Willibald Alexis
Ruhe ist die erste Bürgerpflicht
Willibald Alexis

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Die Kutsche mit dem Gefangenen mußte oft anhalten. Wagen, schwer rasselnd, unter starker Militäreskorte, versperrten die Straße. Es waren die Kassen, welche der neue Minister fortschaffen ließ. »So wird doch etwas gerettet«, murmelte der Transportierte. »Und wenn Preußen sagen kann: Tout est perdu, sauf l'argent, ist's am Ende ein Anfang zu einer neuen Existenz.« Walter van Asten gab aus dem Fenster des Ministers den Kommandierenden beim Transport Anweisungen. Auch der Geheimrat Alltag schien unter denen, welche auf ihn hörten. Wandel, der den Zusammenhang gefaßt, lächelte: »Die Welt dreht sich um; das kann was werden! Wer Geld bringt, kann eine Karriere machen. Die beste freilich wäre, wenn der junge Mensch damit nach Amerika liefe.«

Walter, der sich dem Auftrage des neuen Ministers mit Eifer unterzogen, war gekommen, um seinen letzten Bericht abzustatten. Er hoffe, das Geld mit sichern Leuten an den Ort seiner Bestimmung abzuliefern, aber – sein Bericht über die Volksstimmung war traurig, er hegte keine Hoffnungen, nach dem, was er gesehen, gehört.

»Wie jeder beobachtet«, sagte der Bankdirektor Niebuhr, der ebenfalls vom Minister Abschied nahm. »Niemand kann an allen Orten zugleich sein.«

»Diese jubelnden Trainknechte, diese gepreßten Bauernbengel, die froh sind, dem Stock und der Fuchtelklinge einmal entlaufen zu sein, sind freilich so wenig das Volk als da die zitternden Käsekrämer und Schnittwarenhändler«, hatte der Minister nachdenkend erwidert.

»Und doch, Exzellenz«, fiel Niebuhr ein, »auch unter ihnen regt sich schon eine andere Stimmung. Ich lernte, wie Sie, dies Volk erst kennen. Aber wenn Sie es jetzt kennten wie ich, Sie würden es Ihrer Liebe wert finden. Ich habe in diesen Tagen nirgend mehr so viel Kraft, Ernst, Treue und Gutmütigkeit zu finden erwartet. Von einem großen Sinne geleitet, wäre dieses Volk immer der ganzen Welt unbezwingbar geblieben, und wie sturmschnell auch die Flut unser Land überschwemmt, noch jetzt drängte ein solcher Geist sie wieder zurück. Aber wo ist er, der große Geist, der es vermochte!«

»Er wird erscheinen«, rief der Minister, und seine Stirn leuchtete, indem er Niebuhrs Hand drückte; die andere reichte er Walter. »Warum sollen nur die Völker des Altertums ihren Phönix haben! Ist das Christentum nicht basiert auf dem Mysterium der Wiedergeburt? Sollten nur die germanischen Völker bestimmt sein, auszugehen und überzugehen in andre? Ich glaube an den Phönix, aber der Scheiterhaufen ist noch nicht hoch genug. Es muß noch vieles Morsche, Faule, Wurmstichige darin verbrennen, viel mehr, als wir wähnten; vieles, was wir gestern noch für gesund hielten, vielleicht was uns das liebste und teuerste war. Leben Sie wohl, meine Freunde, wir sehen uns wieder, wenn noch nicht in besserer Zeit, doch in einer, wo wir wieder hoffen dürfen.«

In den Geschichtsbüchern steht, und es ist daraus nicht wegzulöschen, daß viele der gutgesinnten Bürger Berlins die Mahnung jenes Ministers befolgten. Sie schickten sich in die Zeit, denn es war böse Zeit. Sie schwenkten die Hüte vor dem einziehenden Napoleon und riefen »Vive l'Empereur«, und illuminierten ihre Häuser, daß der Kaiser selbst in jene Worte der Verwunderung und der Schmach ausbrach, die wir nicht wiederholen wollen, Sie taten es aber nicht aus Gesinnung, sondern, wie andere nach ihnen, aus der »guten Gesinnung«, welche der Dichter nennt:

Die Rücksicht,
Die Elend läßt zu langen Jahren kommen;

sie stimmten zu dem Übel und streichelten es, damit das Übel, das kommen konnte, nicht noch größer werde als das, was war, Aber nicht alle waren gutgesinnt. Es gab Männer, und Frauen auch, welche das Übel beim rechten Namen nannten und nicht erschraken, wenn es ihnen ein böses Gesicht machte. Diese einigen waren die Kieselsteine, an denen der Stahl Funken schlagen sollte, aus denen der stille Brand ward, welcher später zum allmächtigen Feuer aufloderte. Gut Ding will Weile im deutsche Lande. Viele hat die Geschichte genannt, oder fängt jetzt an, ihre Namen zu nennen, aber wie viele sind schlummern gegangen, auf ihren Grabsteinen wächst Moos, und die Geschichte kratzt es nicht mehr ab, um von ihrem stillen Wirken Zeugnis zu geben. Da darf die Dichtung, die so viel Trauriges und Schlimmes nicht verschweigen durfte, auch an den einzelnen Mutigen erinnern, und wo wir solche Bilder mutloser Zerschlagenheit aus der preußischen Hauptstadt hinstellen mußten, um wahr zu sein, wird es zur Pflicht, auch einiger Züge zu gedenken, die schon wie das ferne Wetterleuchten einer besseren Zeit am Horizont erscheinen.

Da stand eine Deputation vor dem Gewaltigen, und er erwartete stammelnde Unterwürfigkeit, Bewunderung und demütiges Flehen. Er konnte es erwarten nach dem, was vorging. Aber einer im Priesterkleide trat vor und sprach: »Sire, ich wäre nicht wert des Kleides, das ich trage, des Königs, dem ich diene, des Wortes, das ich verkündige, wollte ich nicht bekennen, ich sehe – Eure Majestät nicht gern in Berlin.« – Was Napoleon erwidert, haben die Kinder der Zeitgenossen vergessen, aber im Verlauf des lebhaften Gesprächs, worin der kühne Mann den Sieger fragte, ob er denn in der Geschichte lieber als ein Räuber dastehen wolle denn als ein christlicher Herrscher, trat der alte Erman plötzlich herzhaft auf den Kaiser zu, faßte seinen Arm, schüttelte ihn und sagte: »Ce bras victorieux sera bienfaisant!« Es wird erzählt, Napoleon sei erschrocken zurückgetreten. Das hatte er aus Berlin nicht erwartet. Später habe er zu seinem Adjutanten geäußert: »Quel géant que ce vieux druide! Jamais prêtre ne m'a dit cela

Erman, so weiß man, aber nicht aus dem Munde des bescheidenen Mannes, der selten davon sprach, wußte das Gespräch, als Napoleon eine gnädige Miene annahm, auf die Königin Luise zu lenken. Als warmer Lobredner der erhabenen Tugenden seiner Monarchin habe er versucht, die böse Meinung oder den bösen Willen des Kaisers zu beschämen. – Darüber ruht ein Schleier, den niemand lüften wird. Nach der Rückkehr des Königspaares nach Berlin überreichte die Königin selbst Erman die Dekoration, welche der König ihm verliehen, mit der Anrede: »Mon chevalier!«

Der vor kurzem verstorbene Sohn des alten Erman, der auch wieder der alte Erman genannt ward, der berühmte Professor und Chemiker, schrieb in einem Briefe an eine Verwandte zur Zeit der Mobilmachung im Herbste 1850: »Ich denke jetzt oft an die Worte, die Napoleon an meinen Vater richtete: ›Votre reine m'a fait une guerre de petite fille et de petit garçon.‹« Schon sieben Jahre später waren die Kinder der Knaben zu den Männern der Katzbach und von Leipzig erwachsen!«

Eine andere Deputation berief später der zürnende Kaiser nach Paris. Es waren Männer des Gerichts, eines hohen Tribunals, das gewagt, ein Urteil zu fällen, welches dem Gewaltigen nicht gefiel. Sie hatten einen, der von Paris aus verfolgt ward, freigesprochen, und Napoleon wollte ihn verurteilt wissen. Napoleon donnerte sie an und schloß mit der Drohung, wenn der Fall wieder vorkäme: »Je vous fusillerai!« Der Präsident des Tribunals erwiderte dem Imperator: »Sire, vous fusillerez la loi.« Napoleon leitete gegen ihn ein Disziplinarverfahren ein. Der Mann des Rechtes, der die männliche Antwort gab, hieß Sethe.

Ob der Fall in unsere Geschichte gehört? – Er geht über sie hinaus. Wandel ward von Paris aus verfolgt, das preußische Gericht fand aber die Beweise nicht zur Überzeugung geführt. Auch in bezug auf seine Verbrechen in Berlin hatte Wandel gegen Fuchsius richtig vorausgesagt. Trotz der moralischen Überzeugung, welche das Gericht gewann, genügten die Beweise nicht, um gegen ihn die letzte Strafe zu diktieren. Er büßte, wie die Lupinus, für seine schweren Verbrechen nur durch eine lange Freiheitsstrafe. Beide überlebten sogar ihre Strafzeit.

Viele von den Personen, die wir hier vorgeführt, haben auch den Tag überlebt, mit dem wir unsere Geschichte beschließen, es wäre sogar möglich, daß sie noch heute leben. Wenn sie die Teilnahme unserer Leser sich erwarben, wäre es möglich, daß wir auch von ihren ferneren Schicksalen Kunde gäben; denn es ist viel vorgegangen seit fünfzig Jahren und heut.

 

Das war der traurigste Auszug, den je Berlin gesehn. Selbst der Jubel des Volks, als die Wagen der Königin vorm Schlosse hielten, um Wäsche und das Nötigste zu einer Reise ohne Ziel einzunehmen, war herzzerreißend für die hohe Frau. Sie hatte nicht Worte, nur Tränen. Dann die Straßen, die Tausende, die dem Wagen folgten, die zum letztenmal die geliebte, schöne, milde, bürgerfreundliche Königin sehen wollten. Auch da schrien viele, sie wollten ihr Gut und Blut lassen, man solle sie nur rufen. Was sollte Luise antworten! – »Auf Wiedersehn, auf Wiedersehn!« schluchzte es aus den Fenstern. Was konnte sie darauf antworten!

Die Fenster alle aufgerissen, überall Kopf an Kopf, Tücher wehten und Tücher trockneten die Augen. Sie konnte nicht mehr hinauswehen, sie lehnte sich erschöpft zurück. Und doch fielen ihr zwei stattliche Häuser auf, da war es still, die Fenster, auch hie und da die Laden, waren geschlossen. Die Blicke ihrer Begleiter sahen mißvergnügt dahin. Die milde Fürstin sagte: »Gewiß sehr Kranke!« – »Da wohnt der Geheimrat Bovillard«, sagte die Hofdame verlegen, »er soll in der Tat krank sein!« Die Königin schütterte zusammen und fragte nicht mehr, auch nicht, wer in dem andern Hause wohne. Der Adjutant zu seiten des Wagens flüsterte der Voß zu: »'s ist doch unglaublich vom Grafen St. Real. Er hat Angst, daß Napoleon es ihm übel vermerken könnte.« – »Aber ein nobler Kavalier sonst«, bemerkte die alte Gräfin. »Auch ein Kranker«, sagte sie zur Königin.

Da war die Straße gesperrt in der Nähe des Doms. Ein Hochzeitszug kam aus der Kirche. Die Leute lachten, die Straßenjugend war sogar laut; sie machten ihre Glossen zum Brautpaar. Auch die Kassenwagen hatten hier haltmachen müssen, und Walter war mit dem Geheimrat Alltag aus dem Wagen gesprungen, nicht aus Teilnahme für die Hochzeitsleute, sondern weil jeder den Augenblick nutzen wollte, um Abschied von einem Angehörigen zu nehmen.

Walter preßte seinen Vater an die Brust: »Ich suchte Sie vergebens in – Ihrem Hause. Aber was bedeutet das, die Siegel waren abgenommen?«

»Freude, mein Sohn, es können ja nicht alle trauern. Die Welt ist ein großes Kaufmannsspiel; wenn viele verlieren, müssen doch einige gewinnen, wo bliebe es sonst! Der Rotwein steigt, die Häfen werden gesperrt. Er ist schon gestiegen. Gestern bot man mir zehn Prozent über den Einkauf, heute zwanzig; wenn die Franzosen da sind, bieten sie fünfzig. Soll ich mich nicht freuen, daß die Franzosen da sind, oder soll ich weinen, daß unsre Junkeroffiziere Schläge bekommen haben? Dein Vater ist ein reicher Mann, er hat Kredit, Freunde überall, die ihm längst hätten helfen wollen, wenn sie nur gewußt, daß er in Not war. Nicht wahr, die Menschen sind doch besser, als wir denken, wir merken's nur nicht! Lebe wohl, mein Junge, behalt im Gedächtnis, daß der beste Rechner oft die größten Fehler macht. Wer weiß, wenn der Bonaparte mal 'ne Null zuviel schreibt! Drum rechne nicht zu viel, schone dein Leben, denn du mußt rechnen, daß du wieder eines reichen Mannes Sohn bist und sein Erbe; und Minchen Schlarbaum, vor der brauchst du dich nicht zu fürchten, wenn du wiederkommst, sie wird wohl den Herrn von Fuchsius heiraten. Drum bleibe meinethalben romantisch, hast recht, ich muß ja jetzt auch romantisch sein, auf jeden Fall aber bleibe – ein Patriot!«

»Platz!« rief es, der Hochzeitszug bewegte sich fort. Aber als der Geheimrat Lupinus mit der ihm eben angetrauten Geheimrätin nach dem Lustgarten schritt, rief es wieder: »Platz! Ihre Majestät die Königin!« Der Zug stiebte auseinander, als der Wagen sich langsam Platz machte. Charlotte hatte in der Kirche viel geweint vor Gemütsbewegung, und sie hatte Gründe: der Tod ihres Wachtmeisters, die unverhoffte Ehre, zu der er ihr endlich verhalf, und der Verdruß, daß sie keine Kutschen und Pferde erhalten können. Die waren alle requiriert zum Transport und für die Fliehenden. Ein Brautzug zu Fuß hatte ihr eine Entwürdigung der Ehe gedünkt. Was aber war das gegen ihr Gefühl, ihre Bestürzung, nein, es war ein Donnerschlag, als man ihr auf die Schulter stieß: »Zurück! Die Königin!« Die Königin hatte halten und warten müssen um Charlotten! – Sie sah das holdselige Gesicht der Königin, das verwundert über das Unerwartete zum Kutschenschlage herausblickte. Da war's um sie geschehen; es war zu viel. In ihrem Brautanzuge, der sehr kostbar war, aber doch vielleicht aus der Garderobe der seligen Frau Geheimrätin, war sie auf die Knie gestürzt, das schwere bauschige Damastkleid im Gemüll der Straße! »Gnade, allerdurchlauchtigste Königin, aber ich kann nicht dafür. Er hat mich geheiratet.« Als die Königin, die vielleicht ein Bittgesuch vermutete, den Kopf weiter vorbeugte, setzte der Geheimrat mit tiefer Verbeugung hinzu: »Majestät, nur wegen der allgemeinen Kalamität.«

Ob die Königin in ihren Schmerzen gelächelt, ob sie wirklich eine Bewegung mit der Hand gemacht, die für eine Segnung gelten konnte? Sie hatte sich schnell wieder in die Kutsche zurückgelehnt. Alles war das Werk des Augenblicks.

Walter zuckte plötzlich auf. Der Brautzug trennte ihn von jener Wagenreihe; aber er sah eine weibliche Gestalt in Trauer sich aus der dritten Kutsche hinauslehnen und dem alten Alltag einen Scheidekuß geben. Es war Adelheid. Ihre Augen trafen sich. »Eine junge Witwe, die Frau von Bovillard«, sagte jemand neben ihm. Der Wagen rollte den andern nach. Adelheid sah noch einmal hinaus und winkte mit dem Tuche; er wußte nicht, ob ihm oder ihrem Vater. Durch die Pappeln schwirrte ein Luftzug; ihm war es, als säusele er: »Auf Wiedersehen!«

»Rebutant!« sagte die Gräfin Voß, als die königlichen Wagen außer dem Tore waren. »Daß Ihro Majestät zuletzt ein solcher ridiküler Auftritt in Dero Residenz begegnen mußte. Man sieht, es ist mit aller Ordnung und Dehors dort aus.«

Man mußte Zeit gehabt haben, vielleicht, um sie zu zerstreuen, die Fürstin von den Verhältnissen zu unterrichten. Auch hatte man sie aufmerksam gemacht, daß der alte, wohlbekannte Kaufmann van Asten lächelnd an der Straße gestanden: »Er hätte doch wenigstens in solchem Augenblick seine Freude verbergen müssen.«

Die Königin hatte schweigend dagesessen. Jetzt öffnete sie die Lippen: »Weshalb, meine Freunde, weil wir traurig sind und Millionen mit uns, sollen alle trauern! Hat die Vorsehung es nicht so gefügt, daß, während es hier Nacht ist, jenseits der Erde die Sonne scheint, und wir wissen, daß, wenn es dort dunkelt, hier der Tag anbricht. Wenn wir alle in Finsternis und Trauer vergingen, wie sollte der Hoffnungsstrahl uns erleuchten! Freuen wir uns doch, daß nicht alle Herzen brechen, daß sie sogar noch lachen können, während wir blutige Tränen weinen. Die heute ausruhen, sind morgen wach. – Ich will es als eine gute Vorbedeutung nehmen, daß wir eine Hochzeit, Lachende und Frohe sahen beim Abschied aus Berlin. Wir werden es wiedersehn.«

Als sie, um von der Höhe einen letzten Scheideblick auf die Königstadt zu werfen, den Kopf aus dem Fenster steckte, teilte sich der Herbstnebel am Horizont, und die Sonne strahlte aus dem blauen Firmament. Sie horchte auf die Lerchen in der Luft. Ob sie das Lied verstand? Es war kein letzter Seufzer des Mohrenkönigs, als er sein »Wehe mir, Alhambra!« auf dem Berge sang, von dem er zum letztenmal sein geliebtes Granada sah.


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