Sagen aus der Hanse
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Der Graf, der nicht verwesen durfte

Einst lebte in Lübeck ein reicher und mächtiger Graf, der sich aber durch sein schlechtes Betragen den Fluch seiner sterbenden Eltern zugezogen hatte. Aber das wußten nur die wenigsten, und er selbst suchte sein Gewissen in rauschenden Festen zu betäuben. Allein kaum ein Jahr nach dem Tode seiner Eltern starb auch er und wurde in der Katharinenkirche beigesetzt.

Fünfzig Jahre später öffnete man zufällig seinen Sarg und fand seinen Leichnam unverwest. Das Gerücht von dieser seltsamen Begebenheit drang weit in die Ferne, und kein Fremder verließ Lübeck, bevor er nicht den unverwesten Grafen gesehen hatte.

Nun saßen einmal in einem Wirtshaus bei der Katharinenkirche lustige Zechbrüder beisammen und prahlten mit ihrem Mut und ihrer Unerschrockenheit. In das Gespräch mischte sich auch die Schenkmamsell, und indem sie alle zu übertrumpfen suchte, vermaß sie sich, den Körper des Grafen aus der Kirche zu holen. Die Wette wurde gemacht, das Mädchen verschaffte sich den Eingang zur Totenkapelle und kam bald mit ihrer unheimlichen Last zurück. »Da habt ihr den Grafen«, rief sie lachend, »zurückbringen könnt ihr ihn selbst! Die Wette habe ich gewonnen!« Die Gesellen aber zitterten wie Espenlaub, und keiner wollte sich der unangenehmen Aufgabe unterziehen. Da baten sie das Mädchen, ihnen das Geschäft abzunehmen, und gegen ein gutes Stück Geld zeigte sie sich auch willig und trug den Grafen zurück.

Aber kaum hatte sie ihn in seinen Sarg gebettet, als der Tote sich aufrichtete und sie anredete: »Jetzt habe ich dir einen Gefallen getan, nun tue du mir wieder einen als Gegendienst! « Zu Tode erschrocken, nickte die Dirne. »Geh hinter den Altar«, fuhr der Tote fort, »und bitte meine Eltern um Vergebung!« Das Mädchen tat's zitternd, aber eine Stimme antwortete ihr: »Nie und nimmermehr!« Auf den Wunsch des Grafen bat sie dann noch einmal, und wieder wurde sie abschlägig beschieden. Erst, als sie zum dritten Male bat, rief die Stimme so laut, daß das Gewölbe widerhallte: »Nun, so sei er verweset!« Das Mädchen eilte so schnell wie möglich aus der Kirche, aber als man am nächsten Morgen nach dem Grafen sah, war er in Staub zerfallen.

 


 


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