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Zweites Kapitel.
Um ein Stück zu schreiben

»Man muß nur in die Hand blasen«

(Goethe)

 

Ein junger Mann, auch wenn er Stücke schreibt und auf diesem Wege einer hoffnungsvollen Zukunft entgegengeht, lebt nicht für seinen Schreibtisch und Bücherschrank allein. Grillparzer war keine Ausnahme; um so weniger als er »kein Heiliger« war, wie sein erster Biograph, Laube, es kaltschnauzig ausdrückt. Laube hat Grillparzer erst als alten Mann gekannt und urteilte, um zwanzig Jahre jünger, nur in der Rückschau. Zum Glück besitzen wir auch die Jugendtagebücher, aus denen deutlich genug hervorgeht, daß die »Brandfackeln seiner Phantasie« auch schon im Leben des Jünglings manche Brandspur zurückgelassen haben. Von Liebe und Theaterspielen ist da viel die Rede. Der Schauplatz ist in beiden Fällen das gastliche Haus eines Jugendfreundes, der den wienerischen Namen Muckerl Wohlgemut führt. Muckerl hat eine Schwester Therese, und Therese hat eine Freundin Antonie, die schon etwas älter ist und verlobt. Trotzdem oder vielleicht eben darum spielt Antonie die Liebhaberinnen in den aufgeführten Stücken und vielleicht auch in einem nicht aufgeführten. Jedenfalls schwankt der Sechzehnjährige bedenklich zwischen Therese und Antonie, wie aus seinen Eintragungen hervorgeht. An die liebliche Antonie richtet er einmal ein – übrigens tadellos gereimtes – französisches Gedicht, das er mit Mittelschüler-Entschlossenheit »A l'amour!« betitelt; aber er bleibt nicht immer so beherrscht, sondern macht seinem gepreßten Herzen noch auf ganz andere Weise Luft. »Antonie heuratet!« lesen wir in einem bestimmten Augenblick in seinem Gewissensspiegel. Dem entrüsteten Aufschrei folgt eine bittere Charakter- und Gefühlsanalyse und dieser eine düstere Prophezeiung. Antonie wird auf Treue ihres Zukünftigen keinen Anspruch erheben dürfen, erklärt der beleidigte Moralist; denn gerade während ihrer Brautzeit »liebte sie mich!« Das klingt verrucht genug für einen Achtzehnjährigen, aber der sittliche Ernst, mit dem er seine Weisheit verbucht, verklärt die Skrupellosigkeit des unschuldigen Wüstlings. Auch verspricht er sich zu bessern und tut es. Neunzehnjährig stellt er mit Genugtuung im Tagebuch fest: »Ich, der ich einst kein hübsches Mädchen sehen konnte, ohne mich zu verlieben, sehe nun mit gleichgültigen Augen weit schönere.« Es ist lustig, diesen abgeklärten Spiegelblick, der niemand täuscht als den Dichter selbst, mit einer kleinen Geschichte zu konfrontieren, die er vierzig Jahre später mit behaglicher Alter-Herren-Laune in der Selbstbiographie zum besten gibt: wie er zwei Jahre nach jener trügerischen Antonie sich in eine schöne junge Sängerin vergafft, die auf einer Vorstadtbühne den Cherubin in Mozarts »Figaro« singt. »Ihr, die ihr Triebe des Herzens kennt …«, lautet der bewährte Text, den eine sehnsüchtige Melodie zärtlich zu einem rokokoblauen Himmel aufschweben läßt. Für Grillparzer verwandelt sie sich noch am selben Abend in ein Liebesgedicht von unzweideutiger Begehrlichkeit. Es abzuschicken hätte keinen Sinn, denn die junge Sängerin hat einen reichen Freund, und der Dichter ist ein armer Student; »Studentenmädel« hieß ihm auch die liebliche Antonie. Er verschließt daher das heiße Gedicht im kühlen Grabe seines Schreibtisches und vergißt wohl auch dessen reizende Veranlasserin, bis er eines Tages, ein Menschenalter später, in Gesellschaft einem älteren Herrn begegnet, der eine allgemeine Bemerkung macht. Es ist doch merkwürdig, findet er, daß es Dichter gibt, die in ihrer frühen Jugend viel versprechen und von denen man dann nie mehr etwas hört. Solch ein junger Poet hätte einmal vor ungezählten Jahren seiner damaligen Freundin – eben jenem reizenden Vorstadt-Cherubin – ein entzückendes Gedicht gewidmet, das sie ganz verrückt gemacht hätte. Sie wäre entschlossen gewesen, ihrem Herzensfreund und allen ihren Verehrern sofort den Laufpaß zu geben, so berauscht war sie von jenen Versen, hätte aber bis zu ihrem frühen Tode nie wieder was von dem exaltierten jungen Menschen gehört. Das Rätsel, wie das in seiner Schreibtischlade verschlossene Liebesgedicht an die Adresse der damals Angebeteten gelangte, läßt Grillparzer unaufgeklärt. Vielleicht hat er es ihr doch selbst als eine anonyme Huldigung ins Haus geschickt und nur vergessen, daß er es getan. Er hatte in Liebessachen nicht eben das beste Gedächtnis und wollte es wohl auch nicht haben, sonst hätte er mindestens in diesem Falle auch bekennen müssen, daß er jenes Gedicht ein paar Jahre nach seiner Entstehung, als er schon ein bekannter Dichter geworden war, ganz so wie er es damals an die Unbekannte geschrieben, nun einer ihm recht gut bekannten Darstellerin des Cherubin widmete, bei der allerdings der Effekt auch nicht der in den Versen ersehnte und von der ersten Adressatin sogar erreichbare geworden ist. – »Heute Eis, morgen in Flammen!« notiert er einmal. Es galt wohl auch in umgekehrter Reihenfolge.

Das Verflochtensein des Theatermenschen und des Frauenmannes drückt auch anderen seiner ungefährlichen, obzwar nicht immer unbedenklichen Jugendabenteuer den charakteristischen Stempel auf. Besonders die Wiener Vorstadtbühnen, wo nach damaligen Begriffen die Schauspielerinnen Freiwild waren, wurden ihm als ein Jagdgebiet seiner Träume gefährlich. Es kam zu nichts, wie die Chronisten in solchen Fällen rückschauend zu sagen pflegen, aber das Nichts enthielt doch schon im Keime alles. So verliebt er sich etwa, wieder einmal, in eine solche allabendlich verführerische »Erste Liebhaberin« einer Vorstadtbühne, von der aber der Unerfahrene zu seinem Entsetzen alsbald erfahren muß, daß sie von ihrem eigenen Vater an einen hochadeligen Wüstling verkauft, ein »Kaunitz-Mädel« ist. Er sieht sie an einem spielfreien Abend mit dem Fürsten Kaunitz in einer Loge des Theaters, was auf ihn einen derartigen Eindruck macht, daß er, wie der sentimentale Held eines Balzac-Romans, in ein hitziges Nervenfieber verfällt.

Solche sinnliche Erregungen und Erschütterungen freilich würdigt er keiner Aufzeichnung in seinem jugendlichen Bekenntnisbuch, teils weil er sich ihrer mannhaft schämt und teils weil sie sich der geistigen Ausdeutung naturgemäß entziehen. Er unterscheidet überhaupt strenge zwischen seelischer und körperlicher Ergriffenheit in der Liebe und behauptet, daß es für ihn in diesem Punkte, schlimm genug, keine Möglichkeit der Verständigung gebe, was er drastisch ausdrückt, indem er sich und uns erzählt, zur Zeit, als er in Therese – Muckerls kleine Schwester – verliebt gewesen, seelisch verliebt offenbar, hätte er gar nicht bemerkt, daß sie einen schönen Busen hatte, was doch kaum zu übersehen gewesen wäre. Ihre Gegenspielerin Antonie war ihm nach einer kurzen Zeit der aufbrennenden Verliebtheit schon wieder völlig gleichgültig geworden. »In jenen frohen Stunden« aber hatte er ihr den »Don Carlos« geliehen, unter dessen Eindruck er eben stand, wie auch sie ihm in den Zwischenakten des Theatervergnügens manches Buch geliehen haben mag. Sie alle strömten einen leichten »Bisamgeruch« aus, wenn sie durch ihre Hand gegangen waren, und so auch der »Don Carlos«, den sie ihm nach Monaten zurückschickt. Alles, was kaum war, ist längst schon wieder aus zwischen ihnen, aber der liebe Bisamgeruch bringt es wieder herauf, worüber der Siebzehnjährige in seinem Tagebuch des längeren nachsinnt. Aber noch zwei Jahrzehnte später ruft sich der Dichter, der für die Hero die feinsten und kompliziertesten Geheimnisse der liebenden Seele zu beschwören trachtet, jenen »körperlichen Zustand« ins Gedächtnis, in dem er sich zur Zeit seiner Liebe zu Therese befand. Sollte er die unschuldige Therese am Ende wahrhaftiger geliebt haben als die schuldige Braut eines anderen? Darüber, wie über das Problem des schönen Busens, kann ein Mann mit Siebzehn wie mit Siebenundsiebzig grübeln.

Für den Augenblick ist es wichtiger festzustellen, daß an diesem verräterischen Moschusgeruch im verliehenen »Don Carlos« auch schon der aufblühende Dichter näher beteiligt war. Er hat das liebeglühende Schiller-Stück natürlich mit glühenden Wangen selbst gelesen, bevor er es an das geliebte Mädchen weitergab, und welchen Eindruck es im Lesen auf ihn machte, können wir aus seiner kurz nachher zu Papier gebrachten »Blanka von Kastilien« noch heute deutlich herauslesen. Alles darin deutet auf »Don Carlos« zurück, an dessen jugendlichem Feuer der Siebzehnjährige die »Brandfackeln seiner Phantasie« diesmal entzündet hat: der spanische Hintergrund, der deklamatorische Vers, das hitzige Intrigenspiel und die Kolophoniumblitze gehäuften Theatereffekts, die es überzucken. Ein erstaunliches Werk für einen Anfänger, ist dieser wortreiche Fünfakter trotzdem unter allen Dramen Grillparzers dasjenige, das am wenigsten mit ihm zu tun hat. Nur in einem Punkte deutet es eine bleibende Richtung seines sich entwickelnden Talentes an. Es ist aus einer lebendigen, nicht bloß theoretisch angelesenen Berührung mit dem Theater entstanden, das ihm auch in diesem Falle in Gestalt einer schönen Schauspielerin verführerisch entgegentrat, auch wieder einer, die er niemals persönlich kennenlernen sollte.

Ihr Name war Madame Roose. Ihr lieblich rosenhaftes Bild, ein gemalter Wortwitz, hing späterhin im Foyer des Wiener Burgtheaters und fesselte den Blick des nach einer Anregung ausspähenden Zwischenaktbesuchers. Aber im Leben mag die junge Madame Roose noch viel anziehender und verliebenswürdiger gewesen sein, da sie, bildhübsch wie sie war, außerdem auch viel Talent hatte und – Gipfel der damaligen Schauspielkunst – große Rollen am Burgtheater spielte. Begreiflich, daß der junge Poet, der sie bloß vom Sehen und vom Applaudieren kannte, beschloß, der reizenden Künstlerin eine dankbare Rolle an den Leib zu dichten. Dies wäre kaum bemerkenswert, käme in diesem jugendlichen Entschluß nicht zugleich ein Wesenszug des österreichischen Theaters zum Vorschein, durch den es sich schon im Ei vom deutschen unterscheidet.

Den Unterschied bestimmt die Frage, wer zuerst kam, als das Bühnenstück entstand: der Dichter oder der Schauspieler? Darüber wäre eine zeitraubende Abhandlung zu schreiben, die vom Theater des Dionysos in Athen bis zum Broadway-Theater in New York reichen würde. Um sie zu umgehen, sei im kurzen Wege festgestellt, daß das österreichische und das reichsdeutsche Theater sich in diesem Punkte ebenso gegensätzlich unterscheiden wie der Deutsche vom Österreicher, welche Gegensätzlichkeit man freilich die längste Zeit übersehen hat. Das deutsche Drama der Goethe- und Schiller-Zeit ist ein entlaufenes Kind der deutschen Gelehrtenrepublik, das sich auf dem Wege zum Komödienhaus in den Anblick einiger griechischer Gipsabgüsse wißbegierig vertieft hat; das österreichische Theaterstück ist mit einem Kirchensegen über den Marktplatz gelaufen, wo in einer »Kreuzerkomödie« der Hanswurst eben seine Lazzi machte. Als der achtzehnjährige Schiller sein erstes Menschheitsstück »Die Räuber« schrieb, vielmehr vulkanisch in das nächtige Zeitalter sprühte, wo stand der Käfig eines vorhandenen Theaters, um diesen Feuervogel aufzufangen? Später fand sich eines, das es wagte, und noch später bildeten sich Goethe und Schiller in Weimar ein Theater heran, das sich so vielversprechend entwickelte, daß sie zuletzt schon an Herrn Graff oder Unzelmann oder die dekorative Corona Schröder denken konnten, wenn es ein fertiggestelltes Jambenstück zu besetzen galt. Trotzdem sind auch noch die unerhörten Meisterwerke Schillers, »Maria Stuart«, »Wallenstein«, »Jungfrau von Orleans«, mindestens um ein Drittel zu lang, von Goethes »Faust« nicht zu reden, der, in sechzigjähriger Schreibtischarbeit entstanden, trotz Weimar, erst einige Jahre nach Goethes Tod zum erstenmal bruchstückweise aufgeführt werden konnte. Unverkennbar der theoretisch-dichterische Ursprung des deutschen Dramas; ebenso unverkennbar der sinnlich-komödische des österreichischen. Der achtzehnjährige Grillparzer schreibt sein erstes Stück für eine junge Burgschauspielerin, die er auch schon in einigen anderen Rollen bewundert hat, und da sie stirbt, notiert er in seinem Tagebuch, daß unter diesen Umständen an eine Aufführung seines Stückes nicht mehr zu denken wäre. Noch dieser schmerzliche Hinweis auf den Tod der Madame Roose beweist, wie lebhaft er beim Schreiben das lebendige Theater vor Augen hatte. Das ist der Unterschied zwischen der österreichischen und der reichsdeutschen Schaubühne. Für den deutschen Klassiker war die Abfassung eines Theaterstücks eine hochfliegende schriftliche Bemühung; für den österreichischen eine, wenn auch vorerst noch unterdrückte, mündliche Verständigung mit einer vorhandenen Besetzung. Für jenen stand das Theater, dem er sein Stück zudachte, auf dem Mond; für diesen stand es auf dem Michaelerplatz und hieß das Burgtheater; jeder Schusterjunge kannte seine Adresse. Die großen deutschen Klassiker erzogen sich schließlich in Weimar ein Theater, um mit ihrem Leserpublikum auch akustisch in Berührung zu kommen; die Hauptsache blieb doch das Stück. Den Grillparzer erzog sich das Burgtheater zu seinem Klassiker; der Schauspieler war nie Nebensache. Das wußte schon der Achtzehnjährige, der seinen Jambenschritt in diese Richtung lenkte; das wußte noch der Achtzigjährige, der seine fürs Burgtheater geschriebenen Stücke dem Burgtheater verheimlichte. Es war seine dramatische Lehranstalt gewesen von allem Anfang an; es blieb sein beredter Mitarbeiter bis zuletzt.

»Blanka von Kastilien« wurde abgelehnt, jambisch gestelzt und spanisch gestiefelt, wie sie war. Es ist nichts! dachte der Neunzehnjährige und erwog allen Ernstes, sich in Zukunft jeder weiteren dramatischen Bemühung zu enthalten, was er freilich nur so weit einhielt, als keiner seiner zahlreichen Pläne bis 1816 fertig wurde. Seine Enthaltsamkeit ging so weit, daß er auch das Theater weit seltener besuchte als früher. Übrigens unterließ er es auch notgedrungen. Er war in dieser Zeit Hofmeister auf dem entlegenen Grafenschloß und später, nach einem kurzen und völlig brotlosen Intermezzo in der Hofbibliothek, ein kleiner Konzeptspraktikant bei der sogenannten Verzehrungssteuer. Und bei all dem ist er so arm, daß er nicht einmal Freikarten fürs Theater bekommt. Denn auch dazu gehören in Wien wohlhabende Beziehungen, über die die mittellose, aber stolz gebliebene Familie Grillparzer längst nicht mehr verfügt.

Trotzdem waren diese Jahre, mühsam, wie sie freudlos hingehen mochten, für seine Entwicklung nicht verloren. Auf dem Grafenschlosse hat er die »Großen« kennengelernt, wie die französischen Gesellschaftskritiker sagen, wenn sie vom Adel sprechen; auf dem Gefällsamte, wo es sich darum handelte, die Schwärzer und Hehler, die ein Fäßchen Wein oder eine unversteuerte Gans über die Stadtgrenze schmuggeln wollten, protokollarisch zu durchleuchten, die Kleinen; und in der Hofbibliothek schließlich hat er den Calderon im Urtext lesen und die romantischen Reize des spanischen Trochäus ermessen gelernt. Er ist mit der hohen Literatur, die für ihn von Anfang an neben den Griechen und Shakespeare auch die großen Spanier umfaßt, in anregender Verbindung geblieben, und hat zugleich eine Schule der Menschenkenntnis durchlaufen; er hat Charaktere kennen- und hat charakterisieren gelernt. Und dann, mit einem Male, zieht er aus allen diesen Begabungen und Voraussetzungen den Schluß und schreibt die »Ahnfrau«, sein erstes großes und erfolgreiches Theaterstück, das er aus zwei unter der Literaturgrenze gelegenen Romanen schöpft und das außerdem einer wohlfeilen Intrige von romanhafter Unwahrscheinlichkeit den Anstoß zu seiner Verwirklichung verdankt. Aber auch dies mag ein Kennzeichen des Wiener Theaters sein, daß es dort, wo es sich um Wirkungen handelt, genau wie das amerikanische, nicht geschmäcklerisch dem Ursprung der Wirkung nachfragt, und daß es ihm folgerichtig nicht so sehr darauf ankommt, aus was es etwas macht, sondern was es daraus macht.

siehe Bildunterschrift

Joseph Schreyvogel. Aquarell von Josef Anton Kapeller.
Bildarchiv der österreichischen Nationalbibliothek.

siehe Bildunterschrift

Johann Philipp Graf Stadion-Warthausen, österreichischer Finanzminister, Gönner Grillparzers. Bildnis nach einer Zeichnung von Sigmund von Perger.
Bildarchiv der österreichischen Nationalbibliothek.

Was Grillparzers neue Stoffwahl betrifft, so stellt Gustave Arlt, Professor der University of California, sachkundig fest, daß er sich vom niedrigsten Typus einer namenlosen Romanliteratur, ganz besonders aber von »Gothic Tales«, auf deutsch »Schauermärchen«, dichterisch angezogen fühlte. Das ist richtig mit der Einschränkung, daß er zugleich auch von den Höchstleistungen einer zweitausendjährigen Weltliteratur stets aufs neue gefesselt war. Er las nicht nur den Shakespeare und Calderon, auch die großen griechischen Trauerspieldichter im Original, dies schon in jüngsten Jahren. Aber freilich verschmähte er, aus Papier Papier zu machen und einer blutlosen »Griechheit«, wie man zu seiner Zeit noch sagte, um ihrer selbst willen zu huldigen. Kein Freund der »Bildungsdichter«, wie er von sich selber sagt, wußte er, daß Leben nur aus Leben entsteht, auch das Leben der Bühne. Darum war ihm das Naive, dem eine zeugende Kraft innewohnt, wichtiger als das Intellektuelle. Seine ersten Theatereindrücke waren die kindlich tiefsinnigen Zauberkomödien der Wiener Vorstadtbühne gewesen. Und noch früher hatte er, wie er in seiner »Selbstbiographie« erzählt, an dem Libretto von Mozarts »Zauberflöte« lesen und schreiben gelernt. Das Hausmädchen las ihm in Mußestunden unermüdlich daraus vor, aus einem völlig zerlesenen, handschriftlich ergänzten Textbuch, das sie wie einen Schatz verwahrte. Es war ihre ganze Bibliothek. Nur ein Gebetbuch besaß sie außerdem. Aber die »Zauberflöte« stand ihrem kindischen Frauenzimmerherzen fast noch näher. Weil sie nämlich in ihrer Jugend einmal in dieser Mozart-Oper einen Affen gespielt hatte, was so köstlich war, daß sie es ihr Lebtag nicht vergessen konnte. Hier hat man, in einem von Grillparzer lächelnd festgehaltenen Zug, etwas von der Naivität des volkstümlichen Wiener Theaters, die auf den heranwachsenden großen Dichter abfärbte.

Die »Ahnfrau« ist aus zwei ranzigen Erzählungen entstanden, die sich als das, was sie sind, schon im Titel deutlich zu erkennen geben. Die eine ist das aus dem Französischen übersetzte »Leben des Räubers Mandrin« des Abbé Regley, die andere ist, noch aufrichtiger, »Die blutende Gestalt mit Dolch und Lampe oder die Beschwörung im Schlosse Stern bey Prag« überschrieben und nennt, ihrer Unwürdigkeit sichtlich bewußt, überhaupt keinen Verfasser. Jene »Blutende Gestalt mit Dolch und Lampe« aber ist nichts anderes als eine liederliche Verdeutschung einer englischen Vorlage, des Romans »The Monk« von Mathew Gregory Lewis. Grillparzer mag ihn ebenso wie jenen Räuberroman, aus dem bezeichnenderweise auch schon der junge Schiller die Anregung zu seinem Erstling »Die Räuber« geschöpft hatte, in der Schloßbibliothek des Grafen Seilern aufgestöbert haben. Ihm verdankt er zweifellos die Grundsituation seines dichterischen Melodrams vom »Räuber, Gespenst und Mädchen«, dem aufs Schloß geflüchteten Räuber, der sich in die Liebe zur Grafentochter rettet und der im Augenblick, in dem er sie entführen will, entdeckt, daß er nicht sie, sondern die Ahnfrau des geliebten Mädchens in den Annen hält, die ihrer eignen Sünde wegen im Grabe keine Ruhe finden kann. Den Fluch, der sie belastet, kann erst das Aussterben ihrer aus einem Ehebruch entstandenen Nachkommenschaft von ihr nehmen, das sich denn auch nach unerbittlich tragischem Gesetz unter unseren Augen von dem Momente an vollzieht, da sich herausstellt, daß der Räuber der Bruder seiner Geliebten und der Mörder seines und ihres Vaters ist. Von der opernhaften Verwechslungsszene abgesehen, geht Grillparzers »Ahnfrau« durchaus den Weg des griechischen Trauerspiels. Aber in der Unerbittlichkeit der Abrechnung, die es mit der Familienmoral und -unmoral abhält, deutet es auch schon zu Ibsens »Gespenstern« hinüber, die nicht anders auf den »König Ödipus« zurückdeuten. Daß der »Ahnfrau« ein Spinnstubenmärchen zugrunde liegt, braucht uns in dieser Auffassung nicht zu beirren. Auch die Griechen hatten ihre Spinnstuben. Nur nannten sie sie Mythologie.

Grillparzer, ein unfreundlicher, ja geradezu mürrischer Kritiker seiner selbst, war sich der Schwächen seines »Mondkalbs« durchaus bewußt. Aber zum Glück fand er einen Theaterdirektor, der die Theatergewalt, nicht nur des Stückes, sondern schon seiner stofflichen Grundlage, auf den ersten Blick erkannte. Sein Name war Joseph Schreyvogel. Er hat das Burgtheater vor fast hundertfünfzig Jahren groß gemacht. Er hat auch Grillparzer groß gemacht.

Dieser große Mann, kein Unbekannter in der Familie Grillparzer, hatte ein Vierteljahrhundert vorher um die Hand einer Schwester der Mutter Grillparzers gefreit, oder vielmehr, was in solchen Fällen unvergessen bleibt, nur beinahe gefreit, um sich im letzten Augenblick unrühmlich zurückzuziehen. Zur Zeit, als der Neffe seiner vormals Angebeteten sich mit dem Plan zu einem neuen Stücke trug, bestand keinerlei Beziehung mehr zwischen den beiden Häusern, und dies um so weniger, als die »im Elend« hausende Familie sich dem hochgekommenen Burgtheatersekretär, stolz, wie die Armen sind, nicht aufdrängen wollte.

Da geschah nun aber eines Tages etwas recht Seltsames. Drei Jahre zuvor hatte sich der junge Hofbibliothekspraktikant, um der Langeweile in seinem Büro zu entgehen, viel mit der spanischen Literatur beschäftigt und war der Versuchung unterlegen, den ersten Akt von Calderons »Leben ein Traum« in deutsche Verse zu übertragen. Nun, drei Jahre danach, zeigte er seine Übersetzung einem Bekannten, der sie lobenswürdig findet und davon einem ihm befreundeten Journalisten namens Hebenstreit erzählt. Hebenstreit bittet sich aus, die poetische Fleißaufgabe in seiner »Modenzeitung« veröffentlichen zu dürfen. Warum? Weil er die Übersetzung gut findet? Das wäre nicht wienerisch. Er tut es, um Schreyvogel, der eben vor einer Vertragserneuerung mit dem Burgtheater steht, als Burgtheaterdirektor – denn das war er, wenn er sich auch nur Sekretär nannte – zu stürzen. Den willkommenen Anlaß zu diesem journalistischen Racheakt, der als solcher keiner weiteren Begründung bedarf, wird die bevorstehende Aufführung von Calderons »Leben ein Traum« ergeben, welches Stück Schreyvogel selbst unter dem Decknamen »West« übersetzt hat. Um den Nachweis zu erbringen, wie schlecht der zu stürzende Schreyvogel übersetzt hat, weist Hebenstreit im Anschluß an seine abfällige Besprechung des eben aufgeführten Calderon-Werkes auf die poetische Fleißaufgabe Grillparzers hin. Grillparzer aber erfährt erst jetzt, daß die aufgeführte Verdeutschung nicht von »Wendt« herrührt, wie man ihm, wahrscheinlich nicht unabsichtlich, erzählt hat, sondern von Schreyvogel selbst, der sich als Übersetzer des Decknamens »West« gerne bedient. Und er erfährt weiters, daß Schreyvogel sich zum Skriptor der Hofbibliothek, Leon, der es Grillparzer zurückerzählt, bitter über diesen Angriff der ihm feindlichen Familie seiner vormaligen Braut geäußert habe. Grillparzer beeilt sich, zu beteuern, daß Hebenstreit ihm »Wendt« gesagt habe, nicht »West«. Schreyvogel, dem der alte Leon diese Botschaft überbringt, glaubt es oder, als der erfahrene Theatermann, der er ist, tut zumindest, als ob er es glaubte. Ja, er geht in seiner Versöhnlichkeit so weit, daß er dem jungen Grillparzer durch den gefälligen Leon sagen läßt, er würde ihn gerne kennenlernen. »Ich ließ mir das gesagt sein und ging nicht hin«, notiert der junge Grillparzer darüber, echt grillparzerisch, in seinem Lebensbericht. Aber Schreyvogel läßt nicht locker; er wiederholt seine Einladung und Herr Leon tut ein übriges, indem er den noch immer widerstrebenden jungen Dichter am Arm nimmt und mit der wienerischen Wendung »Jetzt gehn S' mit mir!« dem Burgtheatergewaltigen Schreyvogel zuführt, der ihn väterlich empfängt, das veröffentlichte Probestück seiner Übersetzung über den Klee lobt und als geübter Direktor gleich nach seinen weiteren dramatischen Plänen fragt. Grillparzer gesteht, daß er bereits vor Jahren eine fünfaktige Jambentragödie geschrieben habe, von deren »Unbrauchbarkeit« er aber bereits selbst überzeugt wäre. Das ist eine jener Bemerkungen, an denen ein Theaterdirektor eine ernstzunehmende dramatische Begabung erkennt. Schreyvogel rückt seinem jungen Besucher näher und läßt sich von ihm den ihn eben beschäftigenden Stoff der »Ahnfrau« erzählen. Ein Hollywooder Producer würde es kaum anders machen und wahrscheinlich zu dem gleichen Ergebnis gelangen. »Das Stück ist fertig!« sagt Schreyvogel, als der junge Dichter mit seiner feurigen Erzählung zu Rande kommt: »Sie brauchen es nur niederzuschreiben!« Das tut der fünfundzwanzigjährige Grillparzer in der Folge und so kommt es ins Burgtheater.

In Wirklichkeit ging es natürlich nicht ganz so geschwind, nicht ganz so reibungslos. Zwar hat Grillparzer, von seiner eigenen Erzählung und ihrem Erfolg bei dem großen Theatermann angeregt, noch am selben Abend vor dem Schlafengehen die ersten Verse seines Gespenstermärchens notiert, in vierfüßigen Trochäen, die er von seiner Calderon-Übertragung im Ohr hat. Aber nachdem er solcherart die Grundmelodie der auszuführenden Dichtung angeschlagen hat, verliert er die Lust, sie auszuführen. Das geht so weit, daß er sogar den Zettel mit den notierten Eingangsversen verlegt, was in solchen Fällen eine symptomatische Bedeutung hat: man verlegt, was man zu vergessen wünscht. So vergehen einige Monate. Schreyvogel hört nichts mehr von ihm, noch er von Schreyvogel, der ihn mit der Ausarbeitung seines Manuskripts beschäftigt glaubt. Dann aber, eines Tages, auf einem Spaziergang über die Bastei des damals noch von einem Festungswall eingeschnürten Wien, begegnet er dem Burgtheatergewaltigen wieder, dessen Vertrag mittlerweile, Herrn Hebenstreit zu Trotz, erneuert worden ist. Am liebsten hätte der junge Dichter wider Willen sich wie ein fauler Schüler an ihm vorbeigedrückt, aber der andere bleibt stehen, winkt herüber: »Was macht das Stück?« »Es geht nicht!« gesteht ihm kleinlaut der ertappte Müßiggänger. »Ach was!« ermuntert ihn der gewiegte Theaterleiter und, mit solchen Ausreden vertraut, erzählt er ihm gleich ein Geschichtchen, das er für derlei Fälle in seiner Hausapotheke bereithält. Vor zwanzig Jahren, in Weimar, hat er, Schreyvogel, im gleichen Falle dem großen Goethe die gleiche Antwort gegeben: »Es geht nicht!« Und was hat Goethe darauf erwidert? »Man muß nur in die Hand blasen, dann geht's schon!« hat er erwidert. »Adieu, auf Wiedersehen, Herr Grillparzer!« Und der behäbige Mann, ungefähr ebenso alt jetzt wie Goethe damals, setzt seinen Verdauungswandel über die Bastei mit olympischer Gelassenheit fort.

Das Mittel wirkt, Grillparzer findet den verlegten Zettel. Er liest die vergessenen Verse und kommt auf die naheliegende Idee, im gleichen Tonfall weiterzuschreiben. Er schreibt und schreibt, manchmal die Nacht durch, manchmal mit Überschlagung des Mittagessens, und nach ein paar Wochen ist das Stück zu Ende gebracht, dessen einzelne Teile er, kaum daß die Tinte auf dem Papier trocken ist, zu Schreyvogel hinüberträgt. Schreyvogel, der mit Freude sieht, wie der junge Mensch ins Zeug geht, bewährt bei diesem Anlaß seine außerordentlichen direktorialen Fähigkeiten. Er lobt alles, ist von allem begeistert, läßt sich auf Einwendungen und Bedenken überhaupt nicht ein. Er verhält sich so, erstens, weil er sich von dem Werk etwas verspricht, das ihm schon im Entwurf gefallen hat; und zweitens, weil er als der schöpferische Theatermann, der er war, »darauf bedacht war, daß Stücke entstehen«, wie Heinrich Laube, sein um eine Generation jüngerer, ebenso bedeutender, wenn auch nicht mehr so österreichischer Nachfolger im Burgtheater-Thronsessel, kurz und bündig von ihm sagt. Die Kritik des Mannes, der »eine Art Lessing war«, wie Grillparzer bemerkt, der es gleichfalls war, ist darum keineswegs ausgeschaltet; er läßt sie nur nicht vorzeitig störend dazwischenreden. Um so nachdrücklicher meldet sie sich zum Wort, als das Stück scheinbar abgeschlossen vorliegt. Nun beginnt seine eigentliche Erziehungsarbeit, die den Verfasser verstimmt, indem sie dem Werke zugute kommt. Schreyvogel, der, »merklich abgekühlt«, von einer Berufsreise nach Deutschland zurückkehrt, macht jetzt Einwendungen sowohl gegen den Stil wie gegen den tragischen Grundriß der Tragödie. Beide sind berechtigt. Der Stil ist der heldenhaft verspielte, mit Metaphern und Antithesen tändelnde des spanischen Mantel- und Degenstückes, der, an sich maniriert, am wenigsten zu der nordischen Nebellandschaft der Grillparzerschen Gespensterballade paßt. Der andere Einwand ist wichtiger und läßt sich nicht durch Ausmerzung besonders überspitzter Dialektik und verzwickter Vergleiche begütigen. Er bezieht sich auf den tragischen Gehalt des Trauerspiels, dessen blutigem Geschehen die sittliche Rechtfertigung mangelt. Denn was geschieht im Grunde? Die Ahnfrau sieht ihr Haus zugrunde gehen, so wie sie verflucht war, es mitansehen zu müssen. Aber das ist höchstens ein Melodram, keine Tragödie. Eine solche wäre es allenfalls, wenn sie, was sie mitansehen muß, nur darum nicht verhindern könnte, weil eigener Fehl sie dazu verdammt; dann wäre sie so etwas wie eine Kassandra, die alles voraussieht, aber nichts hindern kann, weil sie selbst an allem schuld ist. Grillparzer ist begabt genug, dies sofort einzusehen und dem Wunsche Schreyvogels Rechnung zu tragen. Daß er darüber die Lust an seiner atemraubenden Räuberballade verliert, ist eine Rückwirkung, auf die der erfahrene Theatermann Schreyvogel gefaßt sein mußte und die er vorhergesehen haben mochte. Das gehört dazu.

Und auch das gehörte dazu, daß die Aufführung länger auf sich warten ließ, als der Autor gerechnet hatte, und daß sie schließlich an einem anderen Theater stattfand, als Schreyvogel hatte hoffen lassen, nicht am Burgtheater, sondern in dem der Vorstadt etwas nähergerückten Theater an der Wien. Daraus ist eine Art Legende entstanden, daß dem größten vaterländischen Dichter Österreichs schon am Beginn seiner Laufbahn eine schmerzliche Zurücksetzung zuteil geworden wäre. Dies ist nicht der Fall. Denn nicht nur, daß die beiden Theater, Burgtheater und Theater an der Wien, unter derselben höfischen Kavaliersdirektion vereinigt waren, es spielten auch in beiden Häusern dieselben Burgschauspieler, und in Grillparzers Stück die allerbesten. Kein anderes Theater des damaligen Deutschland hätte ihm eine annähernd gute, eine ähnlich unübertreffliche Besetzung bieten können. Trotzdem ist der grundsätzlich verstimmte junge Dichter schon vor der Aufführung so verstimmt, daß er sich nicht entschließen kann, seinen Namen auf den Theaterzettel setzen zu lassen; er schämt sich der Häßlichkeit des Namens und gleichzeitig ist er ihm zu gut. Auch bedauert er noch in seiner Selbstbiographie, vierzig Jahre später, daß er sich dazu verleiten habe lassen, der Erstaufführung im Zuschauerraum beizuwohnen, was er in der Folge nie mehr tut. Es muß aber auch eine in ihrer kleinbürgerlichen Unbeholfenheit einzigartige Szene gewesen sein, die sich da auf drei von der Direktion zur Verfügung gestellten Galerieplätzen des Theaters an der Wien abgespielt hat. Ängstlich aneinandergereiht saßen: die Mutter Grillparzers, ihr jüngerer, erst zwölfjähriger Sohn, und der im Aufstieg zur Unsterblichkeit begriffene Autor, der, in seiner Aufregung die Verse seines Stückes halblaut mitrezitierend, sich über jede falsche Betonung, jede kleine Entgleisung maßlos ärgert. Und während ihn die Mutter mit der refrainartig wiederkehrenden Warnung zu beschwichtigen sucht: »Aber Franz! Mäßige dich! Du wirst krank!«, betet der kleine Bruder durch alle fünf Akte, daß das Stück gefallen möge. Die Bank hinter diesem armseligen Familienbündel war nahezu leer, nur ein alter Herr belebt sie, dessen Reaktion auf das Stück, das er aufmerksam verfolgt, darin besteht, daß er von Zeit zu Zeit ziemlich laut: »Grell! Grell!« sagt. Es spricht für Grillparzers Gerechtigkeitssinn, daß er ihn trotzdem in seinem Lebensbericht, der auch diesen Bericht enthält, einen »ganz gut aussehenden alten Herrn« nennt. Das Äußere war ihm nie gleichgültig. Und er blieb unter allen Umständen, was immer ihm im Leben widerfuhr, ein unbestechlich scharfäugiger Beobachter.

Als solcher stellt er denn auch nach Schluß der Vorstellung fest, daß das Stück durchgefallen wäre, trotz einigem aufmunternden Geklatsche, das nur den Schauspielern galt. Scheinbar hat er recht, denn die beiden folgenden Aufführungen finden vor schlecht besuchtem Hause statt; das Theater ist »hundeleer«, wie die Schauspieler sagen, wenn sie unter sich sind. Und dies ist um so bedauerlicher, als die dritte eine sogenannte Benefizvorstellung ist; sie findet zum Vorteil der großen Tragödin Madame Schröder statt, die sich herabgelassen hat, die »Ahnfrau« zu spielen. Aber Madame Schröder ist großmütig, wie zu sein es Königinnen zukommt, und läßt den unglücklichen Dichter seine Unwürdigkeit nicht entgelten. Einer ihrer Kollegen – war es nicht gar Herr Heurteur, der den Räuber Jaromir in dem Stücke macht? – geht noch einen Schritt weiter und behauptet beruhigend, Grillparzer kenne das Vorstadtpublikum nicht; das nehme sich Zeit und entscheide immer erst nach der dritten Vorstellung, ob es sich von einer neuen Komödie angezogen fühle oder nicht. Und siehe da, der Mann behält recht, das Stück behauptet sich, die Einnahmen steigen, es wird ein Erfolg, zunächst in Wien, dann auch im Reich, wo man es dem Wiener Theater ebenso beifallsfreudig wie unentgeltlich allenthalben nachspielt. Ist es nicht ein Wunder? Nein, es ist keines. Das jugendliche Trauerspiel, übersprudelnd, wie es ist, melodramatisch, wie es sein mag, gespensterhaft, wie zu sein man ihm vorwirft, hat alles, was ein Bühnenwerk haben muß, um einem großen Publikum dauernd zu gefallen: Rollen, Situationen, Feuer, Musik. Und es hat zudem eine Theaterentschlossenheit, wie sie nur die geborenen Meister der Bühne beim ersten Anlauf an den Tag legen. Was liegt daran, daß man es eine »Schicksalstragödie« nennt? Aber freilich, dem hochmütigen jungen Dichter liegt viel, liegt alles daran, daß man es nicht so nennt. »Der Verfasser kennt die Schule nicht, zu der man ihn zu zählen beliebt«, erklärt er in einer gedruckten Vorrede zur Buchausgabe, und: »Wenn die ›Ahnfrau‹ eine Schicksalstragödie ist, dann ist auch Shakespeares ›Macbeth‹ eine!« Man solle ihm nicht mit dem Einwand kommen, fährt er zürnend fort, die Hexen im »Macbeth« seien »Ideen« – »Shakespeares Hexen sind Hexen und nichts anderes!« So hat er auch schon kurz vorher einmal in seinem Tagebuch den Satz niedergelegt: »Äschylos wollte im ›Prometheus‹ den Prometheus schildern und weiter nichts!« Wunderbar gesagt, endgültig ausgedrückt, aller kritischen Schulmeisterei zu Trotz, wie sie im nachklassischen Deutschland ein Jahrhundert lang vorherrschte. In diesem bildungssüchtigen Jahrhundert fühlte der Professor sich bemüßigt, als Polizist der Bildung über dem Theater zu wachen. Am Ende des Jahrhunderts wird es Nietzsche sein, der ihm geharnischt entgegentritt und der in seiner »Geburt der Tragödie« die Griechen wieder zu Griechen macht. Aber schon am Anfang des Säkulums hatte, was ihm nicht vergessen bleiben soll, der Österreicher Grillparzer nicht nur die klarere Einsicht, sondern auch den bewundernswerten Mut, in seiner Selbstverteidigung den Satz niederzuschreiben, daß es im Theater auf den Effekt ankomme, nicht auf die Meinung, sogar in der Tragödie, denn schließlich sei »auch das Trauerspiel nur ein Spiel«. Was in Zweifel zu ziehen »man ein Dummkopf oder ein deutscher Professor sein müsse«.

In der »Ahnfrau« macht sich das literaturfähige österreichische Drama zum erstenmal, aber sofort entscheidend, vom Gängelbande des norddeutschen kritischen Ästhetizismus los. Das deutsche Theaterpublikum bekundete für diese Rückkehr des Theaters zum Theater instinktmäßig ein weitreichendes Verständnis, wobei die vermeintliche Schicksalstragödie dem Autor wider Willen zustatten kam. Denn Deutschland, das sie erfand, ist das klassische Land der Schicksalstragödie – auch der politischen. Gewohnt, sich von oben lenken zu lassen, unterwirft sich der Deutsche auch im Theater nicht ungern den höheren Mächten, die ihn diktatorisch eigener Entscheidung überheben. Das ging schließlich so weit, daß nicht nur die deutsche Politik, sondern die ganze deutsche Geschichte eine einzige Schicksalstragödie wurde. Damit freilich wollte der Österreicher Grillparzer nichts zu schaffen haben. Als der reichsdeutsche Klassikerverlag Cotta sich ihm für die Buchausgabe der »Ahnfrau« anbot, dankte er für die Ehre, weil er sich als Österreicher verpflichtet fühlte, »einem vaterländischen Verleger den Vorzug zu geben«. Ein Idealismus, der sich bitter rächen sollte, denn damit wurde das in Deutschland vielfach nachgedruckte Stück auch für das deutsche Theater vogelfrei. Alles, was es seinem damals noch von Glück und Erfolg begünstigten Urheber einbrachte, war, die Buchausgabe inbegriffen, ein Betrag von vierhundert Gulden in Silber: Grillparzer bezahlte davon die rückständige Miete für seine Mutter und für den Rest erwarb er eine in Hannover erschienene englische Ausgabe der Werke Shakespeares – eine für die deutsche Literatur äußerst vorteilhafte Kapitalsanlage, wie seine später entstandenen Kaiserdramen – die Königsdramen Österreichs – der Nachwelt beweisen werden. »Die Ahnfrau« bereicherte das deutsche Theater, nicht ihren österreichischen Autor.

Vom Publikum enthusiastisch begrüßt, wurde Grillparzers dramatisches Notturno auch von der Wiener Kritik im allgemeinen freundlich aufgenommen. Der Redakteur der »Modenzeitung«, Herr Hebenstreit, machte jedoch eine Ausnahme. Ein typischer Wiener Theaterplauderer und zettelnder Jünger jener »Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft«, hat er vor einem Jahr Grillparzers Verse benützt, um sie Schreyvogel an den Kopf zu werfen und ihn dadurch als Direktor wanken zu machen. Leider ist ihm das mißlungen; Schreyvogel hat sogar durch die Entdeckung eines erfolgreichen neuen Dichters seine direktoriale Stellung nicht unwesentlich befestigt. Was bleibt ihm unter diesen Umständen übrig, als wenigstens das Stück zu verreißen, das er übelwollend aus dem Nichts hervorgezaubert hat? Was er denn auch mit voller journalistischer Unbedenklichkeit besorgt. Besonders Grillparzers Verse findet er schlecht. Der Grund? Der Grund ist, daß er sie früher allzu gut gefunden hat. Das ist wienerisch.

Die Verse der »Ahnfrau« sind jugendlich, sind überschwenglich, sind wohl auch mitunter mit Vergleichen und Antithesen in einem gesuchten spanischen Stil prunkvoll überladen. Aber da ist eine Szene auf der Höhe des dritten Aktes, in der der im Schloß umstellte Räuber auf der Flucht vor seinen Häschern sich dem geliebten Mädchen zu erkennen gibt und eben dadurch, ihre Einbildungskraft entflammend, ihre Liebe gewinnt – eine auch dramatisch hochgespannte Szene, die des jungen Dichters Meisterhand bekundet. Es ist eine romantische Szene, bei der man an ein malerisches Mantel- und Degenstück Victor Hugos oder an eine frühe Verdi-Oper denken mag, und diesem Stil entsprechen auch die mehr gesungenen als geredeten Verse. Aber welche Leidenschaft singt darin! Berta, so heißt das Burgfräulein, hat bereits eine Ahnung, wer der unheimliche Schloßgast sein mag, den ein abgerissenes Stück seiner Schärpe, von dem ihm nachstellenden Offizier aufgelesen, verraten hat. Die Schärpe liegt auf dem Tisch, nur eine Lüge könnte Jaromir – so nennt sich der schöne Räuber – retten: Er verschmäht die Lüge; er macht sich los von seiner Vergangenheit, die ihn zur Lüge gezwungen hat; er findet, zwischen Leben und Tod wählend, den Weg zur Wahrheit, den er, das Giftfläschchen in der Hand, mutig und entschlossen zu Ende geht:

Fahret wohl, ihr feigen Lügen,
Ihr wart niemals meine Wahl:
Daß ich es im Innern wußte,
Und es ihr verschweigen mußte.
Das war meine gift'ge Qual!
Wohl, der Blitzstrahl hat geschlagen,
Das Gewitter ist vorbei;
Frei kann ich nun wieder sagen,
Was ich auf der Brust getragen,
Und ich atme wieder frei!

Und dann, die Stretta:

Ja, ich bin's, du Unglücksel'ge,
Ja, ich bin's, den du genannt;
Bin's, den jene Häscher suchen,
Bin's, dem alle Lippen fluchen,
Der in Landmanns Nachtgebet
Hart an an dem Teufel steht;
Den der Vater seinen Kindern
Nennt als furchtbares Exempel,
Leise warnend: Hütet euch,
Nicht zu werden diesem gleich!
Ja, ich bin's, du Unglücksel'ge,
Ja, ich bin's, den du genannt!
Bin's, den jene Wälder kennen,
Bin's, den Mörder Bruder nennen,
Bin der Räuber Jaromir!

Von solcher Redegewalt übermannt, was bleibt Berta übrig, als sich in den schönen Wildling zu verlieben, ihm das Giftfläschchen zu entreißen, in die gemeinsame Flucht zu willigen, die ihn einem neuen Leben entgegenführen soll. Begnadigt vor der Liebe Richterstuhl, sinkt Jaromir Berta zu Füßen:

Nimm mich auf! O nimm mich auf!
Mild, wie eine Mutter, leite
Mich, dein Kind, wie's dir gefällt,
Daß mein Fuß nicht strauchelnd gleite
In der neuen, fremden Welt;
Lehr mich deine Wege treten,
Glück gewinnen, Glück und Ruh',
Lehr mich hoffen, lehr mich beten,
Lehr mich heilig sein, wie du!

Schlechte Verse? Man muß, um Grillparzers eigene Worte entsprechend abzuwandeln, ein Dummkopf oder ein Theaterberichterstatter sein, um das ihnen innewohnende Feuer, den angeborenen Adel dieser Verse zu verkennen. Sie sind, über das ganze Stück funkelnd ausgestreut, nicht immer wählerisch und, hin und wieder, nicht einmal gut. Aber, um ein Wort heranzuziehen, das der größte deutsche Kritiker und unbestechlichste Kunstrichter, das Lessing gelegentlich in eigener Sache sprach: »Wenn sie (die Verse) besser wären, wären sie schlechter!«

»Die Ahnfrau« ist weder Grillparzers bedeutendstes noch sein gelungenstes Werk, aber sein erfolgreichstes. Zumal in Deutschland, wo sie im Felde des literarischen Dramas dem österreichischen Theater zum erstenmal die Gleichberechtigung erkämpft, blieb sie das. Weder »Sappho«, noch »Medea«, noch die liebliche »Hero« konnten ihr diesen Rang streitig machen, von den großen Habsburger-Dramen nicht zu reden, die von Anfang an eine österreichische Angelegenheit waren. So blieb das Schicksalsdrama Grillparzers Schicksal, und das Mißverständnis, an dem sein deutscher Ruhm noch heute krankt, nimmt hier seinen Ursprung. Um den Halbbruder der deutschen Klassik nicht Goethe und Schiller anreihen zu müssen, ließ ihn der richtunggebende Berliner Literaturprofessor nicht allzu ungern als einen begabten Nachfahren des spanischen Barockdramas und Mitläufer der Romantik auf deutschem Boden gelten; man lobte seine Trochäen, um seine Jamben um so schulmeisterlicher tadeln zu können. Ein schmerzlich österreichisches Karma in der Tat: Grillparzers Ruhm reiste gleichsam mit einem falschen Paß nach Deutschland und, was noch verhängnisvoller war, über Deutschland ins Ausland. Denn in Berlin wurde sein Literaturausweis abgestempelt – von eben demselben deutschen Professor abgestempelt, der Grillparzer seine vorlaute Bemerkung, daß man, um gewisse Dinge nicht einzusehen, ein Dummkopf oder ein deutscher Professor sein müsse, ein Jahrhundert lang übel nahm, und der sich nun auf feine akademische Weise rächte, indem er der von einem namenlosen Schreiber herrührenden, oberflächlichen Personsbeschreibung: »Besondere Kennzeichen – keine« aus eigenem nur noch die Fußnote folgen ließ: »Beruf – Schicksalsdramatiker«. Womit der Fall des unsterblichen Österreichers bis auf weiteres erledigt war. Oder schien.


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