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Odins Helfahrt

Vegtamsquiđa

Zur Überschrift. Vegtamr wäre nachzubilden: Weg- oder Fahrtgewohnt. Doch ist es nicht unwahrscheinlich, daß man ursprünglich las Vigtamr, d. i. Schlachtgewohnt oder Schlachtenlenker. Denn Strophe 11, wo sich Odin obigen Namen beilegt, fügt er hinzu: Sohn des Valtamr, d. i. entweder: des Schlachtgewohnten, oder auch: des Bändigers, Zähmers der Krieger durch ihren Tod im Kampf, von val, Gesamtheit der auf der Walstatt Gebliebenen, und temja, tem, tamda, tamit, bändigen, zähmen.

1

Zum Rat versammelt
Saßen die Asen,
Die Asinnen alle
Und hielten Umsprach.
Vermutungen tauschten
Die mächtigen Götter.
Weswegen dem Balder
So Böses geträumt.

2

Er schlief so schlecht,
Als umschlängen ihn Fesseln;
Des Schlummers Erquickung
Schlug in Qual um.
An Wahrsager wandten
Sich da die Gewalt'gen
Und forschten, ob es Furchtbares
Vorbedeute.

3

Die Befragten versetzten:
Früh zu sterben
Ist das Los des liebsten
Der Lieblinge Ullers.
Angst erfaßte
Frigg und Odin
Und die anderen Asen.
Sie wurden einig,

4

Gesandte zu senden
An sämtliche Wesen
Mit der Bitte, den Balder
Zu verschonen mit Schaden.
Ihn nicht zu verletzen,
Gelobte jedes,
Und in Eid nahm alle
Odins Gemahlin.

5

Doch dem Walvater dünkte
Die Bürgschaft dürftig;
Ihm schienen zu scheiden
Die schützenden Nornen.
So berief er die Asen
Und forderte Rat.
Aus unschlichtbaren Reden
Reifte kein Beschluß.

6

Da erhob sich Odin,
Der Volkserhalter,
Sattelte Sleipnern
Und ritt ohne Säumen
Hinunter ins Nachtreich.
An Niflheims Grenze
Kam ihm der Hund
Der Hël entgegen.

7

Seine Brust war gerötet
Von Blutgerinnsel,
Zum Bisse der Rachen
Weit aufgerissen.
Mit grellem Geheul
Und gierig gähnend
Bellte er laut
Den Liedvater an.

8

Der sprengte vorwärts.
Das Felsengefüge
Des Bodens bebte
Dumpf donnernd.
So gelangt' er in Helas
Hohen Palast.
Doch rasch nach dem Osttor
Durchritt ihn Odin.
Dort wußt' er den Gruftbühl
Der wissenden Greisin.

9

Ertönen ließ er
Das Totenwecklied;
Nach Norden gerichtet
Entwarf er die Runen
Und forderte dann
Mit unfehlbaren Formeln
Voll Zaubergewalt
Den Zukunftswahrspruch,
Bis die widerwillige
Wala aufstand,
Vom Todesgeschicke
Bescheid zu erteilen.

Wala.

10

Wer bist du, mir Fremder?
Was weckst du mit Fragen
Zu bänglicher Sorge
Die Seele mir auf?
Verschneit unter Schnee,
Umrieselt vom Regen
Und taunaß lag ich
So lange schon tot.

Odin.

11

Wegtam heiß' ich,
Der Sohn des Waltam.
Vom Nachtreich hunten
Gib Du mir Nachricht.
Was oben sich zuträgt,
Will ich dir erzählen.
Für wen sind die Bänke
Belegt mit Baugen,
Der glänzende Gastsaal
Mit Gold überschwemmt?

Wala.

12

Für Balder steht hier
Schon der Becher bereit,
Drin den schäumenden Met
Ein Schild ihm bedeckt.
In Sorgen verzweifelt
Die Sippe der Asen. –
Das beschworst du mir ab –
Nun laß mich schweigen.

Odin.

13

Verstumme noch nicht,
Gestehe mir alles.
Ich frage dich nun:
Wer ist der Frevler?
Wer begeht die Tat,
Die dem Balder den Tod gibt,
Den an Jahren so jungen
Schon jäh dahinrafft?

Wala.

14

Zu 14. Lies: Hauđr berr haefinn hroþbađm þinnig. Wörtlich: Hödur trägt treffsicher den Unheilszweig hiezu. Doch kann þinnig, begleitet gedacht von einer Geste der Wala, auch bedeuten: zum Hierherliefern, d. i. zum Herunterschaffen Balders in das Totenreich. In den meisten Handschriften liest man: Hauđr berr hafan hrođr barm þinnig, was man zu übersetzen vorschlägt: Hödur trägt den hohen, berühmten Bruder hierher. Zur Verteidigung dieses Textes heißt es in K. E.: »man brauche denselben nicht zu verwerfen, da er doch auch eine nicht völlig unsinnige Auslegung gestatte (dum sensum suppeditat haud plane absurdum). Das ist denn doch ein Rettungsversuch von kläglicher Schwäche gegenüber dem vortrefflichen Sinn, den die obige Korrektur des genial scharfsinnigen G. Paulson herstellt mittelst geringer Änderung oft verschriebener Buchstaben.

Hödur trägt
In der Hand den Treffer,
Den schädlichen Schößling,
Mit dem er's verschuldet,
Daß Balder durchbohrt
Hierher verbannt wird,
Daß Odins Sohne
Zu altern versagt ist.
Beschwörung entlockt mir's –
Nun laß mich schweigen.

Odin.

15

Verstumme noch nicht,
Gestehe mir alles.
Ich frage dich ferner:
Wer wird den Frevel
Am ruchlosen Mörder
Balders rächen
Und auf den Holzstoß
Den Hödur heben?

Wala.

16

Im Wintersaale
Gebiert den Wali
Von Odin Rinda
Zum Rächer der Untat,
Der, nur eine Nacht alt,
Schon stark genug ist.
Er kämmt sich das Haar nicht,
Noch wäscht er die Hände,
Bis er Hödurn empor
Auf den Holzstoß gehoben.
Beschwörung entlockt mir's –
Nun laß mich schweigen.

Odin.

17

Zu 17. Die wahrscheinlichste Deutung dieser dunkeln Strophe findet man im zwölften meiner Epischen Briefe S. 251-52 und 256-57. – Durch sein Vorwissen, daß diese Weiber durch ihre Weigerung, auch zu weinen um den allbetrauerten Balder, dessen Verbleiben in der Unterwelt verschulden werden, hat sich Odin der Wala zu erkennen gegeben.

Verstumme noch nicht,
Gestehe mir alles.
Ich frage dich ferner:
Wer sind die Frauen,
Die zu weinen sich weigern
Und ihre Gewande,
Statt ihr Haupt zu verhüllen,
Gen Himmel werfen?
Nur das noch entschlei're,
Dann schlafe weiter.

Wala.

18

Nicht, wie ich wähnte,
Wegtam bist du,
Sondern Odin,
Der Allerhalter.

Odin.

Weder Wahrsagerin
Bist du, noch Wala!
Du bist vielmehr
Die Mutter der Nornen.

Wala.

19

Reite zurück nun
Und rühme dich, Odin,
Daß du gekonnt,
Was von Lebenden künftig
Niemand erreicht:
Mit mir zu reden,
Eh' los und ledig
Loki der Fesseln
Und die Ordner enden
Am Unheilstage.


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