Willibald Alexis
Ruhe ist die erste Bürgerpflicht
Willibald Alexis

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Dreizehntes Kapitel.
Die Schüler des Schauspielers.

Es war eine wunderbar bewegte Nacht vom 13. zum 14. Oktober. Die Sterne warfen kein Licht auf das tiefe Saaletal, und die Tausende von Lichtern, die auf Befehl an den Fenstern der Stadt Jena brannten, verbreiteten nur einen ungewissen Schimmer, der die Dunkelheit noch dunkler zeigte. Aber durch die Nacht rauschte und dröhnte es, wie wenn Dämonen einer Erdrevolution vorarbeiten. Durch die Krümmungen der Schlucht, soweit das Auge getragen hätte, das Ohr reichte, wogte und wallte es; es war kein Strom, der durch die Rippen der Erde bricht, keine Windsbraut, die die Wolken peitscht, keine Feuersbrunst, die über Dächerreihen prasselt, es war ein heimliches, dumpfes Wirken und Schaffen, wie eine Sprache, die keine artikulierten Töne findet. Wie die Riesenschlange die Erde umfaßt, in lautloser Wut und Kraft drückt sie ihre Weichen, und da steigen gepreßte Schmerzenstöne in die Luft, so durchbrach die Monotonie hier ein Schrei, dort ein Hallo, ein Zusammenstoß der Geschütze und Rüstwagen, ein Peitschenknallen, ein gräßlicher Fluch. Dann aber wieder tiefe Stille, man hörte nur den dumpfen, dröhnenden, ehernen Tritt der Tausende, die Erde stampfend, das Wiehern der Rosse, das wuchtige Rasseln der Kanonen.

Die Heeressäulen der Franzosen wälzten sich durch das tiefe Saaletal; wie die fabelhafte Heerschlange, die im Thüringer Walde sich zeigt, eine Kette, Mann und Roß, von den Höhen der Berge bis schon hinaus viele Meilen über Jena, da, wo die Unstrut in die Saale fällt. Die Thüringer, die das Weh aller großen Kriege, welche Deutschland zerfleischten, in ihren schönen Tälern, an ihren Berggeländen recht aufgesogen und eingesammelt, hatten solche Massen Krieger nie gesehen. Eine Völkerwanderung schien es.

Wo die Schlange sich in dem Lichtschein ringelte, blitzte es auf von den Bajonetten und Flintenläufen, den funkelnden Säbeln, von umbauschten Helmen. Da auf dem Markte preschten die Chasseure, Raum machend für den Gewaltigen, und die Glieder standen und präsentierten. Es war eine kurze, aber ernste Heeresschau. Tausende und Tausende wälzten sich durch die Tore weiter, aber Tausende und Tausende verschwanden aus der lichthellen Stadt, man wußte nicht, wohin. Keiner legte sich zur Ruhe, der Kaiser wachte! Für wieviel Tausende sollte es die letzte Nacht sein, eine schlaflose Todesnacht.

Steile Felsberge wipfeln sich über der Stadt; die Knaben üben sich im Spiel zu klettern, der Jenaer Bursch wagt in kecker Laune den gefährlichen graden Aufweg; wie wollen Mann und Roß und Kanonen zu uns herauf? scheinen die kahlen Berge höhnisch zu fragen. Aber ein siegreiches Kriegsheer hat für jede Mauer eine Leiter. Es ward eine Nacht voll Bewegung und Leben; Fackeln, brennende Kienscheite erhellten die Berge, die Axtschläge krachten durch das Tal. Es gibt keine noch so nackte und steile Höhe, die nicht durch Schlingungen und Wendungen zu gewinnen ist. Einige hat hier die Natur oder Vorzeit schon gebildet, der Berg am Mühltal heißt die Schnecke, andre kann ein geübter Blick suchen, und wo die Natur vorgearbeitet, hilft die Kunst nach. Napoleon hatte in jener Nacht auch die Hilfe der deutschen Wissenschaft. Ein gelehrter Militär in seiner Suite, welcher einst in Jena studiert, wies den Ingenieuren die Stege, die er im tollen Übermut der Jugend erklettert. Was man in einer Wette tut, um Kannen Bier, soll man's nicht, wo der Einsatz die Weltherrrschaft ist! Schaufeln und Äxte halfen nach; Geröll, in die Tiefen geschleudert, Baumstämme werden zu Brücken, und das Saaleufer von Jena war kein schneebedeckter Simplon. Wo die Pferde nicht konnten, zogen Menschenarme das Geschütz. Napoleon schmähte in dieser Nacht nicht auf die Ideologie der deutschen Studenten.

Lange ehe der erste Hahn krähte, war es vollbracht. Die Massen der kaiserlichen Garden und Linientruppen standen, ein dichtgedrängt Karree, auf dem Bergufer; und auf dem Landgrafenberg, dem höchsten Punkte, von dem das Auge eine weite Aussicht hat auf die Hochebene, die sich nach Weimar erstreckt, erschien der Feldherr in der Mitte der Seinen. Fackeln beleuchteten den grauen Mantelrock, das schöne, prüfende Auge des Siegers, während er längs der Reihen ritt und den Jubel, der ihn begrüßte und verdoppelt bei jeder neuen Reihe in die Luft schallte, mit dem Lüften seines Hutes erwiderte. Seine Lippen blieben verschlossen, die Augen sprachen um so beredter: es ist morgen ein größerer Tag denn je!

Der Jubel verhallte, er war in das Gebüsch geritten, um – zu ruhen, bis der Tag der Entscheidung anbrach. Auch seinen Kriegern war es jetzt vergönnt. Sie sanken hin, wo sie in Reih und Glied gestanden, die neben dem Pferde, die unter der Kanone; die kalte Nacht ihr Mantel. Hier brannten wenige Feuer, auch diese halb versteckt hinter Gebüsch und Erderhöhungen. Die Augen schlossen sich, ein allgemeines Schnarchen, ein Bild des Friedens wenige Stunden vor einem Gemälde des Todes, und welchem!

Nicht alle schliefen. Die dunklen Gestalten dort vorn, in ihre grauen Kapottmäntel gehüllt, das Gewehr in den Arm gedrückt, gegen einen Baum gelehnt, an einen Steinhaufen gekauert, hatten scharf das Aug geöffnet. Es verfolgte jeden Rauchwirbel, der über den Wachtfeuern des Feindes sich kräuselte, jeden Windzug, der in der Zeltleinwand spielte. Seit die Rotten und Glieder sich auf die Erde gestreckt, konnte man das Schauspiel frei übersehen. So weit das Auge in die Nacht reichte, Wachtfeuer und Zeltreihen. Durch sechs Stunden dehnte sich das Schlachtfeld der Preußen aus, hell, licht, alles in bequemer, hergebrachter Ordnung. Und hier auf engem Raum, um einen bewaldeten Berg zusammengedrängt, im Dunkel seiner Schatten und der Nacht, und am Rande eines Abgrunds hinter ihm der Feind. Die Wachtposten standen kaum auf Schußweite voneinander entfernt; aber es fiel kein Schuß, kein Alarmzeichen, kein versprengtes Pferd störte die Ruhe. Schien es doch ein stillschweigend Abkommen, sie bedurften beide der Ruhe, um morgen sich zu morden.

Nicht alle schliefen, auch von denen nicht, welchen es vergönnt war. Unter einer Eiche lag ein zum Tode Verurteilter. Der Offizier, der ihm zur Bewachung zugeordnet, hatte ihm doch höflich das Bund Heu, das für sein Pferd bestimmt, zum Kopfkissen gegeben, daß er, so bequem es ging, eines letzten Schlafes vor seinem letzten Tage sich erfreue. Aber Louis Bovillard konnte nicht schlafen, oder er hatte schon genug geschlafen; er richtete sich auf und stützte den Kopf auf seinem gesunden rechten Arm. Der linke war verwundet, ein Verband war darumgeschlungen. Vorgestern war er, als er, aus dem Saaletal aufgescheucht, über die Schwarzach setzen wollte, von französischen Jägern angerufen worden. Als er die Antwort schuldig blieb, hatten sie gefeuert. Am Arm verwundet, war er vom Pferde abgeschleudert und gefangen worden. Man hatte ihn nach Kahla gebracht und vor ein Kriegsgericht gestellt. Da er nichts sagen konnte oder wollte, als daß er in Aufträgen seiner Regierung nach Franken geschickt gewesen und, beim Rückwege unter die Scharen der Franzosen geraten, den Versuch gemacht, durch den Thüringer Wald sich nach dem Hauptquartier seines Königs durchzuschlagen, hatte das Gericht ihn für einen Spion erklärt und zum Strang verurteilt. Irgendein Zufall, der schnelle Abmarsch, hatte die Exekution verhindert; man hatte ihn mitgeschleppt bis Jena. Auch hier war dazu keine Zeit man hatte ihn auch auf den Berg mitgeschleppt. – Betrachtete er jetzt über sich den dürren Ast der Eiche, von dem er morgen herabschweben sollte, eine kalte Leiche? Oder suchte sein Auge durch den nebelgrau belegten Himmel nach einem Stern, an den er seine Hoffnung knüpfen wollte?

Es war keine Hoffnung, die noch mit diesem Leben liebäugelt; das sprach sein umflorter Blick.

Man hatte ihn immer menschlich, zuletzt mit chevaleresker Höflichkeit behandelt. Sein Wächter hatte ihm vorhin eine Zigarre angeboten, mit dem seltsamen Trost, wie in Spanien, woher er sie gebracht, die Sitte fordere, daß der Henker mit seinem Opfer eine Art Friedenspfeife raucht. »Der Tod ist ja der Frieden!« hatte der Gefangene erwidert.

Eine Schar Krähen, von der momentanen Stille getäuscht, hatte sich auf den Ästen des Baumes niedergelassen; auch sie schienen wie der kluge Feldherr das große Feld zu überschauen, wo morgen abend eine Tafel, und eine wie große für sie gedeckt sein sollte. Der Offizier, der, mit verschränkten Armen auf einem Sattel sitzend, die Augen auf einen Moment geschlossen, schien durch das Gekreisch der Tiere erweckt und sah mit Verwunderung die Stellung seines Gefangenen. Der Gedanke an einen Fluchtversuch konnte ihm nicht kommen:

»Schreckten böse Träume Sie auf, oder die geflügelten Bestien da?«

»Ich bin auf mein Schicksal gefaßt.«

»Um so mehr Aufforderung, die letzten Momente in Ruhe zu genießen. Nehmen Sie eine Morgenerfrischung.«

Louis lehnte mit Dank die ihm dargereichte Flasche ab: »Der Zustand meiner Wunde erlaubt es mir nicht.«

Der Kapitän lächelte: »Sie sind nicht Soldat. Die Wunde ist nur leicht.«

Bovillard verstand den Sinn der verhüllten Antwort: »Meine Wunde ist tiefer, Kapitän.«

»Und Ihr Auge stößt sich an dem dürren Ast über Ihnen. Hat Ihnen der Traum so bestimmt gesagt, daß Sie grade an dem die Sonne zum letztenmal aufgehen sehen werden?«

»Ich werde eine Sonne dort untergehen sehen.«

»Wenn ich Ihnen nun meine Meinung sagte, daß Sie dieser Prozedur überhoben sind! Die Reminiszenzen an die Pariser Laternen sind in der Armee nicht beliebt. Daß man es bis jetzt nicht exekutiert, was da in Kahla im ersten Aufbrausen diktiert ward, könnte Ihnen sagen, daß man sich die Hände mit der Strickarbeit nicht beschmutzen will. Es ist wahrscheinlich schon beschlossen, wenn die Sonne aufgeht, Sie hier unter dem Baume zu füsilieren. Sie gehen dann aus dieser Welt, wie vielleicht eine Viertelstunde später die, welche Ihnen den letzten Dienst erwiesen, vielleicht wie der, welcher jetzt die Ehre hat, die letzte Konversation mit Ihnen zu führen, gewiß wie Hunderte, welche Zeugen sind, daß Sie mutig sterben. Denn ich traue Ihnen das zu.«

»Ich freue mich auf den Tod.«

»Wenn diese Freude Ihnen nun vergällt würde«, sagte der Offizier nach einer Weile. »Ich spreche darin nur eine Vermutung aus. Aber es ist sonderbar, daß man Sie nicht unten abtat, daß man Ihnen und uns noch die Mühe machte, Sie diesen verteufelten Weg heraufzuschleppen. In welcher Absicht konnte das sein?«

»Vielleicht, um Nachrichten aus mir zu pressen, die meine Untertanenpflicht zu geben mir verbietet. Man irrt sich.«

«Pah!« rief der Offizier. »Aus Ihren Papieren, soweit sie von Ihnen nicht vernichtet sind, ersieht man, daß Sie auf einer Mission nach Franken waren. Sollten Sie vielleicht eine Freie Reichsstadt, einen Abt und Bischof oder gar die Bauern aufwiegeln? Was kommt es meinem Kaiser darauf an! Die Deutschen lassen sich nicht aufwiegeln. Oder sollten Sie belauschen, welchen Plan wir gemacht, durch den Thüringer Wald zu brechen? Unsre Tat kommt überall Ihren Spionen zuvor. Wir sind durchgebrochen, wir haben geschlagen.«

Der Gefangene schwieg, der andere fuhr nach einer Pause fort: »Kamerad, aus Vorsicht möchte ich Ihnen anraten, präparieren Sie sich noch für einige Momente auf das Leben. Sahen Sie nicht, daß der Kaiser einen eigentümlichen Blick auf Sie warf? Er wandte noch einmal sein Pferd, um Sie wieder anzusehen.«

»Wie der Tiger sein Opfer, ehe er es zerreißt. Das war sein Blick auf Leichenhaufen.«

»Die sieht er vor jeder Schlacht. Ob eine mehr oder weniger, darauf kommt es –«

»Dem Großhändler über Menschenleben freilich nicht an.«

»Sie haben den unnatürlichen Haß Ihrer Nation gegen ihn eingeimpft.«

»Nein!« antwortete Bovillard nach einigem Besinnen.

»Dann würden Sie sich selbst sagen: Wenn ein Fürst einen zum Tode Verurteilten vor sein Auge ließ, bedeutete es sonst Gnade.«

»Sonst!«

»Sie prätendieren doch nicht, daß Napoleon einen persönlichen Haß gegen Sie hat, daß er an Ihrer Angst sich weiden wollte?«

»Sowenig, als ich glaube, daß er den Herzog von Enghien persönlich haßte, auch nicht den Buchhändler Palm.«

»Sie nähren selbst einen bitteren Haß gegen den großen Mann. Das tut mir von Ihnen leid.«

»Gegen den großen Mann! Nein. Es gab Stunden, wo ich ihn bewunderte. Ja, in dieser meiner letzten darf ich es aussprechen, Momente, wo ich in ihm den neuen Heiland der modernen Weltordnung erblickte. Seitdem – genug!

»Und zweifeln Sie jetzt, daß sein Atem stark genug ist, die langen Zeltreihen da umzublasen?«

»Die sehe ich schon am Boden liegen.«

»Nun, und warum ist er Ihnen nicht mehr groß?«

»Weil er keine Größen neben sich erkennt –«

Louis verstummte. Was ein Sterbender spricht, hat für den Anspruch auf Achtung, der selbst den Tod vor Augen sieht.

»Besorgen Sie nicht, mich aufzubringen, Kamerad; was die Deutschen denken, fängt an, uns in Frankreich mehr zu interessieren, als Sie denken. Weil wir soviel handeln, haben wir jetzt nicht Zeit zum Denken. Sie sahen in ihm den Prometheus, warum nicht mehr?«

»Diese Sucht, alle die zu verleumden, die er fürchtet, und selbst die, welche ihm dienten, in der Meinung der Welt zu stürzen, um sie in sicherer Abhängigkeit von sich zu erhalten, das ist nicht das Kriterium einer großen Seele, nicht Heroendrang, kein prometheischer Funke, es ist nur der Abglanz der ewigen Gemeinheit, an der die Menschheit krank ist – todkrank – und diese Krankheit grassiert – furchtbar –«

»Was tut's!« warf der Franzos ein. »Die Welt will er besser machen, mit den Menschen überläßt er die Prozedur den Toren.«

»Und wie kann sie besser werden, wenn die Menschen den Bodensatz, die Schlacken nicht von sich werfen? Der edle Prinz, den ich bei Saalfeld stürzen sah, war ein Bewunderer Ihres Kaisers. Einst rief er aus: ›Ich erlaube ihm ja, uns zu vernichten, aber moralisch zu meuchelmorden, das empört.‹«

»Eine seltsame Konversation, Kamerad! Der zum Tode Verurteilte richtet seinen Richter. Ich hätte gewünscht, daß Sie heute wenigstens noch sein Bewunderer wären, daß man ihn darauf aufmerksam machen könnte –«

»Und daß er vor der Schlacht einen Komödienakt spielen, großmütig mit einer Tirade aus Racine oder Corneille mich begnadigen könnte!«

»Was kümmerte Sie die Posse, wenn sie den ernsten Schluß hätte, daß Sie mit dem Leben davonkämen, vielleicht gar mit der Freiheit. Nachher könnten sie darüber lachen, soviel Sie wollten. – Nun, im Ernst gesprochen – weiß man in seiner Suite, wer Sie sind –«

»Da weiß man sehr viel!«

»Der Sohn eines Mannes von Einfluß, der lange die französische Partei an Ihrem Hofe gehalten, vielleicht noch jetzt. Das hat die Gemüter sanft gestimmt, Gott weiß, welche Konjekturen die Herren daran knüpfen, genug – ich glaube, es käme nur auf Sie an –«

»Ich sterbe in der größten Tragödie, in der mein Vaterland untergeht.«

Die Augen des Verwundeten stierten mit einem Fieberglanze auf die Wachtfeuer im Tale, deren Flammen jetzt sichtlich niederbrannten. Der Offizier sah ihn verwundert an:

»Wir werden siegen, denn ich glaube fest an Napoleons Stern. Aber Sie, ein Preuße! Der kleine Sieg bei Saalfeld –«

»Ward zum entscheidenden, da Ihre Feldherren ihn benutzten, die Saale in reißender Schnelligkeit zu okkupieren. Sie haben das preußische Heer umflügelt, von den Marken und Sachsen, woher es seine Lebenssäfte erhält, abgeschnitten, Sie haben die Höhen des Flusses, die Übergangspunkte besetzt, Sie greifen es im Rücken an und drängen es mit Ihrer Übermacht in Positionen, wo Sie Herren sind. Und hier vor meinen Augen sah ich die Nacht, das Lager von Hochkirch wieder, sogar der verhängnisvolle Jahrestag ist's der Schlacht! Dort die weitzerstreuten Feuer der sorglos Gelagerten, ohne Schanzen, Verhau, natürliche Grenzen; hier zusammengekeilt auf der Höhe, welche das Plateau beherrscht, eine stärkere Kriegsmacht, die, beweglich und elastisch, wie ein Bergstrom hinabrauschend, die zerstreuten Feinde durchbrechen, trennen, aufrollen, vernichten muß. Und der größte Feldherr des Jahrhunderts gebietet über ein Heer, das eine Einheit ist. Ja, mein Herr, diese verdienen vernichtet zu werden, die Sie auf die steilen Wände klimmen ließen, ohne den Versuch nur, Sie daran zu hindern. Die mit Mann und Roß und vollem Geschütz müßig, zaudernd, unschlüssig zusehen konnten, wie Napoleon sich auf diesen Höhen formierte, die keinen Angriff wagten und Ihre Kolonnen nicht in den Abgrund stürzten – die sind schon geschlagen, vernichtet.«

Der Sprecher sank zurück und drückte sein Gesicht in das Heu. Mit gespannter Aufmerksamkeit hatte der Kapitän ihm zugehört. Mit Voranschickung eines französischen Fluches schloß er: »In Ihnen ist ein Soldat verloren!«

»Verloren – verloren!« murmelte Bovillard dumpf in sich.

»Warum, Kamerad? Der Mann ist's nie, wenn er sich nicht selbst verlorengibt.«

»Oder eine höhere Hand ihn schlug! – Da wieder!«

Er atmete krampfhaft auf. Die brennenden Augen stierten in den Morgennebel. Die Hand machte eine konvulsivische Bewegung, er war im Fieber: »Morgen, morgen hinab – mit meinem Vaterland!«

»Sehn Sie Geister?«

Der Kapitän fuhr mit Franzbranntwein über die eiskalte Stirn des Verwundeten. Er erholte sich, er hatte sich wieder aufgerichtet. Die Krähen flatterten, durch etwas erschreckt, schreiend in die Höhe. Die Morgenluft strich durch die Wipfel des Holzes. Es war ein Bedürfnis, sich selbst Luft zu machen, als Louis mit tonloser Stimme vor sich hinsprach:

»In Rudolstadt, am Tage vor seinem Tode, hatte der Prinz an der fürstlichen Tafel gespeist. Die Familie nahm ihn beim Aufbruch mit sich in ihre Gemächer; er winkte mir im Abgehen, daß ich auf ihn warte. Dort warf er sich ans Klavier und überließ sich seinen Phantasien. Er hat nie so schön gespielt. Ich stand allein in dem Saal, ein altertümlich Zimmer, es dunkelte. Ich lehnte mich an den Fensterpfeiler und sah den Wolken zu, die über den Horizont strichen. Ich schloß wohl die Augen. Das waren Töne, die nicht die Finger den Tasten entlockten, die Seele wogte in düstern und schmerzlich weichen Melodien; er schüttete sein Innerstes aus. Die Prinzessinnen weinten. Wolken, nichts als Wolkengetreibe mit blutroten Streifen. Da fuhr eine kalte Hand über meine Stirn, die Hand des Todes, und vom Druck öffneten sich meine Augen. Es gleitete an der Wand hin ein Schein, ein Licht, wie ich es nie gesehen – ein Roß in den Wolken, Pulverdampf, Staub. Es bäumte sich mit seinem Reiter – ein Blitzschlag oder ein Strahl, aus den Wolken niederzuckend – der Schädel spaltete – die Brust klaffte – der Reiter sank vom Pferde und es ward wieder Nacht. – Im selben Augenblicke schloß das Spiel am Klavier mit einer grellen Dissonanz, als sprängen die Saiten. Der Prinz, blasser als je, trat heraus und winkte mir, ihm zu folgen. Er blieb einsilbig. Als er mich entließ, sprach er dumpf: ›Ich habe meinen Tod gesehen –‹ Er hatte gesehen, was ich sah.«

»Und?«

»Er fiel am nächsten Tage.«

»Und Sie?«

»Ich bin kein Fortepianospieler, der auf den Wellen der Melodien sein Schicksal beschwört. Und doch, vorhin drückte wieder dieselbe kalte Hand auf meine Stirn, die Wolken teilten sich, und ich sah – ich sah nicht mehr, als ich schon längst gesehen, und ich sehe es wieder –«

Er richtete sich plötzlich auf, er stand aufrecht: »Lachen Sie doch! – Wenn Sie ein Schüler sind von Voltaire und Diderot, so müssen Sie mich auslachen – ich sah mich selbst.«

Der Kapitän lachte nicht, ihn fröstelte. Er sah eine Patrouille mit einem Ordonnanzoffizier heraneilen. Er reichte dem Gefangenen die Hand:

»So wünsche ich Ihnen wenigstens eines – vor Ihrer letzten Stunde einen letzten Sonnenblick.«

Bovillard schüttelte die dargereichte: »Das ist ein guter Wunsch. Das Scheiden von diesem Leben wird mir nicht schwer, ist's doch nur ein Rest, den ein Verschwender ließ – aber scheiden mit einer hellen Aussicht, von Harmonien umrauscht – und – es ist mir gewährt, ich sah ein Bild –«

Der Ordonnanzoffizier war herangetreten: »Der Gefangene soll schleunigst vor Seine Majestät den Kaiser gebracht werden.«

»Glück auf!« flüsterte der Kapitän ihm zu. »Das ist Ihr schönes Bild.«

In der kleinen Hütte eines Heidewärters stand der größte Mann des Jahrhunderts. Sie war so klein, daß der Adjutant, der die Feder führte, sich in den Winkel drücken mußte, um den Bewegungen des Kaisers Platz zu machen. Den Hut auf dem Kopfe, den Kapottrock über der Uniform, schritt er auf und ab, den Tubus in der behandschuhten Hand. Er diktierte, er sprach zu den Generalen, die im Halbkreis draußen standen, durch die offene Tür. Durch diesen vornehmen Wächterkreis war auch der Gefangene in die Hütte gebracht worden.

Der Kaiser hatte ihn offiziell nicht bemerkt; er diktierte weiter, er observierte mit dem Tubus durch das Fenster.

»Wenn die Sonne aufgeht, okkupieren am linken Flügel die Tirailleure das Kiefergebüsch!« kommandierte er zur Tür hinaus. Ein Adjutant flog fort. Jetzt, als er sich umwandte, bemerkte er den Eingebrachten offiziell.

»Ein Spion!«

»Ein Gefangener, Sire!«

Der Spion oder der Gefangene sank auch jetzt nicht auf die Knie, er zitterte nicht, er ertrug den kaiserlichen Blick fest, ruhig. Vier Augen, die sich begegneten, ohne zu zucken.

»Ihre Generale lassen die Spione hängen, ich lasse sie laufen.«

Der Gefangene stürzte dem Großmütigen nicht zu Füßen, er umfaßte nicht seine Knie, er küßte nicht seine Füße. Der Angriff war fehlgeschlagen. Sonderbar, und doch stimmten beide in ihren Empfindungen. Als der Kaiser jetzt wieder mit dem Tubus ans Fenster trat, glaubte der Adjutant ein Lächeln über seine Lippen schweben zu sehen. Auch über Bovillards Gesicht flog unwillkürlich eine Bewegung, die man so hätte deuten können.

Wieder stand im Vorübergehen, wie zufällig, der Imperator vor dem Gefangenen still:

»Ihr König hat den Krieg gegen mich angefangen; ich weiß nicht warum.«

»Ich gehöre nicht zu den Vertrauten Seiner Majestät, meines gnädigsten Königs, auch nicht zu seinen Räten«, entgegnete Bovillard.

»Meine Räte haben mir ein gedrucktes Papier aus Erfurt gezeigt. Da steht lauter Unsinn drin. Ich kann nicht glauben, daß der König von Preußen darum weiß.«

Der Gefangene schwieg. Der Kaiser winkte einigen Generalen und gab ihnen leise Befehle. Es lichtete sich vor der Hütte.

»Ihr König ist ein guter Mann«, fuhr der Cäsar fort, »aber er hat böse Räte. Sie sind von England bestochen. Er hört nicht die Wahrheit. Ich habe einen Brief von ihm erhalten, er schreibt, er will nicht Krieg. Ich will ihn auch nicht. Aber die Konspirationen meiner Feinde zwingen mich; sie sind auch seine Feinde, aller Welt Feinde. Sie leben von Intrigen, sie möchten in ihrem Ehrgeiz, ihrer Rachsucht die ganze Welt gegen mich aufwiegeln.«

Der Gefangene schwieg.

»Der Brief kam zu spät. Sagen Sie das Ihrem Könige. Das Blut, was vergossen wird, komme über ihre Häupter. Ich kenne sie – alle – alle!«

Der Cäsar mußte noch Zeit haben zum Zorn; aber die Gelegenheit war ungünstig. Wenn ein Gegner, der uns in Zorn bringen soll, schweigt, müssen wir uns selbst in Harnisch setzen.

»Sie waren bei dem Prinzen Louis«, fuhr er dazwischen, »ich meine in Saalfeld – Sie waren sein Freund.«

»Ich sah ihn fallen, den ritterlichsten Fürsten, das edelste Blut, was für eine heilige Sache geflossen ist.«

»Er war betrunken, als er ausritt.«

»Er war der größte Bewunderer des größten militärischen Genius dieser Zeit und sprach von Eurer Majestät mit der hohen Achtung, welche jeder große Mann einer andern Größe schuldig ist.«

Die Antwort kam dem Cäsar ungelegen. Indem er sein Auge nach einem Punkt draußen richtete, rief sein Blick einen Obristen heran. Er mochte etwas sehen, was dem Feldherrn nicht gefiel. Nachdem er dem Unwillen gegen den Offizier Luft gemacht, hatte er den Ton gefunden, in dem er gegen den Gefangenen einfiel:

»Diese Hitzköpfe sind es, diese Kriegspartei von hirnverbrannten Phantasten, diese Ideologen und Studenten! Der Prinz hat seinen Lohn weg. Viel zu gut! Wie, ist es erhört, hier schreibt mir der König von Preußen, er wünscht Frieden, er wünscht eine Zusammenkunft, eine Vermittelung. Dies hätte sich so leicht gemacht. Und während sein König das mir schreibt, verläßt der Tollkopf seinen Platz, greift in rasendem Ehrgeiz meine Truppen an. Gleichviel ihm, wieviel Tausende darum ihr Leben ließen. Wollte durch die Attacke zur Schlacht zwingen. Und das nennt er Gehorsam gegen seinen Monarchen. Unerhört!«

Es war die ernsteste Stunde in Louis Bovillards Leben. Dem größten Genius des Jahrhunderts stand er, der Unbedeutende, gegenüber, gewürdigt einer Unterhaltung, um die ihn Millionen beneidet hätten, und in der brennenden Krisis welchen Momentes! Und wie kam es, daß nicht Schauer von der Größe, nicht Haß und Bewunderung wie Fieberfrost und Hitze in ihm wechselten? Nein, er entsann sich des spöttischen Artikels einer englischen Zeitung, worin der angebliche Unterricht geschildert ward, den Talma dem neuen Kaiser im Ausdruck tragischer Affekte gebe. Er sah nicht den Gewaltigen vor sich, sondern den Schüler des Schauspielers.

»Sire«, entgegnete er, »es ist die Taktik der Preußen, einen gewissen Angriff nicht abzuwarten, sondern ihm zuvorzukommen.«

Seine Majestät der Kaiser mußte aus irgendeinem Grunde auch diese Antwort nicht gehört haben. Er fuhr im vorigen Tone, als wäre gar nicht dazwischen geredet, fort:

»Füsilieren ließe ich ihn, wäre ich Ihr König, wenn er noch lebte. Weiß Ihr König nicht, wie auf diesen Prinzen die Hoffnungen der preußischen Jakobiner gerichtet waren? Wer stand ihm dafür, daß sein Ehrgeiz nicht weiterging? Von politischer Freiheit sprach er, er klagte, daß ich die liberalen Ideen ersticke – ich kann Briefe des Toten vorlegen – eine Krone wäre ihm nicht zu hoch gewesen, wenn seine Freunde sie ihm boten. Kennt Ihr König diese Freunde? Hab ich umsonst die Jakobiner in Frankreich zertreten, damit sie in Preußen ihr Haupt erheben? Ihr König dauert mich. Er ist von Schwärmern und Jakobinern umgeben. Man will nicht sein Wohl, man will liberale Ideen. Ja, die will man!«

»Laßt die Toten ruhen!« sprach Bovillard.

»Und die Weiber auch. Mit toll gewordenen Frauen kämpfen müssen! Und man soll nicht in Harnisch geraten! – Ich weiß alles. Warum ist die Königin bei der Armee? – Was tut eine Frau, wo die Waffen entscheiden? Ihre alten Generale sind außer sich. Weiber im Train, Weiber im Hauptquartier, und eine Armee ist verloren. Ich sollte mich freuen. Nein, ich weiß, was sie soll. – Den König warmhalten. Sie ist im Dienste Englands, von Alexander beschwatzt; sie ist die Hoffnung oder die Puppe der Schwärmer für Deutschland. Sie hat ihn angetrieben, sie das Feuer geschürt, sie ist die –«

»Sire!« fuhr Bovillard auf, »muß ein Gefangener auf alles schweigen!«

Napoleons Schlachtroß ward vorgeführt.

»Gebt ihm die Briefe!« rief der Kaiser, »und das schnellste Pferd aus meinem Stall.«

Das Roß stampfte. Der Kaiser war so dicht an Bovillard getreten, daß die Gesichter sich fast berührten.

»Junger Mann, die Sterne gehen ihren Lauf trotz der Weiberlaunen und wehe, wenn in das Rad der Weltgeschichte eine Frauenhand greift. – Ich biete dem Könige von Preußen noch einmal meine Hand. Fliegen Sie mit dem Schreiben in sein Hauptquartier. Keinen Moment Rast, das Leben von Hunderttausend hängt an einem Haar. Dringen Sie zu ihm durch, selbst übergeben Sie ihm die Briefe, denn er ist von Verrätern umringt. Ich will den Angriff von Saalfeld, ich will alles vergessen, aber keine Weiber zwischen uns. Die Königin muß fort. Sie bringen ihm, Ihrem Vaterlande den Frieden, junger Mann. Rasch, ohne sich umzusehen, ohne zu atmen, wie der Blitz!«

Das Schlachtroß bäumte sich unter dem Imperator. Der erste Kanonenschuß tönte dumpf aus der Tiefe, und in dem Augenblick ging die Sonne auf, eine unförmliche, blutrot dunstende Kugel, den Herbstnebel färbend, der nicht weichen wollte. Auch des Imperators Haupt war einen Augenblick von ihr angeglüht, der Jubelruf seiner Garden schwellte in die Luft. In Louis Bovillard rief eine Stimme: »Dieser Sieger bringt der Welt nicht das Heil, er bringt ihr den Sieg der Lüge.«

Kaum daß der Kaiser fortgesprengt, stand der schönste andalusische Renner vor der Tür, man hob ihn hinauf, vornehme Offiziere waren dabei geschäftig, man empfahl ihm dringend Eile, die Richtung, die er zu halten habe, rechts am linken Saaleufer fort, damit er aus dem Bereich der scharmutzierenden Parteigänger komme, dann müsse er nordwestlich nach der Gegend zwischen Weimar und Auerstedt sich halten, rasch direkt nach des Königs Hauptquartier.

Der Kapitän geleitete ihn wieder bis zu den äußersten Vorposten. Las er die Fragen und Zweifel auf der Stirn des Entlassenen? Er flüsterte ihm zu: »Ein Emissär Napoleons, ein Herr von Montesquieu, ist, wie ich eben hörte, von preußischen Parteigängern gefangen. Ihm könnte das Schicksal drohen, dem Sie entgingen. Die Großmut ist vielleicht das Fazit einer Rechnung. Gedenken Sie daran!«

Das konnte es nicht sein! Auf der Höhe hielt er einen Moment, um Atem zu schöpfen. Der mit Millionen Menschenleben spielte, konnte zu einem solchen Spiel in solchem Augenblick sich nicht gedrängt fühlen – um einen seiner Offiziere! Da hörten die einzelnen Signalschüsse auf, das Knattern der Tirailleure verstummte vor dem Krachen der Geschützsalven, es donnerte an den Bergen, und die Erde unter ihm zitterte. Jetzt trieb ein frischer Morgenwind die Nebel auseinander. In dem Rahmen breitete sich zu seinen Füßen ein sonnenerhelltes Bild – die Schlacht von Jena.

Und in ihm riß auch ein Vorhang, es ward heller und heller: dort will er den Fürsten von Hohenlohe schlagen, und er wird vernichtet, wenn das Hauptheer ihm nicht zeitig zu Hilfe eilt. Den König soll der Brief zweifelhaft machen, er soll, der Sirenenstimme der Friedenslockung horchend, den Moment versäumen, er soll zaudern, um selbst vernichtet zu sein!

Louis Bovillard fühlte an sein Herz. Es schlug nicht, wie es sollte, er fühlte seinen Puls, er konnte die Schläge nicht zählen, er drückte die Hand an seine kalte Stirn. Ein tiefbanger Seufzer stieg aus seiner Brust: »Oh du Lenker des Weltalls! – nur bis dahin – warum so groß die Mission, wenn der Atem so kurz ist. Kraft nur – dann – dann –«

Der Andalusier unter ihm scharrte und schnaufte in frischer Morgenjugendlust. »Dank für das Geschenk!« rief Louis. »Trage mich, mein Segler, durch die Lüfte. Du und ich, wir mögen in Staub sinken, wenn der Atem nur ausreicht zu einem Wort – ein letztes Wort!«


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