Willibald Alexis
Ruhe ist die erste Bürgerpflicht
Willibald Alexis

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwölftes Kapitel.
Iphigenia.

Der Unterricht, den Walter im Lupinusschen Hause erteilte, war einige Tage ausgefallen, weil Mamsell Alltag sich unpäßlich befand. Doch hatte der Bediente hinzugefügt, es habe nichts zu bedeuten. Walter war zufrieden, obgleich er nie zufriedener war, als wenn an den Gendarmentürmen die Glocke schlug, die ihn zur Stunde rief; er hatte in diesen Tagen seine Arbeit fertig machen können.

Adelheid sah heute wirklich noch etwas blaß aus, aber nie hatte Walter sie reizender gesehen. Ein Häubchen umschloß ihre Locken, ein leichtes, bis unter dem Halse schließendes Morgenkleid ihre elastischen Glieder. Den griechischen Schnitt, in den die Geheimrätin sie nötigte, hatte er nie geliebt. Der schöne Arm erschien ihm heut schöner unter dem faltigen Überrock, als wenn er in leuchtender Fülle aus den kurzgeschnittenen Ärmeln schoß. Sie war ihm rasch entgegengeeilt, sie hatte seine Hand so herzhaft gedrückt, und doch zitterte sie. Sie hatte ihr »Guten Morgen!« nie mit einem so festen Tone gesprochen, und doch war ihre Stimme etwas belegt. Sie hatte ihn herzlich angesehen und doch sogleich wieder die Augen gesenkt.

»Wir haben viel nachzuholen, lieber van Asten«, hatte sie gesagt, »darum müssen wir rasch anfangen.« Sie saß am Tisch, er ihr gegenüber. Es war ein wunderschöner Morgen. Die Linden auf dem Hofe spielten im Sonnenschein. Der Schatten der Blätter spielte durch das geöffnete Fenster auf die Tischplatte. Es funkelte auch golden auf den Blättern des Buches. Daher mochte es kommen, daß er sich verlas; auch sie las oft falsch. Und dazu zwitscherten die Sperlinge, gewohnt, am Fenster die Krumen zu stehlen, welche Adelheids Hand ihnen hinstreute, und eine Wespe verirrte sich in die Stube und trieb Unfug, bis man sie mit Tüchern hinausgescheucht.

Es war viel Störung in der heutigen Lektion.

Walter schlug vor, das Fenster zu schließen. Adelheid fand die freie Luft so schön, ihr sei noch so beklommen. Aber es würde schon vorübergehen – »ich werde schon Mut bekommen«, setzte sie leiser hinzu.

Sie hatten heute die »Iphigenia« beendet. Adelheid hatte den letzten Akt gelesen.

»Sie müssen mir später einmal die ganze ›Iphigenia‹ hintereinander vorlesen, wenn Sie bei voller Stimme sind«, sagte Walter. »Das Gedicht klingt und dringt ganz anders ins Herz mit Ihrer schönen Stimme. Das Parzenlied –«

»Heut könnte ich es nicht lesen«, fiel Adelheid ein, »es ist zu schrecklich.«

»Für den schönen Morgen! Sie haben recht. Wir müssen uns heut allein mit dem Charakter der Iphigenia beschäftigen. Iphigenia ist der leuchtende Gedanke der Versöhnung, der in der alten Welt wie ein Strahl auf dunklem Meere erscheint, aber er fand noch nicht die eigentliche Verkörperung. Was die griechischen Dichter noch als einen Torso hinstellten, hat der deutsche, der aus anderer Quelle sein Licht schöpfte, zur Erscheinung gebracht. Dieses Atridengeschlecht –«

»Um Gottes willen!« rief Adelheid, »wie konnten die alten Dichter so etwas ersinnen! Sie sagten doch, die Griechen hätten immer der Schönheit gehuldigt, und selbst dem Häßlichen wußten sie eine Wendung zu geben, daß es das Gefühl nicht verletzte. Wie ist es nun möglich, daß sie solche Greuel erfanden, die doch unmöglich sind?«

»Unmöglich?« fragte der Lehrer. »Die erste Geschichte des Hellenentums ist nur eine Verkörperung des Kampfes, den die Kultur mit der Barbarei geführt. Der Barbarei ist alles möglich, und wenn der finstre, religiöse Wahn hinzutritt, ist sie zu Greueln fähig, für die uns Begriff und Worte fehlen. Ertöten wir aber die Kultur, reißen wir die edle Humanität an der Wurzel aus, welche Kunst, Wissenschaft, der Geist des Christentums jetzt durch Jahrtausende gepflanzt und gepflegt, so sinken wir alle wieder in den Naturzustand, in die Barbarei zurück, wo die Taten der Atreus und Thyestes möglich sind.«

Sie schauderte, vor sich niederblickend. Hatte er zuviel gesagt?

»Vor einer andern Schülerin würde ich das nicht sagen, aber Ihr Geist, Adelheid, ist stark. Sie selbst haben, so jung noch, Prüfungen zu überstehen gehabt. Sie haben Blicke in die wüste Verworfenheit getan. Ist zum Beispiel eine Mutter, die ihr Kind ermordet, nur um mit Anstand noch in der Gesellschaft weiter zu erscheinen, soviel besser als jene rohen Barbaren, die ihrem Rachetrieb alles opferten! Und sind es die vielen hier, welche aus falscher Empfindsamkeit die entsetzliche Tat beschönigten? Wissen Sie, weiß ich, welche Prüfungen auch meiner Freundin noch aufgespart sind, wie viele von denen, die Sie jetzt mit Aufmerksamkeit überhäufen, die so liebenswürdig, edel sprechen und zu handeln scheinen, Ihnen in einem ganz andern Lichte erscheinen werden!«

Adelheid sah ihn verwundert an. Er war in Gedanken vertieft. – »Es war unrecht von mir«, rief er plötzlich aus. »Die Vorsehung hat uns die schönen Illusionen als Patengeschenk mitgegeben, damit wir Mut behalten. Sie selbst lüftet für jeden nur so viel von dem Schleier, als er ertragen kann. Und niemand hat das Recht, dem andern die schirmende Decke fortzureißen. Vergebung! Kehren wir zur ›Iphigenia‹ zurück.«

Er hielt die Hand zur Vergebung über den Tisch, sie schlug, ohne zu zaudern, ein, und beide mußten vergessen haben, daß sie eingeschlagen hatten, denn als er in seiner Rede fortfuhr, blieben die Hände noch immer auf dem Tisch.

»Das Schrecklichste hat sich nun erfüllt, das Schicksal der Atriden liegt wie ein wüster Traum im Hintergrunde. Ein sonst edler Jüngling, der den letzten Blutschlag getan, Orestes, ist der Träger des Fluches. Er wird von den züngelnden Furien gepeitscht, die nur in der Nähe des Heiligtums, wo der reine Gedanke, der Geist des Gottes herrscht, vor dem Zerrissenen weichen. Er ist geflohen von der Blutstätte, von den heimatlichen Gestaden, wo jeder Stein an die Geschichte seiner Ahnen mahnt, über Meere und Berge. Aber wie der Psalmist sagt, und nähme er Flügel der Morgenröte und flöge ans äußerste Meer, die Erinnyen folgen ihm. Da tritt Iphigenia auf, die, zum Opfer bestimmt, die Göttin schon früh mit gnädiger Hand aus dem Greuelhause forttrug und zur Priesterin sich weihte. Sie ist das außerordentliche Weib, das den Fluch ihrer Geburt überwunden hat. Selbst längst entsühnt, ist sie bestimmt, als versöhnende Priesterin zu walten. Schon hat die Macht der reinen, edlen Weiblichkeit sogar die Sitte der Barbaren gemildert, und Thoas muß von ihr sagen:

– es fehlt, seitdem du bei uns wohnst
Und eines frommen Gastes Recht genießest,
An Segen nicht, der mir von oben kommt.

Aber diesen Segen soll sie auch dem verlornen Bruder mitteilen. Der Atem ihrer reinen Brust soll den Wahnsinn auf seiner glühenden Stirne kühlen, die wüsten Bilder aus seiner zerrissenen Brust vertreiben. Er bekennt ihr den ganzen, vollen, entsetzlichen Fluch, der auf ihm lastet, er stürzt vor ihr nieder, als er sie erkennt –«

Walter mußte innehalten. Adelheid hatte plötzlich die Hand zurückgezogen und hielt sich die Brust. Dann fuhr sie sich über die Stirn.

»Ist Ihnen wieder unwohl?«

»Nichts, lieber Walter. – Fahren Sie nur fort, Sie erzählen so schön.«

»Es ist doch wohl besser, wir setzen heut noch die Stunde aus.«

»Nein, um Gottes willen nein, heute muß es sein. Nichts bis morgen wieder verschoben. Ich werde gewiß Mut bekommen. Es war nur die Vorstellung der Furien – ich möchte das Stück nie auf dem Theater sehen, so schön es ist.«

»Aber Orest wird ja geheilt.«

»Wer seine Mutter totschlug!«

»Lesen Sie, liebe Adelheid, irgendeine heitre Rede der Iphigenia. Sie kann wie Balsam wirken.«

Adelheid las, was sie zufällig aufschlug:

»Das ist's, warum mein blutend Herz nicht heilt.
In erster Jugend, da sich kaum die Seele
An Vater, Mutter und Geschwister band;
Die neuen Schößlinge, gesellt und lieblich,
Vom Fuß der alten Stämme himmelwärts
Zu dringen strebten; leider faßte da
Ein fremder Fluch mich an und trennte mich
Von den Geliebten. ... Selbst gerettet, war
Ich nur ein Schatten mir, und frische Lust
Des Lebens blüht in mir nicht wieder auf«

Er nahm das Buch und schlug eine andre Stelle auf Er suchte nicht viel, die Situation war ihm peinlich, er nahm die erste beste dithyrambische, und sie las den Anfang des vierten Aktes:

»Denken die Himmlischen
Einem der Erdgebornen
Viele Verwirrungen zu,
Und bereiten sie ihm
Von der Freude zu Schmerzen
Und von Schmerzen zur Freude
Tief erschütternden Übergang:
Dann erziehen sie ihm
In der Nähe der Stadt
Oder am fernen Gestade,
Daß in Stunden der Not
Auch die Hilfe bereit sei,
Einen ruhigen Freund.«

Sie hatte das Buch fallen lassen, sie war aufgestanden. An der Tischecke schwankte sie, sie wandte sich ab, dann rasch auf Walter zueilend, ergriff sie seine Hand:

»Ich habe den Freund gefunden, Walter. Sie haben mich lieb?«

Er umfaßte aufspringend ihre Hand, er bog den Kopf zurück, er starrte sie wie eine Erscheinung an: »Ist's Traum oder Wahrheit?«

»Walter, Walter, sprechen Sie, sonst wird's ein Traum, und mein Mut verläßt mich.«

Er preßte die Hand heftig an seine Brust: »Ja – um Gottes willen. Adelheid, du –«

Er erdrückte den tiefen Seufzer, den er zu hören glaubte, indem er sie an die Brust schloß.

Ihr Herz schlug an seinem, sie weinte an seinem Halse, aber still, nicht wie die Leidenschaft, nicht wie die Seligkeit der Liebe weint. Er sank auf den Stuhl zurück, er hielt ihre Hände gefaßt. So beschaute er sie. »Es ist des Glücks zuviel, zuviel auf einmal. Laß mich dir ins Gesicht sehen, ob es nicht doch nur ein Traum ist?«

»Jetzt nicht, es könnte aussehn wie die Lüge«, sagte sie, »nicht, bis ich alles gesagt. Das Schwerste ist heraus, aber – Sie müßten ja rot werden über mich, wenn – wenn nicht alles so gekommen wäre, wie es ist.«

»Wie es ist!« wiederholte er. »Du sahst in mein Herz. Du erbarmtest dich meiner, um mich nicht länger in Hangen und Bangen zu lassen.«

Sie schüttelte den Kopf: »Nein, Walter. Sie müssen sich nicht anklagen, um mich zu entschuldigen. Sie waren nicht in Hangen und Bangen, Sie sind ein Mann.«

»Nun fort das kalte Sie«, rief er. »Ich nehme Besitz von meiner Eroberung.«

»Du wußtest recht gut, daß, wenn du mich fragtest, ich nicht nein sagen könne. Und, weiß Gott, nicht um dir das Herz zu erleichtern, habe ich gesprochen.«

Er wollte sie noch einmal an sein Herz drücken. Aber sie entwand sich sanft seinen Armen.

»Keinen Kuß auf eine Unwahrheit. Es muß jetzt volle Wahrheit zwischen uns sein.«

»Unwahrheit!«

Sie nickte mit einem tränenfeuchten Blick. »Laß mich nur einen Augenblick Atem schöpfen.«

Sie hatte sich an den Tisch gesetzt, der Kopf gleitete in die Arme. Er hatte sich leise an ihren Stuhl gestellt und legte sanft den Arm auf ihre Schulter. »Ich habe dich lieb und bin bei dir, und du hast mich auch lieb. Was hindert dich noch?«

»Ich habe dich liebgehabt, seitdem ich dich gekannt«, sagte sie ruhig, sich zurücklehnend, »wie einen Bruder, vor dem ich mein Herz offenlegen konnte. Habe ich's nicht getan? Und wenn ich's nicht tat, war es, weil ich dachte, du läsest ja schon in meiner Seele wie in einem offenen Buche. Aber seit der – der fürchterlichen Geschichte ward es noch anders. Du allein bliebst immer derselbe gegen mich. Die andern – erst wußten sie nicht, wie sie mich ansehen sollten, und wichen mir aus. Nachher überschütteten sie mich mit Liebkosungen und Bewunderung und machten aus mir wunder was, was ich nicht bin. Ich war doch nicht schlechter, nicht besser, Gott weiß es – aber was ich nun bin, nun ja, was ich besser bin, bin ich durch dich. Seit ich das fühlte, ward mir bange. Du hattest es mir vorausgesagt, durch große Leiden werde der Mensch geläutert, seine Sinne gehen auf für das Edle und Schöne und sein inneres Auge für das Ewige und Wahre. Und da sah ich, wie du viel sorgsamer und liebevoller wardst, und mit jeder Schülerin würdest du dir nicht soviel Mühe geben. Und dein Unterricht ward auch so besonders. Und da, Walter, da kam dann – ich weiß nicht wie – der Gedanke, daß es so sein müßte –«

»Und erschrakst du vor dem Gedanken?«

Sie schwieg einen Augenblick: – »Nein, gewiß nicht, Walter. – Wo konnte ich besser aufgehoben sein, dachte ich, wer sollte mich besser zum Rechten führen und schützen! Ich gewöhnte mich so daran, daß –«

»Du gewöhntest dich nur daran?«

Jetzt erschrak sie vor dem Ton der Frage. Sie legte sanft die Hand auf seine und blickte ihn klar an: »Hast du nicht zuweilen gemerkt, daß ich lächelte? Ich dachte dann an das, was du oft gesagt, der Mensch erzieht sich selbst, und man kann keine Natur ändern. Und du wolltest mich doch ändern, so wie du mich wünschtest. Und dann widersprach ich aus Übermut. Nur aus Schelmerei, ich nahm mir im Herzen doch vor, zu werden, wie du es wünschtest.«

»Das hattest du dir vorgenommen, und ich war der Gegenstand deiner Gedanken!«

»Und da kam ich auf kuriose Dinge. Ob ich dir auch würde auf die Schulter klopfen, wie Mutter tut, wenn sie den Vater freundlich haben will. Wenn Vater auffährt, ob du auch zornig werden könntest? Und ob ich dann auch so machen dürfte, wie Mutter tut, um ihn wieder gut zu machen. Ich muß dir sagen, es kam mir nicht ganz recht vor, wenn auch Mutter sagt: ›So muß man die Männer behandeln, wenn man Friede im Hause haben will.‹ Du bist doch ein ganz andrer Mann, und ich meinte, wir müßten uns jeder dem andern geradheraus sagen, was er denkt. Ach, und tausend Dinge. Aber, Walter, das dachte ich alles weit entfernt.«

»Hast du nicht auch gedacht, daß du jetzt in einem glänzender Hause bist, eine gefeierte Schönheit, von Bewerbern umschwirrt, die von ihrer Anbetung sprechen? Hast du nicht an dein Herz gefühlt, ob, wenn der eine oder der andre ernst spräche –«

»Nein«, fiel sie rasch ein. »Sie sind mir alle gleichgültig.«

»Aber die Geheimrätin! Du bist ihr Augapfel. Sie wünscht, daß du eine gute Partie machst, sie sucht vielleicht schon einen passenden Gatten, der dich über deinen Stand erhebt. Vielleicht auch, sie ist kinderlos, reich, das große Vermögen kommt von ihr –«

Sie faßte mit Heftigkeit seine Hand. »Nein, Walter, das denke um Gottes willen nicht. Ich habe nie daran gedacht.«

»Und der Gedanke ist so natürlich. Du schauderst ja fast.«

»Ich begreife es oft nicht, warum ich nicht mehr Dank für sie fühle, aber – aber lassen wir das! Walter, verrate mich nicht, und deute es mir nicht schlimm, es ist mir oft, als möchte ich je eher, je lieber aus diesem Hause fort. Es ist mir so heiß, so bang oft –«

»Aber weißt du, in welches ich dich führen könnte? Ein armer Gelehrter – würdest du aus deinem Reichtum mir in eine Hütte folgen?«

Sie sah ihn mit ihrem klaren Lächeln an: »Ja, Walter. Ich bin ja nicht für den Reichtum geboren. Wer weiß, wenn sie meiner überdrüssig wird, setzt sie mich hinaus. Da müßte ich mir vorsorglich ein Obdach suchen. – Oh pfui! keinen Scherz. – Aber ich habe mir es auch gedacht, daß du zu stolz sein könntest, weil du arm bist. Oh, ich liebe dich so stolz, wenn du den reichen und vornehmen Herren kein Wort, keinen Blick schuldig bleibst. Wie viele bücken sich und kriechen, du gehst grade. – Nein, Walter, auch darum nicht, nicht weil ich dir zu Hilfe kommen wollte. – Ach, hilf mir doch – das Schwerste ist heraus, und das Allerschwerste steckt noch in der Brust.«

Sie barg ihr Gesicht an seinem Halse. Er strich über ihre Stirn; er bat sie zu denken, sie sei in der Kirche wie die fromme Katholikin, von der sie neulich gelesen, und er ihr Beichtvater.

»Neulich, nach unsrem Feste – du weißt von dem unglücklichen Zufall. Ich verlor meine Besinnung, jemand trug mich aus dem brennenden Zimmer. Häßliche, gleichgültige Menschen kamen und gingen; aber in der Nacht, als es still ward, halb wachte ich, halb träumte ich – die andern hatten mich wohl vergessen in dem Wirrwarr, und die Nachtlampe brannte dunkel, da schlich es herein. Er überraschte mich –«

»Gerechter Gott!«

»Nein, Walter, erschrick nicht.«

»Wer?«

»Ich kannte ihn und darf ihn doch nicht nennen. Er umfaßte meine Knie wie der Orest das Bild der Göttin, und seine schönen Augen rollten wie die eines Wahnsinnigen. Ich wollte aufschreien, mich losmachen, aber ich konnte nicht, wenn ich ihm ins Auge sah. Ihn peinigten ja auch wie den Sohn des Agamemnon – die Furien.«

»Was wollte der Freche?«

»Er bat mich, daß ich vergessen, vergeben sollte.«

»Was solltest du ihm vergeben?«

»Das ist aus der alten schrecklichen Geschichte –«

»Von der kein Wort! – Die Geheimrätin erwähnte neulich eines Unverschämten, der dich auf der Straße verfolgt –«

»Ach, Walter, jetzt verstehe ich erst, was wir in den Gedichten lasen. Ist das Liebe, so ist ja Liebe eine Krankheit, vor der Gott dich und mich bewahre. So muß Orest krank gewesen sein.«

»Er sprach seine Leidenschaft aus, er quälte, marterte dich? – Weiß jemand darum?«

»Keiner soll davon wissen, außer dir. Dich nehm ich aus.«

»Du versprachst ihm Verschwiegenheit?«

»Ihm nicht, mir gelobte ich sie aus – einem Mitleid, das ich noch nie empfunden. Walter, oh hättest du ihm in das Gesicht gesehen, das schöne, fürchterliche Gesicht. Bald ein wildes Tier, das mich zerreißen konnte, bald wie ein Kind so sanft. – Ich bedurfte keines Beistandes, keiner Hilfe, glaube es mir, gewiß nicht. Ich wäre ihm wie eine Heilige, eine Göttin, eine Priesterin, deren Wünsche ihm Befehl sind –«

»Das ist die Sprache der Wüsten! Du kennst diese Menschen noch nicht. Wo ihre gewöhnlichen Künste nichts fruchten, sie einen Widerstand finden, den sie damit nicht bewältigen, stehlen sie aus der Seele ihres Opfers die edelsten Gefühle, um sie zu überlisten. Mit Tränen, empfindsamen Reden nesteln sie sich wie der Mehltau an die Fasern und Fäden einer edlen Seele. Sie reißen die Brust auf, um Schmerzen zu zeigen, die sie erheuchelt, und indem sie das Mitleid aufrufen, spritzen sie Gift in die arglose Seele der Teilnehmenden.«

Sie sah ihn ruhig an und schüttelte den Kopf: »Du kennst ihn nicht; den nicht. Nein, Walter, das war keine Täuschung. Er schüttete seine volle Seele, seinen brennenden Schmerz, seine Selbstanklagen aus. Und dahinter blieb nichts zurück, kein Fältchen. – Wie eines Wahnsinnigen Reden klang es, ja; aber wie die Wahnsinnigen im Altertum, sagtest du, die Wahrheit verkündeten. So spricht keiner, daß er unwürdig sei, so entsagt keiner dem, was ihm das Liebste ist – so spricht keiner von dem Stern, der ihm zu spät geleuchtet. So nicht vom Vaterlande, das untergeht. So klagt sich keiner an, daß er zu früh verzweifelt und darum selbst in dem Sumpfe versank, wo keine Rettung ist. Ich reichte ihm meine Hand, ich sagte, ich wollte ihn aufziehen, er rief: ›Berühre mich nicht, es ist zu spät!‹ Walter, das vergeß ich nie, das klang wie das Parzenlied. Da ist ein edler Mensch verlorengegangen.«

»Verloren!« rief Walter, in sich hinbrütend, »das ist ein schrecklich Wort.«

Sie ergriff seine Hand: »Und darum, Walter, darum habe ich gesprochen, wie ein Mädchen nicht sprechen soll. Und nun betrachte mich wie dein Eigentum; ich bin ganz ruhig und zufrieden. Schalte und walte damit, wie du willst, schilt mich, züchtige mich, daß ich den Schleier der Schicklichkeit zerriß, daß ich nicht abwartete, bis du gesprochen. Bin ich nicht auch wie die griechische Fürstentochter, fortgerissen aus dem Hause der Eltern, in die Welt gestoßen? Mein Gott hat es so gewollt, daß das Schrecklichste, Unerhörteste an einem armen Mädchen vorüberging. Da ward sie eine andere. Und du bist der Mann, an den sich das schwache Mädchen lehnt, du der einzige, den ich wert fand, mich ihm zu geben, wie ich bin. War's recht oder unrecht, nun ist's an dir, zu entscheiden. Du aber bist nun die Säule, an die der Efeu sich rankt, du der Freund, den mir die Götter erzogen. Du sprichst nun für mich. So an dich mich schmiegend, will ich stehen, wenn neue Stürme drohen, und der Unglückliche, der Verlorene, wenn er wiederkommt, deine Verlobte, Walter, wird, ruhig und heiter, nicht mehr erschrecken.«

Die Schwalben und die Bienen und die Sonne in der Linde schauten auf einen Glücklichen und eine still Zufriedene. Ein Moment, von dem Dichter jener Zeit gesagt hätten, daß Götter die Sterblichen darum beneiden könnten. Der Neid der Götter war immer gefährlich, aber auch jene Götter täuschten sich und wurden getäuscht. Sie schaukelten über den Spiegel auf der See und sahen nicht den Sturm, der schon ihre Tiefe aufwühlte. – Über die Dächer tönte es vom Gendarmenturm. Die Lehrstunde war wohl zu Ende. Sie hörten mit Schrecken die Schläge. Es waren aus der einen Stunde drei geworden.

Das süße Geheimnis, was es für andre noch bleiben sollte, durfte es nicht vor der Pflegemutter. Walter hatte es so gewollt. Adelheid erkannte seine Gründe an, aber sie seufzte, als sie aufstanden. Es war ein schwerer Gang.

An der Tür der Geheimrätin hörten sie ein Gespräch. Es war Wandels Stimme. Lisette, die hinzukam, sagte: Frau Geheimrätin wolle nicht gestört sein. – Adelheid atmete auf. Walter drückte ihre Hand:

»Also ein andermal, teures Fräulein.«

»Die sind auch einig«, sagte Lisette, nachdem sie die Flurtür hinter ihm zuschloß.


 << zurück weiter >>