wienerisch ist dieses Verlangen! – man ihm »butter« brachte. Übrigens findet er es bewundernswert, wie das Publikum im Gerichtssaal mit einer »Art kirchlicher Pietät« lauscht, und nimmt die Gelegenheit wahr, um sich in seinen Erinnerungen für die Wiedereinführung der Schwurgerichte in Österreich einzusetzen. Mit Bedauern sah er sie »abgestellt«, als auf den »Völkerfrühling« von 1848 der traurige Herbst der Bach'schen Reaktion folgte.

Das Theater, das zu studieren der Theaterdichter nie und nirgends müde wird, macht ihn in London nicht restlos glücklich. Er bewundert Ellen Tree als Julia, den Shakespeare-Protagonisten Macready als Richard III., und er hört die Malibran singen. Auch hat er volles Verständnis für die englische Komik, die er als eine substantiellere Kost der französischen Souffle-Komik im Grunde vorzieht. Aber er macht als ein Fachmann zwei Einwände gegen das englische Theater als Institution, in zwei Punkten, die ihm seine Weiterentwicklung zu gefährden scheinen. Da ist erstens der Beginn der Vorstellungen um sieben Uhr abends, zu einer Zeit, da das zahlungsfähige Publikum sich zu Tisch setzt und das nach neun Uhr zu halben Preisen zugelassene »gemeine Volk« noch zwei volle Stunden vor den Türen ausgesperrt harren muß, um dann, sich einen besseren Platz erkämpfend, mitten im Akt lärmend hereinzubrechen. Und das ist der andere Punkt, den Grillparzer rügend unterstreicht: die Störung eines gesitteten Theatervergnügens durch den Ansturm der, wie man ein Jahrhundert später sagen wird, Unterprivilegierten. Natürlich wissen das auch die Londoner Theaterleute, wußten es auch schon, bevor der österreichische Dichter nach London kam. Sie können die Tradition nicht ändern, aber sie richten es so ein, daß sie zwei Stücke an einem Abend aufführen, so daß der Einlaß in der Zwischenaktpause erfolgen kann. Einer solchen Vorstellung wohnte Grillparzer bei; man gab zuerst »Richard III.« und dann die »Jüdin« von Halévy, ohne Musik. Aber auch diese Zusammenstellung hat ihre Nachteile, denn die »Jüdin«, die ein großes Pferdeaufgebot erfordert, muß aus Sicherheitsgründen hinter einem hohen Drahtgitter gespielt werden, das so schnell nicht aufgebaut werden kann. Folglich spielt man auch den vorangehenden »Richard III.« hinter einem Drahtgitter, und so genießt ihn Grillparzer. »Das englische Theater ist nicht schöngeistig«, folgert er, in Gedanken schon wieder im Wiener Burgtheater. Die Schlußfolgerung trifft den Nagel auf den Kopf. Das englische gleich dem amerikanischen ist kein »Erhebungstheater« wie die Wiener »Burg«, deren Vorstellungen der gebildete und der bildungsbedürftige Zuschauer andächtig im Aufblick genoß, und bei denen er sich einfand, um zu Grillparzers Zeit bei Schiller zu beten und ein Jahrhundert später bei Ibsen zu beichten. Diese »kirchliche Pietät«, die der unkirchliche Poet im Londoner Gerichtssaal feststellte, war genau das, was er an der Londoner Schaubühne vermißte und woran der österreichische Klassiker von zu Hause so sehr gewöhnt war, daß er sie auch in fremden Ländern voraussetzte.

In Paris bewohnte der vagierende Europäer, der Grillparzer war, ein winziges Stübchen in dem hochtrabend benannten »Hôtel de l'Europe«, in London wohnt er ebenso bescheiden bei einer verwitweten Mrs. Williams mit zwei »hübschen Töchtern«, was ausdrücklich hervorzuheben er sich auch hier nicht versagen kann. Daß er beide Städte gründlich kennenlernte, läßt sich nicht behaupten, obwohl ihn in London sein touristischer Entdeckungsdrang sogar dazu verleitete, zum ersten Male in seinem Leben einen Dampfwagen zu besteigen und auf der neugebauten Strecke halbwegs bis nach Greenwich hinaufzufahren. Alles ist realistischer in London, und auch seine Beobachtungen sind es, die sich bis auf die »Industrieetablissements« erstrecken. Schließlich ist es auch sein Urteil über London, von dem er abschließend sagt, daß es im Gegensatz zu Paris im Anfang wenig imponiert, aber »allmählich zum Riesenhaften und Bewältigenden anwächst«. Beide Weltstädte, noch bevor er sie betrat, sind ihm Hochschulen europäischer Kultur, mit der er sich als Österreicher immer verbunden fühlt. Paris steht ihm literarisch näher, wie er ja auch die französische Sprache besser beherrscht. Aber auch der englischen Literatur verdankt er viel, von Shakespeare angefangen, dessen Einfluß auf »Ottokar« und die späteren historischen Dramen unverkennbar bleibt. Bezeichnend für seine kosmopolitische Geisteshaltung ist ein Gespräch, das Grillparzer in Paris mit Heine hatte, der, obwohl in Opposition gegen Deutschland, einen übermäßigen Respekt vor der deutschen Literatur an den Tag legt. »Ich ehre die deutsche Literatur!« bekennt der österreichische Dichter bei dieser Gelegenheit: »Wenn ich mich aber erfrischen will, greife ich doch zu einer fremden!« Ablehnung des deutschen Nationalismus, Bekenntnis zu den übernationalen Werten Europas auch hier. Und: »Wenn ich ein Buch lese, will ich mit jemand zu tun haben!« Bekenntnis zum Charakter auch hier. Was ihn an der im Reich gebliebenen deutschen Literatur der Nach-Goethe-Zeit verdrießt, ist ihre deutschtümelnde Mittelalterlichkeit, die sich an der Gegenwart scheu vorbeidrückt. Alle gute Literatur ist ja das Gewissen der Zeit, auch die seine war es, und dieses Gewissen ist nie ein national beschränktes, immer ein Menschheitsgewissen. Was aber jene andere »Nürnbergerei« in Worten, die deutsche Romantik, betrifft, so macht er sich darüber in einem Widmungsgedichtchen lustig, das er einer Dame seiner Bekanntschaft in eine Neuausgabe der Gedichte von Walter von der Vogelweide schreibt:

Was Deutschland am meisten an ihm bewundert,
Ist ein vom Mittelalter erborgter Hauch.
Wir beide sind vom neunzehnten Jahrhundert,
Und ein bewußter andrer ist es auch.

Das ist es, was ihn nach Frankreich und England gezogen hatte: er wollte dem neunzehnten Jahrhundert etwas näherkommen und auf diesem Wege hinter dem Rücken Deutschlands Europa seine Zugehörigkeit beteuern.

*

Mit Urlaubsüberschreitung in seinem nachsichtigen Heimatlande wohl vertraut, holte er am Schlusse seines Londoner Aufenthalts eben zu einem noch etwas weiterreichenden Besuch des neugeschaffenen Königreiches Belgien und des angrenzenden Holland aus, als ihn ein Brief seines Vertreters im Amt erreichte, der ihn veranlaßte, Hals über Kopf nach Österreich zurückzukehren. Daß er es nicht ganz vergessen hatte, beweist uns sein Brief an Kathi Fröhlich, in dem er sie zwar mit »Sie« anredet, wie nun schon seit langem, der aber doch auf das Heranwachsen einer währenden Lebensbeziehung zwischen diesen beiden trotzigen Charakteren deutet. Sie hatten ja sozusagen ein Kind miteinander, ein Wunschkind von ihrer, ein erdichtetes von seiner Seite. Das war Kathis Neffe Wilhelm Bogner, dessen kleine Hand vor sechs Jahren von Grillparzers großer Hand geführt und beschützt die ersten Buchstaben aufs Papier malte. Jetzt ist er schon etwas weiter, denn der Europareisende beendet seinen munteren, immer von einer gleichmäßig sarkastischen Laune angefeuchteten Reisebericht mit der dem Knaben zugedachten Weisung: »Lassen Sie sich von Wilhelm doch seine griechischen Regeln wiederholen und sich von ihm vorlesen!«

Und damit kehrt er heim.

Vielleicht hatte er, als er die schulmeisterliche Wendung zu Papier brachte, flüchtig an Herrn Hartmut in der Brühl sich erinnert und allerhand bereut, was leider nicht mehr zu ändern war.


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