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Besuch des Führers, Einsegnung für höhere Reisen.

Am 16. November stund sie mit einer großen Bangigkeit auf, und beklagte sich über dieselbe den ganzen Vormittag immer mehr; nach 11 Uhr verfiel sie in Schlaf, der sich öfter wiederholte, nie stellte sich aber ihr Führer ein, sie erwachte auch immer von selbst, die Bangigkeit aber verlor sich nicht.

Nachmittags halb 3 Uhr wurde ihr Schlaf heftiger, nachdem solcher gegen 6 Minuten gedauert hatte, so machte sie eine freundliche Miene; auf Befragen, was dies bedeute? sagte sie:

»Ich nehme eine solche Helle gewahr, als wie wenn sich mein Führer bei mir einfindet.«

Nach Verfluß einer Minute empfing sie denselben wirklich und sagte sogleich:

»Diesesmal macht er keine Reise mit mir.«

Aber bald darauf brach sie in ein mehr als lautes und beinahe untröstliches Weinen aus, und zwar über sich selbst, und sagte sodann:

»Ich habe mich in meinem Sinne für frömmer und besser gehalten, als ich wirklich bin, nun aber zeigt mir mein Führer mein Sündenregister, das ist sehr groß; wie vieles ist darinnen verzeichnet, was ich nie für eine Sünde hielt. Ach, – seufzte sie – lieber Bruder! wende dich mit mir auf das ernstlichste und inständigste an Jesum Christum den Welterlöser, daß mir solche auf immer und ewig erlassen werden; und verbinde damit meine herzlichste Bitte: daß ich ja nicht zu lange dahier verweilen darf.«

Darauf rief sie in der vollesten Geisteskraft aus:

»Wie groß muß sich bei einem Menschen, der ein Alter von 60, 70 ja bis 80 Jahren erreicht, seine Sünden-Rolle anhäufen, wenn er auch vor der Welt als ein ganz ehrbarer, gesitteter und wohlgelittener Mensch gegolten hat, dem auch kein Mensch, was man Laster nennt, aufbürden konnte. Von denen, die muthwillig und boshafterweise ihre Rollen vergrößern, will ich diesesmal schweigen, nur kann ich wiederholt nicht unbemerkt lassen, daß es eben die Menschen, man mag es ihnen noch so deutlich und nachdrücklich sagen, gar nicht glauben, wie genau es Gott mit jeder Sünde nimmt. Nicht nur diejenige, welche man mit Reden und in Thaten verübt, werden in das Register oder die Rolle aufgenommen; sondern jeder böse Gedanke kommt auf die Rechnung. Ich weiß nicht, wie ich sagen muß, mein mir vorgelegtes Register kommt mir vor, als ob es mehrere Abteilungen habe, und zwar so, daß das, was wirklich, wörtlich, und was in Gedanken geschehen ist, jedes besonders bemerkt ist.«

Sie wurde nun eine Weile stille, und man sahe deutlich, daß sich ihre düstere Miene allmählig erheiterte, als sie sich ganz erholt hatte, sprach sie voll Freudigkeit:

»Mein Führer sagt mir, daß mir nun meine Sünden erlassen seyen, dieses hat aber mit mir vorgehen müssen, damit ich mich der höhern Offenbarungen nicht überhebe, und höher schätze als ich wirklich bin, sondern ich soll mir das gezeigte ein Inngedenk seyn lassen. – Nun werde ich von meinem Führer zu den höhern und wichtigeren Reisen eingesegnet.«

Sie richtete sich in dem tiefsten Schlaf ganz auf, und schickte sich dazu an. Nachdem solches vorüber war, verließ sie ihr Führer und sie verlangte von ihrem Bruder geweckt zu werden. Wie sie in den wachenden Zustand zurück kam, so war sie vollkommen heiter und sagte:

»Nun ist meine Bangigkeit ganz weg.«

* * *


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