Willibald Alexis
Ruhe ist die erste Bürgerpflicht
Willibald Alexis

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Vierzehntes Kapitel.
In der Dorfkirche.

Im letzten Dorfe, welches die Königin passierte, hatten die Relaispferde gefehlt. Der Geistliche hatte seine Ackerpferde vorgespannt; aber sie waren auch müde, eben von einer Vorspannfahrt zurückgekehrt. Die Königin glaubte dem alten Manne die Sorge um seine Tiere anzusehen; sie hatte sich anfänglich geweigert, sie anzunehmen. Der Prediger hatte erwidert: »Wer weiß, was heute sein ist, ob es morgen sein bleibt! Wer es hingibt zu einem guten Werke, hat das Bewußtsein hinter sich.«

Es war noch keine Flucht; die Monarchin hatte endlich, von den tausend Stimmen, die laut und lauter gegen ihre Anwesenheit beim Heere sich aussprachen, gedrängt, das Hauptquartier verlassen; sie wollte über Naumburg nach ihrem geliebten Magdeburg zurück. Es war ein herzzerreißender Abschied gewesen von dem Gemahl – der Schatten einer Leiche schwebte schon über der Umarmung. Ihr schwarzes Kleid galt der blutigen Erinnerung an den Prinzen Louis Ferdinand.

Tausend wüste Nachrichten schwirrten durch Weimar, als sie es verließ. Alles hatte sich verändert, der Feind kam nicht von daher, wo man ihn erwartete, sondern griff vom Rücken an. Soviel wußte man schon, nicht, wie weit er vorgedrungen. Die festen Positionen an der Saale mußten ihn doch aufhalten! Aber Wirrwarr überall auf der Straße: verfahrenes Fuhrwerk, Marodeure, Kranke, umgestürzte, geplünderte Bagagewagen, versprengte Flüchtlinge, die, jenseits der Saale durch die ersten Angriffe der Franzosen geworfen, jetzt ihre Korps aufsuchten. Viele suchten sie auch nicht. Bei Lobeda war die sächsische Bagage, ehe die Franzosen erschienen, von den eigenen Trainknechten aufgegeben, überfallen und geplündert worden. Wer mochte unter den Hunderten, die davon auf der Straße erzählten, die Vorfallenheiten vergrößerten, ausschmückten, die Beraubten immer von den Räubern unterscheiden! Wohin war schon jetzt der Zauber der Autorität, wenn man Mühe hatte, für den königlichen Wagen Platz zu machen.

In jenem Dorfe mochte die Ankunft der Monarchin eine Katastrophe abgewendet haben. Verwilderte Scharen Zersprengter, die sich eingelagert, machten Miene, das Mein und Dein zu vergessen. »'s ist Krieg, da hört alles auf!« hörte die Königin mit eignen Ohren. Welche Schadenfreude auf den Gesichtern jener Soldaten, die an der Hecke nicht schulterten, und sie trugen den preußischen Rock, sie wußten, daß es ihre Königin war. »Es sind ausgehobene Polen!« Sollte die Monarchin dies zugeflüsterte Wort beruhigen? Unter dem blauen Rock sei Herz und Verlaß, hatte man sie gelehrt. Wenn nun Tausende von Herzen darunter schlugen, auf die kein Verlaß war, und Friedrichs Disziplin fehlte! Daß diese nicht mehr sei, hatte sie in Weimar, Naumburg, selbst in Berlin von so vielen klagenden Stimmen gehört. Auf dem Kirchhofe sangen Marodeure, die ihre Beute von Lobeda teilten, unter wildem Gekreisch das Räuberlied: »Ein freies Leben führen wir, ein Leben voller Wonne!« – Die Königin, während der Umspannung einen Augenblick abgestiegen, hatte in die offene Kirche treten wollen, der Geistliche aber bat sie, umzukehren, es seien da Verwundete, Sterbende untergebracht. Es mochte noch mancher andere Anblick sein, nicht geeignet für die Augen einer zarten Frau. Am Ausgang hatte sie ein hingesunkenes junges Weib bemerkt, die Züge des Todes auf ihrem blassen, schönen Gesicht. Der Prediger wollte den Anblick mit seinem Rücken decken, aber die edleren Züge des Mädchens in der widerwärtigen Umgebung interessierten unwillkürlich die Königin. »Wie kommt die Unglückliche hierher?« Der Geistliche hatte die Achseln gezuckt: »Eins von den Geschöpfen, welche die Soldaten mitschleppen, oder sie laufen ihnen von selbst nach. So was gehört freilich nicht in ein Gotteshaus, aber wer kann's hindern! Sie haben sie auch wohl arg mitgenommen da bei der Plünderung in Lobeda und geschlagen. Sie blutete.« Die Königin fühlte das Bedürfnis, der Armen etwas Wohltätiges zu erweisen. Ach, sie hatte nichts, nicht einmal das, was jeder ihrer Diener bei sich führte, eine Börse. Sie wollte einen heranwinken, aber der Stallmeister stand schon mit der Miene banger Ungeduld am Wagenschlag. Aller Mienen sagten: Hier ist nicht länger zu verweilen!

Es war stiller geworden auf der Straße. Der Wagen mit den müden Pferden fuhr aber nur langsam in den aufgewühlten Wegen. Zuweilen ließ der Wind den Kanonendonner von der Mittagsseite herübertönen. Es schien eine stillschweigende Übereinkunft, nicht darauf zu achten. Die Hofdamen, von Überanstrengung erschöpft, nickten. Auch die Königin hatte den Kopf in die Ecke gelehnt, zu schlafen geschienen. Jetzt richtete sie sich auf, warf den Schleier zurück und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen. Nach einem kräftigen Atemholen löste sich ihr Schmerz in Tränen, sie glaubte, ohne Zeugen; aber ihr gegenüber in der Wagenecke wachten zwei Augen. Adelheid Alltag, die hier in bescheidener Zurückgezogenheit gesessen, wagte, die Hand der Fürstin zu ergreifen und, halb auf das Knie sinkend, sie an die Lippen zu drücken.

»Es ist ja noch nichts verloren.«

»Nichts!« sagte die Königin und schüttelte wehmütig den Kopf. – »Aber Ihr Anblick, liebes Kind, sollte mir eigentlich Stärke geben. Würden Sie denn den Mut gehabt haben, alles zu ertragen, wenn sie vorausgewußt, was Ihnen bevorstand? Die gütige Vorsehung verhüllte es mit einem Schleier. So hat der Vater im Himmel es wohl auch mit mir gefügt. Hätte ich das, was ich jetzt erlebe, noch vor zwei Jahren ahnen können, und wer sagt, was mir noch bevorsteht! Da tänzeln wir im Flügelkleide der Lust und sehen überall Sonnenschein und Wiesengrün um uns, während die Herbststürme schon heranziehen. Aber es ist in seinem unerforschlichen Ratschluß, daß wir nichts davon ahnen, um gesund zu sein und stark, wenn sie hereinbrechen.«

Adelheid versuchte, von einer bessern nächsten Zukunft zu sprechen. Der Ton ihrer Stimme verriet, daß sie nicht daran glaubte.

»Nein, liebes Kind, ich täusche mich nicht mehr; es ist vieles in diesen Tagen von meinen Augen gerissen. Es ist nicht mehr, wie es war. Wohin ist unser Ansehen, wohin die Kriegszucht, wenn so kleine Derangements schon solche Unordnung bringen! Die Offiziere mußten ein Auge zudrücken. Wenn das die preußische Armee betrifft! Wie hat man uns belogen! Ich hörte Stimmen aus dem Volke –«

»Wir sind hier nicht in Preußen.«

»Auch in unserm Heere selbst. Ich hatte nicht geglaubt, daß unsere Offiziere so gehaßt sind! Dieser Widerwille gegen die Junkerherrschaft! Und sah ich's nicht mit eigenen Augen. Die Brutalität gegen die armen Menschen, und diese alten Generale, denen drei Mann helfen mußten, um aufs Pferd zu steigen. Die in Weimar lachten, unsere Soldaten verzogen auch den Mund. Der wackere Rüchel suchte es mir zu verbergen. Ach, er ist auch gefürchtet und gehaßt –«

»Desto allgemeiner verehrt und geliebt ist Seine Majestät der König.«

»Gott sei Dank! Aber auch ich bin verredet, gehaßt, verleumdet.«

»Um Gottes willen, Ihro Majestät, es ist nur eine Stimme der Liebe und Bewunderung –«

»Unter denen, die mir vor Gesicht treten, wie damals auf der Huldigungsreise! Jetzt, liebes Mädchen, sehe ich und höre ich schärfer. Ich glaubte meine Pflicht zu tun, als ich dem König ins Feld folgte; ich dachte an die erhabenen Beispiele der Vorfahrinnen unseres Hauses, der schönen Else, die Kurfürst Friedrich I., an Luise von Oranien, die dem Großen Kurfürsten gefolgt sind; damals lobte man es, man brauchte ihren Mut und rühmte, daß sie die Gefahren ihrer Gatten geteilt, mit Rat und Tat ihnen zur Hand. Heut geißelt man mich mit bittern Sarkasmen.«

»Das ist nur Lombard –«

»Nein, liebes Kind, das vergebe ich ihm und könnte ihn darum loben; es ist einmal seine aufrichtige Meinung! Aber sie alle, bis auf wenige. Warum hatten sie damals nicht den Mut, es zu sagen? Das vergebe ich ihnen nicht. Vielleicht hätten sie mich aufgebracht. Lieber Gott, ich habe doch auch Gefühle. Davor fürchteten sie sich mehr als davor, ihre Königin dem übelsten Gerede auszusetzen. Und wenn sie wirklich dachten, daß meine Anwesenheit beim Heer unsrer Sache Schaden bringt! Sind das treue Diener ihres Herrn, die sich mehr vor einem bösen Gesicht fürchteten, das ich ihnen machen konnte, als – oh mein Gott, wie lernt man die Menschen in solcher Zeit kennen!«

Sie schien von dem Gedanken sehr geängstigt. Nach einer Pause hub sie wieder an:

»Ich wollte schon früher zurück, da beschwor mich Kalckreuth, er legte auf meine Gegenwart, wie er sagte, das größte Gewicht. – Jetzt legt ein anderer Gewicht darauf; Napoleon, weiß ich, beschimpft mich und meinen Gemahl laut vor seinen Offizieren, wer es will, kann seine Schmähungen hören.«

»Ihre Majestät hörten dafür den Jubelruf der braven Truppen, als sie in Weimar vor Ihnen vorüberzogen.«

»Auch das wird mir zum Verbrechen gemacht! Ich bin die Kriegsfurie, die wutschnaubende Megäre, die den König fort und fort gestachelt, bis er sich zum Kriege entschloß, ich bin hier, nur damit er in seinem Entschluß nicht wankend werde. Gott weiß, daß ich nie über öffentliche Angelegenheiten zurat gezogen wurde und auch nie danach gestrebt hatte. Erst als Kaiser Alexander voriges Jahr mich auf die Gefahr unsrer Lage, unseres Hauses aufmerksam machte, erwachte ich. Damals konnte ich noch keinen tieferen Blick in unsre Staatsverhältnisse werfen; war ich doch wie ein junges Mädchen, das aus der Pension in die Gesellschaft eingeführt wird. Aber Alexanders Worte erschreckten, weckten mich; ich sah meinen Gemahl, meine Kinder, die Thronfolge, alles, was mir lieb und wert war, in Gefahr, ich bot daher alles auf, ihn, seine Freunde zu wecken. Ja, ich hielt den Krieg für notwendig, und wenn das ein Verbrechen ist, so habe ich ihn gewünscht. Mir schien, daß alle Güter dieser Erde untergeordnet seien dem Gefühl edler Selbständigkeit und der Nationalehre. Seit ich eine Preußin geworden, fühlte ich nur als Tochter dieses Landes. Und den Trost habe ich, alle Bessern fühlen mit mir – es ist nur –«

Der Wind mußte sich gewandt haben, wie ein fernes Gewitter dröhnten die Kanonenschläge über die Fläche.

Die Tauentzien fuhr mit einem: »Ach Gott! ach Gott!« aus dem Schlaf, aber die Sonne schien hell durch die Wagenfenster. Im Hohlweg, in den der Wagen bog, hörte man nichts mehr. Die Hofdame schlief wieder ein.

»Sein Tod muß schön gewesen sein!« rief die Königin plötzlich aus ihrem Versunkensein auf »Der Tod fürs Vaterland! Der König war tief erschüttert; im Leben standen sie sich fern. Das ist das Schöne vom Tod, daß er versöhnt. Viele Herren machten gleichgültige, unangenehme Bemerkungen, wir schlossen uns ein. – Kannten Sie den Prinzen?«

»Ich sah ihn ein- oder zweimal, gnädigste Frau.«

»Welchen Eindruck hat er auf Sie gemacht?«

Es brach unwillkürlich von Adelheids Lippen, während sie rot. ward: »Wie einer, dem der Tod eine Wohltat ist. Wie einer, der nach der Sonne fliegt, und oben in der Luft, weil sie zu rein für unsre Lunge, erkennt er, daß es vergebne Mühe ist. Ihn verläßt die Kraft, er will nicht stürzen, aber er stürzt. Es ist ein trostloser Kampf, nicht um das Dasein – um das Sonnenlicht, möchte ich sagen. Er flattert und flattert, um sich zu halten, den ganzen Schmerz in der Brust, wieder auf die dunkle Erde sinken zu müssen, und ihre mefitischen Dünste fallen schon auf die Brust – da, wohl ihm, ehe seine Flügel erlahmen, wenn die Kugel eines Schützen seiner Qual ein Ende macht.«

Die Königin warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu: »Sie halten es für ein Glück, Adelheid?«

»Ja«, sagte sie mit fester Stimme.

»Sie haben keine Nachricht von Ihrem Bräutigam?«

»Keine«, entgegnete Adelheid mit derselben Stimme.

»Und keine Ahnung, ich wollte sagen, keine Hoffnung?«

»Euer Majestät Frage könnte mich besorgt machen, daß Sie auf eine schlimme Nachricht mich vorbereiten wollen. Aber ich bin auf alles vorbereitet. Wo hat der einzelne ein Recht auf Glück, wo das Ganze zusammenbricht – und doch – doch – ich habe noch eine Hoffnung, beinahe Zuversicht, daß ich ihn noch einmal sehe –«

»Sie irren sich, Liebe. Ich weiß von nichts. Ich dachte nur, des Prinzen Tod war ein schöner; so könnte ich ihn allen denen wünschen, die ich ehre und liebe und die doch nicht leben können. War die Vorsehung nicht gütig gegen ihn? Vielleicht ist sie es so gegen alle Edle. Wer im Leben über den Staub und Stoff sich erhob, der, dünkt mich, hat auch die Kraft, die Mittel, sich in der letzten Stunde zu erheben, über den Tod – die Wolken teilen sich vor ihm, und er sieht Sonnenschein und Herrlichkeit –«

Durch einen Lärm draußen wurden sie unterbrochen. Eine durchdringende Stimme hatte schon aus der Ferne ein wiederholtes »Zurück!« gerufen. Die Pferde, entweder scheu geworden oder angehalten, hatten eine Bewegung nach rückwärts gemacht, auch der Wagen war davon zurückgestoßen, als man das Fenster von innen niederließ. Ein staubbedeckter Reiter sprengte mit verhängtem Zügel ihnen entgegen. Sein Wehen mit dem Tuche hatten sie in den Staubwirbeln, die um ihn aufflogen, nicht gesehen. Jetzt hielt er am Kutschenschlag. – Da kam ein Schrei aus dem Wagen. Der Anblick konnte wohl ein zartes Frauenherz außer sich bringen. Er hing mehr, als er saß, auf dem Pferde, ein leichenblasses Totengesicht mit gläsernen Augen und stierem Blick. Der Hut war ihm vom Kopf geflogen, die Haare hingen in zerrissenen Streifen vom Scheitel. Wie gänzlich vom Ritt erschöpft, hielt er sich mit den Händen am Sattelknopf, während die Lippen konvulsivisch bebten im Versuch, Worte hervorzubringen. Jetzt gelang es ihm, er riß zugleich Briefe aus der Brust, die Worte kamen abgebrochen vor:

»Zurück – die Königin muß zurück – die Feinde in Naumburg – die Brücke genommen, Franzosen auf den Höhen von Kösen – ein Angriff von dort!«

»Die Franzosen!« schrien zehn Stimmen. »Wir sind verloren!« die Hofdamen. »Kehrt! Kehrt! Auf der Stelle kehrtgemacht!« kommandierten die Stallmeister.

»Ist schon Gefahr?« rief die Königin zum Fenster hinaus. Ihr Blick schien dem Erschöpften einen Augenblick Besinnung und Kraft wiederzugeben.

»Noch nicht – noch um Stunden sind sie zurück – mein guter Renner – aber Majestät muß nach Weimar zurück, über den Harz ist noch ein sichrer Rückweg. – Diese Schreiben an den König! – Schreiben der Arglist – traue niemand.«

Die Briefe flogen aus seiner zitternden Hand grade noch in den Wagen, als dieser kehrtmachte und die Insitzenden den Reiter aus dem Gesicht verloren. Es war gut, daß die Hofdamen Riechfläschchen bei sich führten, ein Händedruck der Königin wirkte indes vielleicht doch belebender. Luise hielt mit der Linken Adelheids Hand, während sie aus dem Fenster mit den Stallmeistern und den begleitenden Offizieren sprach. »Die Gefahr ist vorüber!« sage sie, den Kopf zurückziehend. »Er stirbt!« rief Adelheid mit einer ohnmächtigen Bewegung, sich aufzurichten. Dann ward sie still und blickte ruhig vor sich hin. Wer Zeit und Sinn dafür gehabt, sie zu beobachten, würde jetzt ein Lächeln auf ihrem Gesicht erblickt haben.

Wer hatte Sinn dafür, wer Zeit!

Der Wagen schien sich nicht fortzubewegen: alles Peitschen und Fluchen war vergebens bei den müden Tieren. Endlich stürzten sie; es war aber am Eingang ins Dorf. Gefahr war nicht mehr, denn von der preußischen Avantgarde war das Dorf schon besetzt. Rüchel hatte einen Adjutanten der Königin nachgesandt, dessen Meldung mit der des Reiters übereinstimmte, sie müsse in Eil nach Weimar zurück, von dort seien Relais und Eskorte nach Sondershausen und dem Harze für sie bereit. Aber noch fehlten die Pferde, auch am Wagen war etwas zu bessern.

Die Königin ging ins Dorf zurück. Sie sprach lebhaft mit den Offizieren. Sie schien in raschen, scharfen Fragen den Sinn jeder Falte auf ihrem Gesicht entdecken zu wollen. Adelheid wankte allein. Er kam noch nicht. Sie wagte nicht zu fragen; sie stand, ohne zu wissen, wie und warum, auf dem Kirchhof. Ein angelehntes Hinterpförtchen führte in die Kirche; eine einfache gotische Landkirche von Steinquadern, mit einer Balkendecke. Und doch hatten Reste von bunten Scheiben in den Spitzbogenfenstern sich erhalten; spinneumwebt, verdunkelt von Staub und Wetter, und doch genug Farbe enthaltend, um dem Sonnenschein, der eindrang, eine dumpfe, gelbbrennende Färbung zu geben. Sie paßte zu ihrer Stimmung. Ob der Schein sie lockte, ob eine Ahnung?

Sie war eingetreten. Sie sah nichts von den Schrecken. Vielleicht waren sie schon entfernt. Auf den Stufen am Hochaltar lag der Bote, welcher der Königin die Rettungspost gebracht. Sein Pferd hatte sich losgerissen von den Vorreitern, die es auf einen Wink des Stallmeisters am Zügel führen sollten. Der Mann selbst war ja nicht mehr imstande, es zu lenken. Im Dorf war das Tier gestürzt mit seinem Herrn – ein heftiger, tödlicher Blutsturz. Louis Bovillard hatte sich nicht mehr aufrichten können, der Pfarrer hatte ihn in die Kirche tragen lassen.

Der Sonnenschein fiel durch die gelben Scheiben grade auf sein Gesicht, als Adelheid eintrat. Sie schrie nicht auf, sie rang nicht die Hände, ihre Knie zitterten nicht. Schien es doch, als sei es nur die Erfüllung von etwas, was sie längst gewußt. Die Hände faltend, blieb sie noch in der Entfernung stehen und blickte auf ihn, wie man zum erstenmal den Grabstein eines teuren Verblichenen erblickt. Nicht einmal eine Träne stürzte aus ihrem Auge. Aber etwas hätte sie befremden mögen – auf der Stufe drunter die jugendliche Gestalt eines Weibes; sie hatte ihr Tuch über seine Füße gebreitet und ihr Gesicht in seinen Schoß gedrückt. Ein Bildhauer hätte die Figur der Trauer nicht besser dargestellt. Ihr aufgelöstes Haar wallte um ihren Nacken.

Auch diese Anwesenheit dieser Trauernden störte sie nicht. Sie war jetzt neben ihm niedergekniet und hatte die kalte Hand erfaßt, die sie an die Lippen drückte. Sie schien zu beten, als es hinter ihr rauschte; die Königin legte die Hände sanft auf ihren Scheitel: »Mein Kind, es trifft jeden sein Teil, und du warst darauf vorbereitet.«

»Wenn er nur noch einmal die Augen aufschlüge!« atmete sie leise.

»Um meinen Dank in den Himmel mitzunehmen, denn er hat seine Königin gerettet. Ich kann ihm nicht mehr danken.«

»Doch, Königin«, sprach Adelheid, sich umwendend. »Gönnen Sie mir die Freiheit, lassen Sie mich hier zurück. Ich war seine Braut vor Gott und vor Ihnen, er darf nicht verlassen sterben. Die Pflege ist spät, aber den letzten Dienst kann ich ihm erzeigen. Lassen Sie mich ihm die Augen zudrücken.«

Da richtete sich das verwilderte Mädchen etwas auf und starrte die Hinzugekommenen an. Der Traum der Wahrheit schien durch ihre brechenden Augen zu dämmern.

Die Gräfin Voß war an die Königin, die zweifelnd dastand, getreten und flüsterte ihr zu: »Wenn Ihro Majestät das zugeben, ist es absolut unmöglich, daß die Demoiselle ferner, in welcher Stellung es sei, in Dero Nähe verweilt. Ja, wenn sie nur getraut wären –«

In dem nächsten Augenblick geschah vieles. Der alte Geistliche hatte sich über den Sterbenden gebeugt: »Er atmet noch.« – Das Mädchen zu seinen Füßen rief wie in wahnsinniger Freude: »Louis schlägt die Augen auf.« Der Sonnenschein hatte eine rote Scheibe getroffen, und ein rosiger Schein breitete sich über die eng zusammengedrängte Gruppe aus. Der Tote lebte noch, er schien zu lächeln, er erkannte die Gegenstände. Die Königin aber hatte im nächsten Augenblicke mit dem Prediger heimlich gesprochen. »Ich übernehme alle Verantwortung.«

Der Geistliche erwiderte: »Auf die wage ich es selbst vor dem höchsten Richter, wo ich bald mit ihm erscheine. Aber hat er die Besinnung – und die junge Dame?«

»Sie wird ihr Ja deutlich sprechen«, hatte die Königin geantwortet und flüsterte Adelheid etwas ins Ohr: »Bleib knien, mein Kind!«

Da wollte es der Zufall, während der Pfarrer in Kürze die liturgischen Formeln der Trauung sprach, daß ein Knabe des Küsters auf der Orgel intonierte. Der Sterbende wollte den Kopf aufrichten, das gelang ihm nicht, aber von seinen Lippen kam es: »Da rufen sie uns!« Der Prediger sah froh der Königin ins Gesicht, welche Adelheid schnell einen Ring an den Finger gesteckt hatte. Das fremde Mädchen aber hielt den Kopf des Sterbenden, während der Prediger die Ringe wechselte. Als er die entscheidende Frage tat, antwortete ein »Ja« so wunderbar laut, daß es die Orgel übertönte. Es war sein letztes Wort. Kaum daß der Segen gesprochen, sank er röchelnd nieder. Der Brautkuß war der Sterbekuß. Das fremde Mädchen weinte und lachte: »Ich habe doch seinen letzten Händedruck.« – Die Königin sagte: »Ich konnte ihm noch danken.«

Der Wagen stand fertig vor der Kirchentür. »Frau von Bovillard!« sprach feierlich die alte Voß, »Ihro Majestät sind bereit.«

Die Fürstin sah fragend auf die Trauernde. Ihr Blick schien zu sprechen: »Willst du mich jetzt verlassen!«

Der Geistliche sagte: »Für die Toten sorgt Gott und die Kirche. Wer noch Pflichten im Leben hat, fliehe von hier. Den Toten ist wohler in der Erde, als den Lebendigen, wo die Verwüstung ihr Reich aufschlägt.«

Das fremde Mädchen schrie wie im Irrsinn auf: »Er wird nicht allein begraben werden.«


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