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Oddruns Klage

Oddrûnargrâtr

Oddruns Klage ist poetisch geringwertige, verworrene Flickarbeit eines Skalden. Sein Gefilz von Reminiszenzen aus den Brunhilds-, Gudrun- und Atliliedern ist jedoch angeknötelt an ein vielleicht gar der Völuspa gleichaltriges Fragment, dessen wohllautender und stilgerechter Anhub in den ersten Worten genau zusammentrifft mit dem unseres Hildebrantliedes. Zumal bemerkenswert wird dasselbe dadurch, daß es zu seinem Gegenstand unverkennbar eine Göttersage hatte, welche wir als auch germanisch noch nicht gekannt haben.

1

Zu 1. morna land kann auch, und ganz ungezwungen, Moorland bedeuten. Vgl. die Anmerkungen zu 7 und 30.

Ich hörte melden in alten Mären,
Wie eine Maid gen Morgenland kommen.
Niemand im Staube hienieden verstand es,
Hebend zu helfen der Tochter Heidreks.

2

Oddrun erfuhr es, Atlis Schwester,
Daß die Jungfrau jammre in jähen Geburtswehn.
Da zog sie rasch den gezäumten Rappen
Hervor aus dem Stall und stieg in den Sattel.

3

Auf stäubender Straße gestreckten Laufes
Kam sie zur herrlich ragenden Halle.
Hastig den hungrigen Hengst entsattelnd
Durchschritt sie des Saals unabsehbare Länge,
Und das war der Ausruf, mit dem sie anhub:

4

Was ist hier im Reich am meisten ruchbar
Und lustig zu hören im Lande der Hunnen?

Borgny sprach:

Borgny liegt hier in schweren Geburtswehn;
Dich, Oddrun, bittet die Freundin um Beistand.

Oddrun.

5

Welcher der Fürsten war dein Verführer?
Weswegen liegt Borgny in bittern Wehen?

Borgny.

»Wilmund, der Freund der Falkenträger;
Warm gebettet hat er die Buhle
Der Winter fünf ohne Wissen des Vaters.«

6

Nicht mochten sie, mein' ich, mehr noch sprechen.
Milden Gemüts vor des Mädchens Knie
Setzte sich Oddrun, und sang nun Oddrun
Wirksame Weisen, gewaltige Weisen
Der gebärenden Borgny zum Beistande zu.

7

Zu 7. K. E. merkt hier an, es klinge wundersam, daß von Neugeborenen, die doch noch nicht gehen können, gesagt werde knatti mold-veg sporna (sie konnten laufen, wörtlich: den Staubweg mit den Fersen schlagen); indes sei doch der Ausdruck poetisch und schön ausschmückend.

Allein die Verse meinen ganz unfigürlich, was sie sagen. Sie berichten es eben als ein Wunder, daß diese Zwillinge alsbald nach ihrer Geburt schon laufen können. Sie sind eben Götterkinder und selbst Götter.

Im homerischen Hymnus von Apollon, unmittelbar nach der Schilderung, wie Leto zum Gebären einen Palmbaum mit den Armen umklammert und die Knie gegen den weichen Rasen stemmt, während die Erde unter ihr lächelt, heißt es:

ἐϰ δ᾽ ἔϑορε πρὸ φόωσδε, ϑεαὶ δ᾽ ὀλόλυξαν ἁπᾶσαι.

Lichtwärts sprang er hervor, und es jauchzten die Göttinnen alle.

Kaum hat er dann ἄμβροτον εἶδαρ, Unsterblichkeitskost, geschluckt, so hält ihn nicht länger das goldene Wickelband: er spricht bereits, ruft den Göttern zu, welchen Beruf er sich wähle, und

ὡς εἰπὼν ἐβίβασϰεν ἐπὶ χϑονὸς εὐρυοδείης.

Schreitet von dannen dabei auf der weithin wegsamen Erde, was ein altnordischer Poet ausgedrückt haben würde:

quaþ ok mold-veg spornađi.

Diese Stelle führe ich an in der Meinung, daß wir im Eingang von Oddrunagratr den Rest vor uns haben von einer germanischen Göttersage, die unverwandt und in ihrem Kern identisch ist mit der griechischen von Leto und ihren Zwillingskindern Apollon und Artemis. Auch Leto kann nicht gebären, bis Eileithyia herbeigerufen ist, wie Oddrun zur Borgny.

Die Beziehung des Namens Oddrun auf den Mythus läßt sich zwar nicht zwingend erweisen, immerhin aber wahrscheinlich machen. Ođr, wütend, wurzelverwandt mit ὠϑέομαι, das auch vom Wütenden gesagt wird, erlaubt, an den Zustand einer Kreisenden zu denken; oddrun also Beraterin, Helferin bei solchem Zustande, wie μογοστόϰος, das Prädikat der Eileithyia. Näher indes, wie für mehrere ähnliche Mannesnamen, liegt Bildung vom gleichwurzligen oddr, Speer, Dolch, scharfe Spitze, die fast allen Sprachen geläufig sind als Sinnbild und geradezu vertretender Ausdruck für heftige Gemüts- und Körperschmerzen, namentlich auch der Geburtswehen. Erinnert sei auch an jenen Odhr in Snorris E., welchem Freya goldene Tränen nachweint, als er in die Ferne zieht, und dessen Name, gleichbedeutend mit Wuot, Wuotan, Wodan, auf Odin zurückweist. War Odhr etwa ältere oder Nebenform von Odin, so könnte Oddrun für entsprechende Benennung der Gemahlin dieses Gottes gelten, wie Dione ursprünglich Gattin des Zeus bedeutete, und man hätte dann in ihr die geburthelfende Hera.

Geradezu gleichbedeutend aber mit Λητὠ ist Borgny, von at bearga, biarga, berga, partic. pass: borginn, verborgen. In Strophe 1 heißt Borgny die Tochter eines Heiþrekr, und dieser Name, gebildet von reka, Herrschaft antreten, gebieten, und heiþr, klar, heiter, die Kläre, gesagt vom Himmel, Sonne und Sternen (Harbarzl. 18, Grimnnismal 39, Völuspa 51) bedeutet: Herrscher der Himmelskläre. Erwähnt wenigstens sei noch, daß in der Letosage die Insel Delos bis zur Geburt Apolls als unfruchtbar oder auch als schwimmend erscheint, Moorland aber (siehe Anmerkung zu 1) ebenfalls nicht nur unfruchtbar, sondern oft auch wirklich schwimmend ist, als eine von torfbildenden Wasserpflanzen gefilzte, zuweilen schon gangbare, aber noch wellende Decke über tiefem Sumpf.

Der Verfasser kannte aus den Nibelungenliedern der Edda eine Oddrun als Schwester Atlis. So kam er auf den Gedanken, das alte Fragment von der Geburtshelferin Oddrun als Eingang zu einem Klageliede jener zu verwenden. Er bereitete das vor, indem er im vorgefundenen, sonst von 1 bis 7, 3 unversehrt gelassenen Text 2, 2 in Atla systir, 4,4 in Hûnalands umänderte und schließlich anstatt des in 7, 4 gegebenen Namens behufs Anschweißung seines Gedichts Haugna setzte.

Man verbinde kantti sporna viđ bana x. Sie konnten alsbald schon mitlaufen mit dem Töter des x.

Wer Kommentator der K. E. hat sich irre führen lassen durch sein Widerstreben, das Laufenkönnen der Neugeborenen zu nehmen als das, was es sein will, als Wunderbericht. Außer Betracht ließ er deshalb die allergewöhnlichste Bedeutung von viđ, mit, in Gesellschaft mit, und nahm es in der anderen, die es allerdings auch sehr oft hat: als das »von« bei Bezeichnung der Vaterschaft, und übersetzte; börn þau hin bliđo viđ bana Haugna: infantes illi suaves prognatti ex Högnii percussore, »holde Sprößlinge des Hagentöters« (Simrock, der durchweg nicht sowohl den Urtext als die Interlinearversion der K. E. wiedergibt). Um diesen Sinn zu gewinnen, gesteht er, müsse man allerdings annehmen, daß der Text die Ergänzung eines ausgelassenen getin, alin, empfangen, geboren von, voraussetze. Darüber ferner, daß die Sage durchaus nichts weiß von einem Vilmund als Töter Hagens, soll die Bemerkung hinaushelfen: nichts hindere anzunehmen, daß ein Vilmund irgendeinen anderen Hagen (als den der Nibelungensage) getötet habe und danach benannt worden sei, wenn auch kein Zeugnis dafür vorliege.

In dem alten Liede stand aber offenbar ein anderer Name als Haugna, wahrscheinlich der eines Riesen, entweder jenes Sturmriesen Beli, den nach Skirnisför Freyr erlegt hat, wie Apollon den pythischen Drachen – und in diesem Falle hätte das betreffende Halbverspaar vierfachen Stabreim gehabt –, oder auch Hata. Nach Helgaqu. Hörv. 17 und 24 ist ja Hati der Vater der Hrimgerđ, der Reifbereiterin. So hätten wir in ihm eine Personifikation des Kältenebels, der dichten Verhüllung der Erde durch tiefliegende Wolken.

Erst wann dieser Nebel zerstreut ist, wann die Himmelsklärung ihn besiegt hat, kommen Mond und Sonne aus der Verborgenheit zum Vorschein und gehen, Schritt haltend mit dem Himmel selbst, dessen Bläue nun jene Verschleierung aufgelöst, über die Erde hin. Mythisch ausgedrückt lautet diese Anschauung: die Verborgenheit, die Nacht, Leto, Borgny, gebiert vom Himmelsgott die Zwillingsgottheiten Sonne und Mond, Apollon und Artemis. So ergibt sich denn auch jenes Einhüllen der Maid in warme Decken (5) während des Winters als zum Naturmythus gehörig.

Demnach müßte Vilmundr ein weiterer zu den zahlreichen Namen des Himmelsgottes Odin sein; wofür denn freilich sichere etymologische Beglaubigung nicht beizubringen ist. Zwar ist mundr auch manipulus, Schar, ën haand full (Björn Haldorsen, isländ. Lexikon) und mundir, Abteilungen, Heerhaufen, kennt auch die Edda (Helgaqu. Hörv. 28). »Ersehnt den Heerscharen« würde trefflich passen, ist aber bedenklich, da vil, angenehm, erwünscht, in der Zusammensetzung die Eigenschaft des zweiten Wortes auszudrücken pflegt, z. B. vilmâl, erwünschte Rede, vilmaell, nach Wunsch reden, wonach vilmundr nur »ersehnte Schar« bedeuten könne. Dagegen kann es völlig sprachgerecht übersetzt werden: erwünschter Malschatz, begehrenswerter, schöner Brautschmuck, und als solchen die Pracht des Sternhimmels zu bezeichnen, ist der Edda sehr geläufig, wofür ich namentlich auf Anmerkung 5 zu Fiölsvinnsmal über den Namen Menglađa verweise.

Mit den Fersen sofort den Staubweg stampfen
Konnten die Kinder, Knabe wie Mädchen,
Das holde Paar mit dem Hagentöter.
Dann brach ihr Schweigen die Schmerzgeschwächte,
Und das war der Ausruf, mit welchem sie anhub:

8

»So mögen dir helfen huldreiche Mächte,
Frigg und Freya und andere Asen,
Wie du mir den Leib erlöst vom Verderben!«

9

Führwahr, nicht dieweil du dessen würdig,
Neigt' ich mich nieder, aus Not dir zu helfen;
Nur mein Gelübde hab' ich geleistet,
Das ich anderwärts aussprach: allerorten
Beistand zu bieten [gebärenden Frauen],
Als hier das Erbe die Edlinge teilten.«

Borgny.

10

Irr bist du, Oddrun, und unklugen Sinnes,
Daß du gereizt und maßlos redest,
Wo doch ich dir auf Erden so anhänglich folgte,
Als wären wir beide Brüderstöchter.

Oddrun.

11

Ich entsinne mich noch, was du sagtest den Abend,
An dem ich den Gunther zum Gastgelag einlud.
Du meintest, kein Mädchen als ich vermöchte
Je zu bieten so böses Beispiel.

12

Da setzte sich nieder die Sorgengeprüfte,
Um ihr leidvolles Los verlauten zu lassen:
»Ich verlebte die Kindheit am Königshofe,
Und mich lobten die Leute als ihren Liebling.

13

Doch mir wurden gewährt nur fünf Winter,
Mich zu erfreuen des Frühlings der Jugend
Und der Schätze des Vaters. Dann schied er vom Leben.
Das ließ verlauten als letzte Rede
In der Stunde des Sterbens der stolze König:

14

Reich begabt mit rotem Golde
Sollt' ich nach Süden zum Sohne Grimhilds;
Keine bessere Jungfrau sei jemals geboren,
Wenn mich mein Schicksal vor Schaden behüte.

15

Zu 15. K. E. übersetzt: Brynhilda in gynaeceo acupictilia evolvebat (tractabat); habebat ea populos atque terras circum se. Tellus jucundumum somnumm capessebat atque coelum superne, cum Fafneris occisor castrum cognovit. Danach Simrock:

Brunhilde wirkte Borten am Rahmen;
Sie hatte Land und Leute vor sich.
Erde schlief noch und Oberhimmel,
Als Fafners Besieger die Burg ersah.

So käme aber die Strophe ohne begreiflichen Zusammenhang mit der vorigen, auch in sich unverständlich, hereingeplatzt. Um ihr Dunkel aufzuhellen, muß man die Absicht feststellen, welche sie in Verbindung mit dem Vorhergesagten in Oddruns Munde allein haben kann. Diese Absicht ist, zu erklären, wie ihr vom sterbenden Vater so verheißungsvoll genanntes Lebenslos vom Schicksal geschädigt worden sei, warum und wie Brunhild, vor ihr begünstigt, sie verdunkelt und um den ihr bestimmten Gatten gebracht habe: Mich befahl mein Vater mit Gold auszustatten und dem Gunther zu senden; Brunhild aber hatte ihren eigenen, fürstlich ausgestatteten Wohnsitz und war begehrenswerter, weil sie lydi ok lönd um sik hatte, weil dieselben ihre Mitgift bildeten. Infolgedessen, soll man nach Halbvers 4 hinzudenken, begehrte Gunther nicht mich, sondern sie zur Gattin. Darauf folgen kurze, Bekanntschaft mit der Sage nach anderen Liedern voraussetzende Andeutungen, wie Brunhild von Sigfrid für Gunther gewonnen worden sei, und wie sie diesen Betrug gerächt habe.

Sprachlich ist nichts einzuwenden gegen die Übersetzung von dusaþi als 3 p. imp. von dusa, schlafen. Um aber damit einen annehmbaren Sinn zu gewinnen, müßte man voraussetzen, daß hier schon die sehr späte, der Edda sonst völlig fremde, erst nach vollendeter Verwandlung der Heldensage in das Märchen von Dornröschen nachweisbare Ausdehnung des Zauberschlafs der Brunhild auf die ganze Natur gemeint sei. Das widerstrebt mir, wiewohl es sehr denkbar ist, daß eben diese Auslegung unserer Stelle den Märchenzusatz veranlaßte. Mir scheint hier anzuklingen die Schilderung der Völs. S., wie Sigfrid durch die Waberlohe reitet: Grani hleypr nú fram at eldinum – nu verdr gnyr mikill, Grani sprang gegen das Feuer an – es entstand großes Getöse; zugleich die ebendaselbst angeführten Verse Jörđ tok at skialfa ok harr logi viđ himin gnaefa (siehe die Nachbildung des Fragments S. 287): Die Erde begann zu beben und die hohe Flamme gen Himmel zu zucken. þys ist Tumult, þys-haullo die dröhnende Halle, Atlaqu. 30, wie Homers δώματα ἠχηέντα und αἴϑουσα ἐρίδουπος, at þysa, ek þys, þusta, stürzen, dröhnen = ϑύσσω.Ich halte also das auch vom letzteren Verbum sehr wohl herleitbare dusaþi für das erdôz des Nibelungenliedes. Wörtlicher also sagt die Strophe: Brunhild im Gemach breitete Teppiche, hatte Land und Leute um sich. Erde dröhnte und oben Himmel, als der Fafnerstöter vor der Burg erschien.

Überbreitet waren in Brunhilds Hause
Die Wände der Wohnung mit schönen Geweben.
Ihr waren Land und Leute eigen.
Es dröhnte die Erde, der Himmel droben,
Als zur Feste vordrang der Fafnerstöter.

16

Das welsche Schwert ward geschwungen im Kampfe,
Gebrochen die Burg, die Brunhild hatte.
Bald wußte sie dann – das war kein Wunder –
Des ganzen Betruges treulose List.

17

Sie errang so reiche Rache des Frevels,
Daß wir ihn bitterlich alle büßten.
Das verlautete längst in allen Landen,
Wie sie selbst sich entseelt an Sigfrids Seite.

18

Zu 18. Wunschmaid, das ist Walküre werde; hier im Munde Gunthers ungefähr im Sinne unserer Redensart: geh zum Teufel. Ursprünglich gehörten diese Worte wohl zu einem Liede von Brunhilds Jugend als von Odin gesprochen.]

So in Liebe ergeben dem Gunther war ich,
Dem Ringverteiler, wie's recht war für Brunhild.
Brunhilden hieß er den Helm zu nehmen;
Wunschmaid, sagt' er, solle sie werden.

19

Bald schon boten sie meinem Bruder
Rote Baugen, reiche Buße.
Ferner verhieß er, fünfzehn Höfe
Und was Granis Rücken an Reichtum getragen,
Für mich zu entrichten, wenn es ihm recht sei.

20

Zu 20. Genauer: Wir aber konnten der Leidenschaft nicht widerstehen, die mich nichts anderes wünschen ließ, als das Haupt des Ringbrechers umschlungen zu halten. Die Satzbildung ist elliptisch und anakoluthisch. munir = leidenschaftliche Wünsche.

»Nein,« rief Atli, »ich nehme nimmer
Brautvergütung von Gibichs Sprossen.«
Doch übermächtig war unsere Minne,
Ich mußte dem Herrscher am Halse hängen.

21

Zu 21. quađusk okr hafa orđit baeđi übersetzt K. E.: adserentes, nos ambo unâ ab se oppressos (deprehensos) esse. Der Zusammenhang, wird angemerkt, fordere gebieterisch diese Auslegung, obgleich zuzugeben sei, daß für solchen Gebrauch des Verbums at verđa kein Beispiel zu finden. Letzteres bestätigend, meint H. Lüning, in orđit werde daher wohl ein Schreibfehler stecken. Welcher, sagt er nicht. Doch ist nicht nur der Fehler selbst, sondern sogar seine Entstehung so leicht als unzweifelhaft erkennbar. In der irrigen Meinung, daß Halbvers 4 auf okr statt auf hafa in 3 einen Stabreim bringen müsse, sprach und schrieb man orđit statt horđit von at hora – horađa = stuprum committere.

Da gab es Geschwätz bei Geschwistern und Schwägern,
Daß wir beide verbunden in Buhlschaft seien.
Doch Atli meinte, es sei nicht möglich,
Daß ich solcher Schande mich schuldig machte.

22

Doch es müßte kein Mensch, wo Minne waltet,
Von andern dergleichen unglaublich nennen.

23

Sein Gesinde entsandte Atli,
Im finsteren Forste nach mir zu forschen.
Sie kamen und sahen – was keiner sollte:
Unter einem Bettuch uns beide verborgen.

24

Wir boten den Spähern goldene Spangen
Damit sie dem König die Kunde verschwiegen:
Doch sie rannten hastig fort nach Hause,
Um dem Atli eiligs alles zu sagen.

25

Zu 25. Wenn vor allem Gudrun davon erfahren, so hätte sie vielleicht vermittelt und uns Atlis Einwilligung ausgewirkt. So aber kam nun zum Tode der einen Schwester, Brunhilds, die Entehrung der zweiten, meiner, hinzu, ihn auf Rache an den Nibelungen sinnen zu lassen. Dieser nicht ausgesprochene Gedanke ist die Verbindung mit der folgenden Strophe, welche in kurzen Zügen an Atlis Rache mehr erinnert, als dieselbe erzählt.

Der Gudrun dagegen verhehlten sie's gänzlich,
Und sie hätt' es zumeist erfahren müssen.

26

Von vergoldeten Hufen dröhnte der Hofraum,
Als die Söhne Gibichs zum Gastmahl ritten.
Dem Hagen schnitt man das Herz aus dem Leibe
Und schloß den andern ins Schlangengehege.

27

Ich war einst wieder nach meiner Gewohnheit
Zu Germund gegangen, das Gastmahl zu rüsten.
Der hehre Herrscher begann zu harfen;
Denn der stolze Konig aus edlem Stamme
Hegte die Hoffnung, ich brächt' ihm Hilfe.

28

Ich hörte auf Hlesey von seiner Harfe
Die Saiten erklingen wie laute Klage;
Ich mahnte die Mädchen, nicht müßig zu zaudern,
Mich verlangte zu retten das Leben des Königs.

29

Zu 29. yfir kann nicht wohl heißen »vorbei an« und lund yfir dürfte gleichwohl nichts anderes bedeuten, da man den Nachen doch nicht über den Wald kann schwimmen lassen. Deshalb ist statt lund – sund zu lesen. Entweder weil er die Alliteration fliota – far übersah oder eine doppelte erzielen wollte, hat ein Abschreiber wegen letom lund gesetzt.

Über den Sund im Nachen setzend,
Sahen wir Atlis Wohnungen sämtlich.

30

Zu 30. skaevandi. Atlis Mutter hat Schlangengestalt angenommen und bohrt sich in Gunthers Herz. Ähnlich bemerkt Völs. S. von jenem Elk, der die Söhne Wölsungs tot beißt, nach der Sage einiger Männer sei derselbe König Siggeirs Mutter gewesen, die durch Zauberkunst diese Gestalt angenommen. Da nun eine Schlange nicht hinkend vorgestellt werden kann, liegt die Ableitung von skeifr, lahm, σϰαιός, ferner, als die von at skaeva, eilen, hastig schreiten (vgl. Atlamal 96 und Atlaquida 37). – Zu morna vgl. Anmerkung zu 1 und 7. Man hat zu denken an das Verfaulen im Sumpf, an die schimpfliche Todesstrafe, die an der Verleumderin Herkia vollzogen wird. Gudr. Quid. III, 10.

Doch rasch heraus kam da jene Verruchte,
Die Mutter Atlis – sie möge vermodern! –
Sie bohrte sich ein in Gunthers Busen –
Nicht retten konnt' ich den Ruhmgekrönten.

31

zu 31. linn-vengis bil lege ich anders aus als bisher geschehen. Simrock: »Wurmbettgeschmückte«, was ohne Erklärung durchaus unverständlich bleibt. Es soll bedeuten: Goldgeschmückte, weil das Gold »Lager Fafnirs«, des Drachen oder Wurmes genannt wird. Nun ist linnr allerdings eine der Bezeichnungen für Schlange wie unser Lint in Lintwurm, und vengi kann gleichbedeutend sein mit vángr, Ebene, Flur, Gefilde. bil=Nymphe, ist ehrende oder zärtliche Anrede für Mädchen, und es ist nicht in Abrede zu stellen, daß im Schnörkelstil der verkünstelten Skaldenpoesie »Schlangengefildes- (oder -lagers) Nymphe« lediglich »goldgeschmücktes Mädchen«, etwa Prinzessin, bedeuten könnte; denn in jener Poesie finden sich Beispiele noch weiter hergeholter, konventioneller Ausdrücke, die ohne langen Kommentar gar nicht verständlich sind. Allein linnr heißt auch die Quelle, Wasser, und vengi die Wange (Gudr. Qu. I, 13), und danach kann linn-vengis bil heißen: Wasserwangennymphe, das ist Mädchen mit tränenfeuchten Augen. Das ist minder gesucht und gibt anmutenden Sinn: Ich wundre mich oft, wie es mir möglich gewesen ist, nach solchem Unglück – ich seh es, Mädchen, schon die Erzählung netzt dir die Wangen – noch länger zu leben.

Tränen des Mitleids, o Mädchen, träufeln
Von deiner Wange. Es wundert euch oftmals,
Wie ich noch länger zu leben vermochte,
Da ich den tapfern Verteiler der Schwerter
Zu lieben meinte mehr als mich selbst.

32

Du saßest und lauschtest, solang ich dir sagte
Von meinem und anderer maßlosem Unglück.
Nach des Menschen Gemüt bemißt sich sein Schicksal,
Und hier verklinge nun Oddruns Klage.


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