Willibald Alexis
Ruhe ist die erste Bürgerpflicht
Willibald Alexis

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Elftes Kapitel.
Von Magistratspersonen und ungeratenen Kindern.

Die Geheimrätin Lupinus war am Rathaus vorgefahren und hatte in die Hände des Magistrats eine Gabe von dreihundert Talern als milden Beitrag zu den Kriegskosten des Staates niedergelegt. Der Magistrat hatte es für nötig erachtet, durch eine konfidentielle Deputation der Geheimrätin für diesen Beweis einer außerordentlichen patriotischen Gesinnung seinen besondern Dank abzustatten. Sie hatte die Herren Büsching, Köls und Gerresheim mit Beschämung, wie sie sagte, empfangen und ihre Verwunderung nicht zurückhalten können über einen so aufsehenerregenden Schritt und um eine Handlung, welche nach ihrer Meinung die Pflicht von jedem fordere.

»Aber Sie waren die erste in Berlin, die das Beispiel gab«, hatte Büsching erwidert, »und vor diesem Beispiel verneigen wir uns.«

»So wünsche ich, meine hochgeehrten Herren, daß das Beispiel von den Nachfolgern verdunkelt und meine obskure Person und die Kleinigkeit, die ich mitbrachte, bald vergessen werde über die großen Opfer, die andere, Reichere, auf dem Altar des Vaterlandes niederlegen.«

»Eigentlich hatte sie recht«, sagte Gerresheim, als die Herren wieder in den Wagen stiegen. »Das schickt sich nicht für eine Korporation wie der Magistrat von Berlin.«

»Was schickt sich denn, und was schickt sich nicht«, sagte Köls, »wenn das Vaterland in Gefahr ist! Wir mußten aus den Provinzen täglich in den Zeitungen lesen, daß der und der Edelmann seine Rekruten ausstattet und wertvolle Lieferungen verspricht, während in der Hauptstadt nicht das geringste geschehen ist. Da war es Pflicht, den ersten besten, der mit einer ansehnlichen Offerte hervortrat, zur Stimulation für die andern zu honorieren.«

»Dies ist auch meine Ansicht«, schloß Büsching. »Es ist mit unserm Gemeindewesen überhaupt nicht, wie es sollte. Da muß man manches dem einzelnen überlassen, was eigentlich nicht an ihm wäre.«

»Unser Räderwerk ist etwas verrostet, das ist richtig«, stimmte Gerresheim bei. Jener fuhr fort:

»Können wir als Korporation etwas tun, um auf das Staatswohl einzuwirken? Weder nach oben noch nach unten haben wir Einfluß.«

»Ist auch nicht unseres Amtes, Herr Kollege«, sagte Köls. »Und ich sollte meinen, es macht uns schon genug zu schaffen.«

»Papierstöße in Aktenberge zu verarbeiten! Meines Erachtens wäre in einem wohlgegliederten Staate die Aufgabe des Magistrats einer Stadt wie Berlin eine andre, als im Schlendrian zu vegetieren.«

»Liebster, bester Kollege, keine Neuerungen! Haben wir's nicht gesehen, wohin sie führen. Wenn erst distinguierte Männer im Amt einen Penchant dazubekommen –«

»Neuerungen!« fuhr Büsching dazwischen, »was so uralt ist, als es Städte in Deutschland gab. Der Bonaparte freilich macht in seinem neuen Reiche seine Bürgermeister zu Domestiken und den Magistrat zu Pagoden; bei uns aber ist doch wenigstens noch die Fiktion, daß wir aus der Bürgerschaft hervorgegangen, daß wir ihre Interessen vertreten, oder, wie man jetzt sagt, sie repräsentieren. Traurig genug, daß es nur noch Fiktion ist.«

»Aber, liebster Büsching, warum denn traurig!«

»Es geht ja alles ganz gut so.«

»Jetzt meine Herren Kollegen, geht es zur Not noch. Aber wenn Gefahr kommt, wie denn dann? Werden seine Präfekten und Maires den Napoleon halten, wenn über Nacht eine andere Gewalt sich zum Herrn aufwirft! Sind wir dem Staat eine Stütze, wenn ein Unglück hereinbrechen sollte? Wir gingen nicht aus der Bürgerschaft hervor, wir haben keine Wurzel in ihr. Und wenn ein Fremder kommt, uns einsperrt, fortjagt, steht sie ratlos da, ohne Zusammenhang, Organismus, ohne Willen und Kraft auch nur zum Notwendigsten. Ja, wären wir wie in England.«

»Keine Neuerungen!« unterbrachen ihn beide Kollegen wie im Chorus, mit einer Bewegung, als wollten sie sich die Ohren zuhalten. »Und Neuerungen in diesem gefährlichen Augenblick, liebster Kollege Büsching!«

»Und wann denn!« sagte der Kollege mit Ruhe. »Weiß denn einer von uns, was uns die nächste Zeit bringt! Jetzt ziehen wir ins Feld, vielleicht auch nicht; aber beendet, meine werten Kollegen, ist, auch im glücklichsten Falle, damit die Sache nicht. Gesetzt, was ich aus Herzensgrunde wünsche und glaube, wir schlagen ihn; damit haben wir ihn nicht überwunden. Dies Frankreich hat in seinem größten Elend, und immer im Augenblick, wo wir es für ganz vernichtet hielten, wunderbar neue Kräfte aus sich selbst entwickelt. Es kommt keiner gegen es auf, wenn er nicht auch Neues in sich findet, sich aus sich selbst herausspinnt.«

»Aber der Bürger, liebster Büsching, was soll der damit! Wenn der erst suchen soll, was dem Staate not tut, ist die Verwirrung voll.«

»Er weiß sich in den kleinsten, eigenen Angelegenheiten nicht zu helfen«, setzte der andere hinzu. »Ein Spiel in den Händen der Advokaten, möchte er doch noch in der einfachsten Schuld- oder Hypothekensache von jedem Rat haben. Und er sollte Rat geben!«

»Es ist schlimm, daß es so ist, meine Herrn, aber noch schlimmer, daß, während er von jedem Rat will, er unserm am wenigsten traut. Oder wollen Sie sich darüber täuschen, daß im Volke der Glaube ist, wir betrügen es, wenn wir Erbschaften regulieren, Inventare aufnehmen, Sporteln liquidieren, ja leider selbst, wenn wir Recht sprechen?«

»Das Volk ist einmal dumm, Kollege!«

»Ist es dazu vom Schöpfer destiniert! Oder haben wir es allmählich dumm gemacht, weil wir ihm nicht den geringsten Einblick in unsern Mechanismus gewährten? Es kann in unsere Akten nicht sehen, und wenn, verstünde es nicht einmal unsere Sprache.«

»Friedrich hat etwas davon im Sinn gehabt, was Sie meinen«, erwiderte Köls. »Ihm und seinen Räten schwebte der Gedanke vor, daß die Justiz Allgemeingut werden sollte; daher die wunderlichen Verordnungen, wie lange nur ein Prozeß dauern sollte, die Beschränkung des Einflusses der Advokaten, der indirekte Zwang, daß jeder eigentlich seinen Prozeß selbst führen müsse. Wohin hat uns das geführt? Nur auf Widersprüche; denn es war nicht auszuführen, weil das Volk keinen Sinn dafür hatte, weil es nichts davon verstand, kurz, weil es nun einmal zu dumm ist.«

»Weil« – sagte Büsching und hielt inne –, »doch das führt uns hier zu weit. Meine Herren Kollegen, fühlen Sie denn nicht, daß es einer innigern, festern Gliederung zwischen oben und unten, zwischen allen Teilen, Gliedern und Ständen bedarf, um uns fest in uns selbst zu machen? Wenn ein Feind in England einfiele und London nähme, wäre England nicht verloren, weil in jeder Grafschaft ein Teil des Ganzen lebt, der selbst Lebenskraft hat, weil die Gemeindevorstände aus der Gemeinde hervorgingen, mit ihr zusammenhängen, mit ihr, auf sie gestützt, handeln können. Da rettet sich ein Teil des Staates, der Nation, in die Städte, Grafschaften, von dort aus erhebt sich England wieder. Was aber wäre Preußen, wenn Berlin genommen ist und der Sitz der Regierung, ehe man die Staatsmaschine retten konnte, mit allem Darum und Daran, dem Feinde in die Hände fiel? Wo sollte sich ein Widerstand organisieren, wo eine legale Autorität auftreten, wenn ein Schlag den Knoten zerhieb, in dem alle Fäden zusammenliefen, und sie hängen nun lose da. Die einzelnen möchten zwar gern, und sie sind bieder, gut, entschlossen; aber wo ist ein Mann, ein Name, eine Institution, welche eine Kraft, einen Anspruch hat, die einzelnen um sich zu sammeln? Wir haben keine Aristokratie, keine Magistrate, wie sie sein sollten, gar keine Korporationen mit Einfluß hinter sich, mit Untergebenen, die ihren Führern, wenn nicht aus Liebe folgen, doch aus Interesse sich zu ihnen scharen. Wenn der Schlag fiele, sind wir zersplittert, eine zerstreute Herde, von der jeder Nachbar, jeder Räuber, was ihm bequem liegt, an sich risse.«

»Wir haben unsre Armee«, sagte Köls.

»Und die Armee hat Disziplin«, setzte Gerresheim hinzu. »Mit Disziplin läßt sich alles durchsetzen.«

»Auch der Opfermut, der festhält an einer verlorenen Sache? – Lassen Sie uns abbrechen, meine Kollegen, unsre Ansichten finden keine Vereinigung. Wir haben keine Korporationen, Stände, keine Gliederung im Staate, aber wir haben Menschen, gute, tüchtige Menschen, vielleicht Charaktere, die nur jetzt verborgen sind, und die Not weckt noch mehr zur rechten Stunde. Das hoffen wir doch alle, und lassen Sie uns an diesem Glauben festhalten. Darum –«

»Wollen wir auch das Scherflein der Witwe nicht verschmähen; die dreihundert Taler der Lupinus sind uns aber lieber«, fiel Köls ein.

»Sie ist ein wenig fanatisch in ihrem Patriotismus«, sagte Büsching.

»Und –« setzte Gerresheim hinzu und schwieg plötzlich, bis er die Bemerkung hinwarf: »Die Frau Geheimrätin admirierte vor kurzem noch den Bonaparte mit einiger Ostentation; da ist das Changement doch auffällig.«

Die drei Herren sahen sich an und mußten sich verstehen.

»Es ist doch etwas Eigenes mit der Weibernatur«, sagte Köls nachdenklich. »Wie weit sind sie uns oft vorauf, ich möchte sagen, wie der Blitz, der durch die Nacht leuchtet, und wir sehen den Weg vor uns. Aber dann, wenn wir den Weg einschlagen wollen, haben sie sich plötzlich verloren, und wir haben Mühe, sie mitzuziehen.«

»Sie tut's auch jetzt nur, um von sich reden zu machen«, sprach Büsching. »Darüber hab ich mich keinen Augenblick getäuscht. Aber das dürfen wir um Gottes willen nicht sagen. Hingenommen das Gold und einen Heiligenschein daraus geschlagen. Zum Zweck ist's dasselbe.«

»Es wird mit dem Schein manches Heiligen nicht besser sein«, assentierte Köls. »Was meinen Sie, Gerresheim?«

»Weiß der Geier, in der Frau ist etwas, was mich anzieht und abstößt. Als ob ihr Auge mich aushöhlen wollte, und ich fühle mich gedrungen, dann immer tiefer hineinzugehen, um sie wieder auszuhöhlen.«

»Ei, ei, Gerresheim, doch nicht wieder verliebt?«

»Das wäre denn nur wie der Inquirent in seinen Inkulpaten, den er zum Geständnis bringen will. Ich kann die Vorstellung nicht loswerden, daß ich die Frau einmal vor mir sitzen hätte am grünen Tisch, in einem Glorienschein von erhabener Tugend und philosophischer Resignation. Da steht mir denn der kalte Schweiß auf der Stirn, wie sie auf meine Fragen antwortet. Sie redet sich aus und in mich rein, daß ich an mir irre werde. Glauben Sie mir, das könnte die Frau in solcher Lage, mit ihrem züngelnden Blicke, voll Sanftmut und doch in die Seele bohrend, mit ihrem feinen Lächeln, mit der unendlichen Milde, die um ihre blassen Totenlippen schwebt. Sie bedauert mich, sich, die ganze Welt, und Gott weiß, was hinter dem Bedauern lauert, Hohn und Haß, Gift und Tod.«

»Gerresheim, ich bitte Sie, ein Mann wie Sie, ein Richter, Kriminalist, und solche Phantasien!«

»Ich weiß es, es ist unrecht, aber wer kann dafür! Sie ist die reputabelste Frau in Berlin, und doch –«

»Was steckt dahinter?«

»Nichts weiter, Büsching, als die Warnung, daß man die Leute nicht zu klug werden lassen darf. Stellen Sie sich das Elend vor, wenn jeder Dieb so fein, gewitzigt, gelehrt und gebildet wäre wie die Geheimrätin Lupinus! Da möchte der Teufel Richter bleiben.«

Während dieses Gesprächs stand diejenige, von welcher die Rede war, am Fenster und hatte der fortrollenden Kutsche nachgesehen. Das Fenster war geschlossen, und die Scheiben belegten sich vom Hauche ihres Mundes. Sie konnte nichts mehr sehen, und nach den Gesetzen der Natur, die wir kennen, nichts hören als das Fortrollen der Räder. Wer aber ihr Physiognomiespiel beobachtet, hätte glauben mögen, daß sie das Gespräch im Wagen angehört. In ihren Augen stand geschrieben: ich weiß, was ihr über mich denkt! Ich kann's nicht ändern, aber ihr könnt und sollt mich nicht anders machen, als ich bin. Dann flog ein eigentümliches Lächeln über die Lippen, welche die Magistratsperson so treffend gemalt hatte.

»Der Herr Legationsrat von Wandel lassen ihren Respekt vermelden!« sprach der eintretende Diener, nachdem ein Zug an der Türglocke sie aus ihren Gedanken aufgeschreckt.

»Ich lasse dem Herrn Legationsrat für seine unerwartete Attention danken.«

Der Bediente ging aber noch nicht, obgleich die Dienerschaft gewöhnt worden zu schweigen, wenn die Geheimrätin mit einer ihrer scharfen Bemerkungen eine Rede abschnitt. Es hatte sich manches in dem Hause verändert, die Geheimrätin schnitt viel öfter, rascher die Reden ab: sie sprach am liebsten mit sich, und man sah ihr an, daß sie in der Unterhaltung dem mit ihr Redenden nur äußerlich Aufmerksamkeit schenkte, während ihre Gedanken andre Wege gingen.

»Ist's noch etwas, Heinrich?« fragte sie, als der Bediente nicht ging. Er hieß eigentlich Johann, hatte aber beim Eintritt in den Dienst diesen Namen ablegen müssen.

»Herr Legationsrat –« sagte der Bediente und stockte vor dem Blick der Geheimrätin.

»Hat mir seinen Respekt durch seinen Bedienten vermelden lassen«, wiederholte sie rasch. »Weiter hat Er mir doch nichts zu sagen?«

»Sie lassen der Frau Geheimrätin sagen, Frau Geheimrätin möchten doch heute abend ja nicht versäumen, in die Komödie zu kommen. Es wäre nämlich was los. Es wäre nicht um der Komödianten willen, sagte der Mensch, sondern weil die Herren Garde du Corps und von den Gendarmen die Logen gemietet, und man wüßte nicht, was draus werden könnte. Frau Geheimrätin möchten aber ja nichts zu andern von sagen, denn es sollte es nicht jeder wissen.«

»Das sagte Ihm alles der Mensch? Vermutlich schrie er es Ihm von der Treppe zu?«

»Nein, Frau Geheimrätin, der Mensch des Herrn Legationsrats waren nur sehr eilig, weil er's noch vielen ansagen sollte. Sie standen alle auf einer Liste. Darum –«

Die Geheimrätin schnitt diesmal das Gespräch nicht durch ein Wort, sondern durch einen Blick ab. Aber der Blick war schärfer als das Wort.

Sie hatte sich auf das Kanapee gelehnt, aber sie saß nicht allein. Einst hatte sie aufgeschrien, als sie kleine Schlangen sah, die über das Sofa ihres Arztes züngelten und, um seinen Arm sich ringelnd, ihm an den Hals glitten. »Fürchten Sie sich nicht, Frau Geheimrätin«, hatte Heim gerufen, ohne Anstalt zu machen, der fast Ohnmächtigen beizuspringen. »Die Schlangen tun niemand was. Es hat aber andre, die zischen und sind giftig, und niemand sieht sie!« Diese Schlangen schienen jetzt neben ihr auf den Kissen zu spielen, um ihren Hals sich zu schlingen und durch ihre immer engere Umklammerung die scheu schielenden Blicke ihrer Augen zu erpressen. Fuhren sie auch zuweilen mit einem nagenden Stich in ihr Herz, so kam wohl daher das plötzliche Aufzucken, das krampfhafte Atmen, das sie sich selbst zu verbergen suchte, indem sie die Hand unwillkürlich an die Brust führte.

»Er hat recht«, sagte sie, mit Anstrengung sich wieder vom Sofa erhebend, während sie sich doch noch an die Lehne hielt. Aber dann zwang sie sich mit aller Muskelkraft, die dem starken Willen zu Gebote steht, aufrecht zu stehen. »Er hat recht«, wiederholte sie. »Das Leben ist und bleibt ein Krieg aller gegen alle, und nur der steht fest, der sich zuletzt auf niemand verläßt als auf sich. – Auf niemand« – setzte sie mit Nachdruck hinzu. »Denn der beste Bundesgenosse wird der gefährlichste Feind, wenn die Bande zerrissen sind, die ihn an uns fesselten. Und was sind denn diese Bande, wenn wir sie näher betrachten? Der Leim, der die spröden Fäden schmeidigt und bindet, ist das Interesse, weiter nichts! Die süßeste Liebe, der eifrigste Wissensdrang, wenn wir sie zersetzen, es bleibt nur das Gelüste, das allerfeinste, nach Genuß und Vorteil. Die Vaterlandsliebe, was ist sie, auf ihre Grundstoffe zerlegt? Ein grober Egoismus! Und dieser Patriotismus, den wir uns vorlügen, jeder sich selbst, in noch stärkerer Dosis dem andern, und der gibt ihn uns wieder zurück, aufgeschwollen, bis das grauenhafte Phantom fertig ist, das Wolkenbild, das unsre Sinne verwirrt, unsre Vernunft uns raubt. Und was bleibt dann? –«

In der Kinderstube war es laut geworden, keine ungewöhnliche Erscheinung. Die Kinder verübten, wenn sie kaum sich etwas erholt, allerhand Schabernack. Sie neckten, zankten, schlugen sich, und es war mehr als einmal passiert, daß sie in unbewachten Augenblicken wieder einen frischen Trunk aus dem Quell des Übels getan, von dem sie geheilt werden sollten.

Charlotte kam aus der Stube, die Enveloppe umgetan zum Fortgehen. Sie weinte.

»Haben die Kinder Sie wieder nicht in Ruhe gelassen?«

»Ach, Frau Geheimrätin, wenn da der liebe Gott nicht hilft, dann weiß ich nicht, wer helfen soll.«

»Warum hilft Sie sich nicht selbst?«

»Ich knuffe sie auch, Frau Geheimrätin, aber Wechselbälger sind gar nicht so schlimm. Nein, seit sie doch in dem Hause sind! Ein vernünftiger Mensch soll doch auch nicht in Rage kommen, denn wer in Rage ist, hat keine Vernunft, ja sonst – ich frage mich immer, womit hat's die liebe gute Frau Geheimrätin verdient, nämlich die selige, die hatte ja ein Herz wie Zucker, das konnte keine Fliege leiden sehn, und der Fritz, wenn er den Maikäfern die Flügel ausreißt, das ist sein größtes Pläsier. Malwinchen ist stiller, aber die hat's dick hinter den Ohren. Glauben Sie mir's, Frau Geheimrätin, die war's, die hat die Medizinpulle in die Mehlspeise gegossen. Oh Gott, ich kenne sie ja; der Fritz, ja mit reingepolkt hat er in die Speise, aber Fritz ist viel zu wild; der hätte nicht nachher die Pelle, mit Respekt zu sagen, so wieder rübergepellt, daß man's nicht merken tat. Und daß so was in einem so reputierlichen Hause vorkommen mußte! Meine Cousine, die Frau Hoflackier, als sie's hörte, schlug die Hände über dem Kopf zusammen und sagte: ›Charlotte, du mein Jemine! die Leute hätten ja denken können, sie wären vergiftet und vergeben worden.‹«

»Das ist ein albernes Gerede.«

»Das sagte ich ja auch. Erstens, ›das waren vornehme Gäste, und die nennt man nicht Leute, Cousine‹. Nun, Sie müssen wissen, meine Cousine ist jetzt eine sehr respektable Frau, aber sie hat nicht die Bildung gehabt. Da muß man ihr schon etwas zugute halten. Aber dann sagte ich ihr: ›Aber, Cousine, wie kannst du so was nur denken! Gemeine Leute sind rachsüchtig, und da hat schon mancher seiner Frau auf den Kopf geschlagen, und in den Büchern steht's von mancher Frau, die ihren Mann vergeben hat in der Suppe, daß sie ihn unter die Erde kriegte, und hinter der Tür stand schon ein anderer. Aber unter honetten Leuten kommt so was nicht vor, die wissen sich anders zu helfen. Und wenn's einmal, so macht man auch nicht so viel Geschrei davon, denn da wär's ja getan um allen Respekt und die Moralität.‹ Nein, alles, was recht ist, und mein guter Herr, der Geheimrat, in der Seele hat er mir weh getan, daß er dabeisein mußte.«

»Er machte einen Spaß daraus.«

»Das ist schon richtig, Frau Geheimrätin. Aber glauben Sie, was ein Vaterherz empfinden muß, das ist auch was; man sagt's nur nicht jedem. Ach, von meinem Herrn Geheimrat könnte ich Ihnen vieles sagen. Spaßig ja, aber weh tut doch weh. Und die Schokoladenmehlspeise ißt er gerade so gern, und nun muß es rauskommen, seine eigenen Kinder sind's, und in dem Hause, wo sie so viel Liebes und Gutes genossen haben! Und vor solcher großen Gesellschaft, und gerade, als man auf die Gesundheit trinken wollte von den hohen Herrschaften. Und die Gesichter!«

»Sie war ja nicht dabei!«

»Aber als hätt ich's leibhaftig gesehen! Und ich weiß alles. Vor mir bleibt nichts versteckt, das glauben Sie nur. Wenn einer zwinkert mit den Augen und so zusammenfährt, dann weiß ich, was die Glocke geschlagen hat. Ich könnte da manches sagen, was ich von meinem Herrn Geheimrat weiß; na, da schweigen wir von, denn es schickt sich nicht. Aber wie ich kam und Malwinchen mir um den Hals fiel, nun wußte ich's, warum sie mit den Augen zwinkerte.«

»Wie war nur das Kind in die Küche gekommen?«

»Du lieber Gott, sie hat einen guten Geruch. Da ging sie denn der Mamsell Adelheidchen so lange um den Bart – das heißt, sie streichelte mit ihren Händen die blonden Locken, oh, Malwinchen ist ein Filou, und da müßte Mamsell Adelheid früher aufstehen, wenn sie's merken wollte.«

»Adelheid hat nichts davon gesagt.«

»Ach, Frau Geheimrätin, wie wird man Ihnen denn alles sagen, was in Ihrem Hause passiert! Sie haben auch gesagt, der Herr Geheimrat soll Kaffee haben vom zweiten Aufguß, weil's ihn echauffiert; Mamsell Adelheidchen aber läßt ihm vom ersten geben, weil sie gemerkt hat, daß es ihm besser schmeckt. Und der Herr Geheimrat, der nichts merkt, merkt's recht gut und ist still zu. Warum sollte er's auch laut machen; er denkt, dann kann's anders werden. Es geht in jedem Hauswesen so zu, und wer der Klügste ist, soll sich nicht einbilden, daß nicht einer ist, der ihm auf die Sprünge kommt. Jedes Schloß hat ein Loch und jede Mauer eine Ritze, man sieht sie nur nicht, und wer noch so verdämelt aussieht, zuweilen schießt's in ihn. Das sage ich meinem Geheimrat auch. Will sich manchmal um alles kümmern, meine Marktrechnungen nachrechnen. ›Lieber Herr Geheimrat‹, sage ich ihm, ›wenn ich Sie übers Ohr hauen wollte, dann wären Sie der letzte, der's merkt.‹ Er hat auch gemerkt, daß es Malwinchen gewesen war; aber er tut nur so, sonst hätte er ja losfahren müssen – und vorm Braten schon, und am Ende hätten Sie ihn die Kinder gleich einpacken lassen. Na, das käme ihm jetzt bequem. Es ist ja auch nicht das erstemal, bei uns haben sie's schon mal so gemacht. Die Himbeersoße zur Speise rein ausgeleckt, derweil wir asservieren. Was tun sie, damit wir's nicht merken sollen? Sie gießen das große Tintenfaß aus der Registratur rein. Ich sah's nicht mal, denn wir hatten eine zur Aushilfe, so ein schlesisches Puddel, die schrie: ›Herrje – die Tunke ist ja schwarz!‹ Na, die schwarze Brühe merkten wir denn bald. – Und nu's einmal raus, soll auch alles raus. Das Achtgroschenstück, warum der Hausknecht seinen Jungen so gottsjämmerlich prügelte, der Gottlieb hatte es nicht in die Gosse fallen lassen – das sagte der Junge nur aus Pfiffigkeit, daß er mit den Patschen drin wühlen konnte, und wer half ihm nicht, und derweil er heulte und wühlte, dachte er, kommt 'ne mildtätige Seele und schenkt ihm was. Sie haben ihm auch was geschenkt, aber die Prügel waren das meiste. Nein, aus der Tasche hat er sich's stehlen lassen. Und wer hat's ihm stibitzt? – Ich weiß es.«

Ihre Hände mußten die Tränen nicht fassen können, die aus Charlottens Augen stürzten, auch das blaue Tuch, das sie davorhielt, ward in allen Wendungen naß, und ihr Schluchzen schallte von den Wänden zurück.

»Wäre es möglich, Charlotte!«

»'s ist gewiß, Frau Geheimrätin. Es schoß mir gleich was durch den Sinn. Und nachher, wie ich im Stroh suchte unter seinem Bett, da fand ich's – das Achtgroschenstück.«

»Sie hat es dem Hausknecht wiedergegeben!«

»Ich wollte es auch, aber da kriegte mich der Fritz zu packen. Sage ich Ihnen, wie ein Kobold, er kniff mir in die Waden und biß mir in die Finger, und schrie und weinte – nu, man hat doch auch ein Herz im Leibe – wer will denn seiner Herrschaft Kinder an den Galgen liefern! – Dem Gottlieb tut man's wieder gut. Die Prügel hat er doch mal weg; schaden ihm auch nichts. Aber von dem Achtgroschenstück, davon ist's ja eben. Zum Kuchenbäcker um die Ecke. Sein ganz Schnupftuch voll brachte er mit, husch unters Bett, und nun stopften sie. Daran liegen sie ja jetzt wieder. Nein, sage ich doch, das steckt im Blute.«

»Meint Sie?«

»Oh du lieber himmlischer Vater, wenn da nicht einer hilft, der wird mal 'ne Räuberbande, wie's zu lesen steht in den Büchern bei Herrn Vieweg – blutig-duster im Walde, und am Ende schleppen sie ihn in Ketten. Na, wenn das mein Herr erlebte!«

»Im Blute, sagt Sie, steckt es!«

»Wer's zu verantworten hat, weiß ich auch, Frau Geheimrätin. Nein, da sind Sie nicht dran schuld. ›Im Blute‹, sagt der Herr Prediger, ›steckt die Sünde‹, der Frühprediger, meine ich, wo die russische Fürstin allemal hinkutschiert. Ach, Frau Geheimrätin, haben Sie den mal gehört? Das ist gar kein Prediger wie die andern, der donnert von der Kanzel, daß es einem brühsiedendheiß wird, und 's ist einem, als ob das liebe Fleisch von den Knochen abginge. Der sagt's uns raus, daß die ganze Menschheit in Grund und Boden nichts taugt und keinen Schuß Pulver nicht wert ist. Und das kommt aber nicht von uns, sondern weil wir uns von der Erbsünde losgesagt haben, darum alles das und noch viel mehr. Herr Jesus, Frau Geheimrätin, wie malt der Mann das alles, man sieht's ordentlich. Man möchte von keinem mehr ein Stück Brot nehmen, so sind sie versunken und verpestet in Eitelkeit und Habsucht und Wollust und Hoffart. Und das wird auch nicht besser werden, denn die Kinder werden noch immer schlechter als die Eltern, von wegen, daß sie's von ihnen lernen, bis der Herr in seinem Zorne wieder eine Sündflut schickt, oder ein großes Feuer, oder, wie er sagt, eine Bluttaufe, denn vernichtet müßte das ganze gottlose Geschlecht werden, sagt er, das abgefallen ist vom rechten Glauben an die Erbsünde, und darum wären wir schwächlich und diebisch und neidisch und verredeten und vergäben einer den andern und wollten besser scheinen, als wir sind. Und dann streckt er die Arme aus und ruft zum Herrn der himmlischen Heerscharen, daß er die Kindlein fortnehmen möge in seinem Erbarmen, und er möchte Tränen weinen, daß sie ein Meer würden, sagt der Herr Prediger, und die unschuldigen Kleinen alle darin versöffen, damit sie nicht lernten die Sünden der Eltern, sondern reinkämen in den Himmel wie neugefallener Schnee. Das war nur ein Schluchzen in der ganzen Kirche, und ich dachte, oh Gott, wenn doch der Himmel so unser Malwinchen und Fritzchen zu sich nehmen wollte. – Und daß nun einmal alles rein aufgewaschen wird, Ihre chinesische Porzellanvase hat Fritzchen auch zerschlagen. Mamsell Adelheid hat sie nur so oben mit der schönen Seite auf den Rand gesetzt, daß Sie's nicht merken sollen, und dann will sie's abpassen, wenn Frau Geheimrätin mal bei guter Laune sind. Ja, wenn die englische Mamsell nicht wäre, dann wäre schon längst ein Malheur passiert.«


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